Beginnen wir mit einem 2003 in Deutschland für die Bundesregierung erstellten Gutachten über Klimaveränderungen:
In dem Gutachten betonen die Wissenschaftler, dass gefährliche Klimaänderungen nur noch vermeidbar sind, wenn die derzeit international vereinbarten Klimaschutzziele deutlich höher als bisher gesetzt werden. Insbesondere muss der vom Menschen verursachte Ausstoß von Kohlendioxid bis 2050 global um etwa 45-60% gegenüber 1990 gesenkt werden. Dies bedeutet, dass die Industrieländer ihren Ausstoß von Treibhausgasen bis 2020 um mindestens 20% verringern müssen. Bis 2012 haben sie sich dazu verpflichtet, die Emissionen bezogen auf 1990 um 5% zu reduzieren.
Nur noch 1,4 °C weitere Erwärmung tolerierbar
Der zur Vermeidung gefährlicher Klimaänderungen verbleibende Spielraum hat sich in den vergangenen Jahren weiter verringert. Der WBGU weist darauf hin, dass nur noch eine globale Erwärmung um weitere 1,4 °C tolerierbar ist. Seit Beginn der Industrialisierung hat sich die globale Mitteltemperatur bereits um 0,6 °C erhöht. Ab einer Erwärmung um mehr als 2 °C (und einer Änderungsrate von mehr als 0,2 °C pro Jahrzehnt) werden gefährliche Klimaänderungen sehr wahrscheinlich. Ohne eine konsequente Klimaschutzpolitik wird diese Grenze im 21. Jahrhundert überschritten. Zu den Folgen gefährlicher Klimaänderungen zählt der WBGU beispielsweise zunehmende Gesundheitsgefährdungen durch Ausbreitung von Malaria, eine erhöhte Gefahr von Ernteausfällen in der Landwirtschaft, die Verknappung von Süßwasser durch Häufung von Dürren oder den Beginn einer Kaltphase im atlantisch-europäischen Raum durch den Ausfall des Golfstroms. Tell-A-Friend
Um sich ein genaueres Bild über diese Thematik zu machen, lesen sie dazu folgende wissenschaftliche Studie:
Adressaten dieses Vorhabens und seiner Ergebnisse werden also die
Wissenschaft, (forschungs)politische Entscheidungsträger, die
verschiedenen gesellschaftlichen Interessengruppen und nicht zuletzt die
HGF selbst sein.
Die zentralen konstitutiven Elemente der
wissenschaftlich-konzeptionellen Ausrichtung des Vorhabens, mit denen es
sich mehr oder weniger deutlich von den bislang vorhandenen Ansätzen
unterscheidet, werden die folgenden sein:
? Ausgangsprämisse ist, daß die ökologische, ökonomische, soziale und
institutionell-politische Dimension nachhaltiger Entwicklung prinzipiell
gleichrangig und integriert zu behandeln sind. Ziel eines solchen
Nachhaltigkeitskonzepts ist es, die Erhaltung bzw. Verbesserung
ökonomischer und sozialer Lebensbedingungen mit der langfristigen
Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen in Einklang zu bringen und
nach hierfür geeigneten institutionell-politischen Vorausssetzungen zu
suchen. ? Im Hinblick auf die zur Erreichung von Nachhaltigkeitsz ielen
erforderlichen Handlungsstrategien wird davon ausgegangen, daß es einer
angemessenen Kombination aus den drei ? bislang vorwiegend auf die
ökologische Dimension bezogenen ? Ansätzen bedarf (vgl. Huber 1995):
Effizienz (d.h. die Reduzierung des Stoff- und Energieverbrauchs je
Einheit hergestellter Güter oder Dienstleistungen), Suffizienz
(Reduzierung der hergestellten Menge
1. Hintergrund und Zielsetzung des Berichts 5
und Nutzung von Gütern/Dienstleistungen) und Konsistenz (Erhöhung der
Vereinbarkeit anthropogener mit natürlichen Stoffströmen). Gleichwohl
sollen in diesem Vorhaben insbesondere die Effizienz- und
Konsistenzverbesserungspotentiale von technologischen wie auch
gesellschaftlichen Innovationen unter Berücksichtigung von Steuerungs-
und Realisierungsaspekten abgeschätzt und untersucht werden. ? Zur
Veranschaulichung der Umsetzungsaspekte des integrativen
Nachhaltigkeitskonzepts ist in ergänzender Weise auch ein regionaler
bzw. ökosystemarer Zugang vorgesehen. Am Beispiel des norddeutschen
Küstengebiets und einer intensiv landwirtschaftlich genutz ten Region
sollen spezifische Problemfelder, Nachhaltigkeitsziele und -indikatoren,
Nutzungskonzepte sowie Konflikte und Handlungsstrategien analysiert und
Forschungsund Technologiebedarfe aufgezeigt werden.
Dieses Arbeitsprogramm impliziert einen erheblichen Grad analytischer
Komplexität ? gerade auch im Vergleich zu anderen schon vorliegenden
Studien ?, mit dem sich das Vorhaben zum Teil auf inhaltlich wie
methodisch noch wenig bearbeitetes Terrain begibt.
Um einen solchen Untersuchungsansatz überhaupt angemessen realisieren zu
können, sind umfangreiche Vorarbeiten erforderlich. Diese wurden in
einer seit Mai 1998 laufenden einjährigen, ebenfalls im HGF-Verbund und
in Zusammenarbeit mit externen Experten durchgeführten sowie durch das
BMBF mitfinanzierten Vorstudie mit dem Titel äUntersuchung zu einem
integrativen Konzept nachhaltiger Entwicklung. Bestandsaufnahme,
Problemanalyse, Weiterentwicklung? geleistet. Ein Teil der Ergebnisse
dieser Arbeiten wird in dem hier vorliegenden Bericht vorgestellt.
Vorrangiges Ziel dieser Vorstudie war eine Analyse und kritische
Bewertung des bisher erreichten Stands der Debatte zum Leitbild der
nachhaltigen Entwicklung und seiner Operationalisierung. Dies geschah
sowohl im Blick auf die einzelnen Nachhaltigkeitsdimensionen als auch
auf Ansätze zu deren Integration.
Im einzelnen umfaßte die Vorstudie drei Arbeitsschwerpunkte: Zum einen
wurde der Stand der nationalen und internationalen Debatte zur
Operationalisierung des Nachhaltigkeitsleitbilds aufgearbeitet.
Besonderes Augenmerk galt hier der Frage, wie die einzelnen
Nachhaltigkeitsdimensionen für sich und vor allem auch in ihren
Wechselbeziehungen beschrieben und analysiert werden, welchen
Problemfeldern Priorität eingeräumt wird und welche Indikatorensysteme
zur Messung und Bewertung von Zuständen am geeignetsten sind.
1 Hintergrund und Zielsetzung des Berichts
6
Zum anderen wurden wichtige, national und international vorliegende
Versuche, das Nachhaltigkeitsleitbild in konkrete Handlungskonzepte
umzusetzen, in synoptischer Weise betrachtet. Dies umfaßte
wissenschaftliche Studien, regierungsoffizielle Pläne und Programme zur
Umsetzung der Agenda 21 sowie Nachhaltigkeitsinitiativen auf der Ebene
von Regionen, Kommunen und Unternehmen.
Schließlich wurde ein methodisches Untersuchungsgerüst für das erwähnte
nachfolgende HGF-Verbundvorhaben erarbeitet. Dies beinhaltete einerseits
die Entwicklung eines hinreichend detaillierten Strukturierungsschemas,
mit dessen Hilfe die wirtschaftlichen Aktivitäten innerhalb der
Volkswirtschaft (d.h. Produktion, Distribution, Konsum), deren
Auswirkungen sowie die zwischen ihnen bestehenden Wechselwirkungen auch
für einzelne Verursachergruppen angemessen abgebildet und bearbeitet
werden können. Andererseits wurde angesichts der für das Verbundvorhaben
erforderlichen modell- und simulationsgestützten Analysen eine
Bestandsaufnahme zu Potentialen und Grenzen derzeit verfügbarer
umweltökonomischer sowie ökologischer Impaktmodelle im Hinblick auf
deren Verwendbarkeit bzw. auf für die Vorhabenszwecke notwendige Modifiz
ierungen vorgenommen.
Mit den Ergebnissen der ersten beiden Arbeitsschwerpunkte der Vorstudie
wurde die Basis für die Entwicklung eines eigenen integrativen
Nachhaltigkeitsansatzes erarbeitet. Dieser Ansatz wird mit der hier
vorliegenden Arbeit präsentiert und in der aktuellen Debatte zur
Diskussion gestellt. In seiner (vorläufig) endgültigen Form soll er dann
als konzeptionell-analytisches Fundament eine wesentliche Orientierung
für das eingangs beschriebene Verbundvorhaben darstellen.
Zur Verdeutlichung der Funktion und Schwerpunkte der Arbeiten im Rahmen
des skizz ierten Verbundvorhabens und der Vorstudie sowie deren
Beziehung zueinander wird im folgenden in Anlehnung an Becker et al.
(1997) zwischen drei Ebenen der Analyse unterschieden (siehe hierzu auch
Abb. 1).
Auf der ersten und obersten normativen Ebene wird mit dem hier
vorgestellten Ansatz versucht, die Grundzüge eines integrativen Konzepts
nachhaltiger Entwicklung zu erarbeiten. Dies erfolgt in
analytisch-deduktiver Weise, auf der Basis aktueller gesellschaftlicher
Thematisierungen und Diskurse. Vor dem Hintergrund dieser bisherigen
Nachhaltigkeitsdiskurse sowie schon vorhandener nationaler wie
internationaler Vereinbarungen zu den verschiedensten Themen wird der
Frage nachgegangen, welches die konstitutiven Elemente des Leitbilds
einer global nachhaltige Entwicklung sind und welche generellen Ziele
sich daraus ableiten lassen (siehe hierzu Kap. 3.2 und 3.3).
1. Hintergrund und Zielsetzung des Berichts 7
Vorstudie
Auswahl relevanter Problemfelder
Konkretisierung durch Indikatoren
Verbundvorhaben
Analysen von Strategien zur Erreichung der Ziele
? Potent ial abschätzung technologischer, sozioökonomischer und
institutioneller Innovationen
? Analyse von Implementationsbedingungen und -problemen
? Analyse möglicher Folgen der Realisierung von Innovationen
? Entwicklung und Analyse von Handlungsstrateg ien (Szenarien,
Optionen)
? Ident if ikation von FuE-Bedarf
Abb. 1: Struktur des HGF-Gesamtvorhabens
Aufarbeitung des Stands der wissenschaf tlichen Debatte zur
Operationalisierung des Nachhaltigkeitsleitbilds:
bezogen auf einzelne Dimensionen und deren Verknüpfung
Synopse konkreter Handlungskonzepte:
wissenschaftliche Studien,
nationale Pläne, Initiativen
auf regionaler, kommunaler
und Unternehmensebene
Erarbeitung
eines methodischen Gerüsts
zur Erfassung
gesellschaftlicher Aktivitäten
und ihrer Folgen
Erarbeitung eines theoretischen Konzepts:
konstitutive Elemente
generelle Ziele
Regeln / Mindestanforderungen
Gegens tandsber eich der hier vor liegenden Arbei t
Integratives Konzept nachhaltige Entwicklung
Bilanzierung der
Verursachungsbeiträge einzelner
Aktivitätsfelder
national
Qualitäts- und
Handlungsziele
für Aktivitäts felder
strategische Ebene
kontextuale Ebene
normative Ebene
1 Hintergrund und Zielsetzung des Berichts
8
Sodann werden in Form von allgemeinen Handlungsleitlinien bzw. äRegeln?
die Bedingungen präzisiert, die weltweit mindestens erfüllt sein müßten,
damit die Realisierung dieser Ziele nicht gefährdet wird. Diese
Nachhaltigkeitsregeln sollen sowohl als Leitorientierung für die weitere
Operationalisierung des Konzepts dienen als auch die Funktion von
Prüfkriterien haben, mit deren Hilfe Zustände in den verschiedenen
Ländern auf ihre (Nicht-)Nachhaltigkeit hin untersucht werden können (zu
Status und Funktion dieser Regeln vgl. Kap. 3.4).
Auf einer zweiten, der kontextualen Ebene wird der Fokus der
Untersuchung im Hinblick auf die Operationalisierung des Leitbilds von
der globalen Ebene auf die nationale Ebene Deutschlands verlagert. Hier
soll quasi die äÜbersetzung? der auf der ersten Ebene formulierten
allgemeinen Handlungsleitlinien in konkrete Handlungsverpflichtungen für
einzelne Bereiche und Akteure stattfinden. Dabei wird das skizzierte
deduktive, regelorientierte Vorgehen mit einem induktiven,
problemorientierten Zugang verknüpft (vgl. dazu die Ausführungen in Kap.
3.5). Die ausgewählten Problembereiche werden durch (Leit)Indikatoren
konkretisiert, anhand derer die Situation in Deutschland auf ihre
Nachhaltigkeit hin beschrieben und bewertet werden kann. Für diese
Indikatoren sollen dann Qualitäts- und Handlungsziele vorgeschlagen
werden.
Mit der Entwicklung solcher Ziele auf der nationalen Ebene und für die
einzelnen Aktivitätsfelder wird der Beginn und ein erster Schwerpunkt
des geplanten HGF-Verbundvorhabens markiert werden. Um die Breite der
gesellschaftlichen Debatte angemessen reflektieren zu können, besteht
die Möglichkeit, diese Ziele in Form von äLeitplankenö, innerhalb derer
sich die künftige Entwicklung vollziehen muß, oder auch durch eine
Bandbreite verschiedener Szenarien oder Optionen zu konkretisieren. Auch
hierbei wird einerseits auf den aktuellen Stand der wissenschaftlichen
Forschung und andererseits auf die Ergebnisse zurückliegender, laufender
oder im Vorhaben selbst durchgeführter diskursiver Prozesse
zurückgegriffen werden.
Auf der strategischen Ebene wird es schließlich um die Entwicklung und
Bewertung von Handlungstrategien und Instrumenten zur Erreichung der auf
der kontextualen Ebene formulierten Ziele gehen. Dies wird einen
weiteren Schwerpunkt der Arbeiten in dem geplanten Verbundvorhaben
darstellen. Dabei wird ein Fokus der Untersuchung bei der Frage liegen,
für welche Bereiche und auf welchem Wege Effizienz- bzw.
Konsistenzsteigerungen möglich sind, welche Suffizienzerfordernisse
demzufolge verbleiben, welche Potentiale und Folgewirkungen dabei dem
Einsatz bestimmter Technologien zuzurechnen sind und wie Innovationen zu
gestalten bzw. zu fördern wären, die zur Erreichung
1. Hintergrund und Zielsetzung des Berichts 9
der gesetzten Ziele beitragen können. Auch hier werden verschiedene
alternative Entwicklungspfade in Form von Handlungsoptionen oder
Szenarien aufgezeigt und analysiert werden.
Mit dieser Differenzierung der Analyseebenen werden insbesondere zwei
Ziele verfolgt. Zum einen soll sie zu einer größeren Transparenz und
Nachvollziehbarkeit des Untersuchungsansatzes beitragen. Zum anderen
soll mit der Einführung einer ersten, normativen und noch weitestgehend
kontextunabhängigen Analyseebene vermieden werden, daß die Suche nach
konstitutiven generellen Leitlinien einer nachhaltigen Entwicklung durch
Konflikte verschiedener nutzungs- oder verteilungsbezogener Art belastet
wird, die sich erfahrungsgemäß erst im Zuge der Zuweisung konkreterer
Handlungsverantwortlichkeiten oder Belastungen ergeben. Auch in der
Debatte wird zumindest vielfach die Notwendigkeit betont, daß neben
spezifischen, national formulierten Entwicklungszielen auch bestimmte
generelle Regeln festgelegt werden sollten, die für alle gelten und die
einem gewissen Grundkonsens über ein Konzept nachhaltiger Entwicklung
entspringen.
Im Zentrum der hier vorliegenden Arbeit steht die Beschreibung eines
integrativen Konzepts nachhaltiger Entwicklung, das innerhalb der HGF-
Projektgruppe auf Basis der Rezeption, Modifikation und
Weiterentwicklung vorhandener Arbeiten zur Operationalisierung des
Nachhaltigkeitskonzepts erarbeitet wurde. Es werden die konstitutiven
Elemente nachhaltiger Entwicklung herausgearbeitet und generelle
Nachhaltigkeitsziele und Nachhaltigkeitsregeln als prinzipielle
Handlungsleitlinien formuliert. Damit soll der Kern eines
konzeptionell-theoretischen Rahmens für die Operationalisierung des
Nachhaltigkeitsleitbilds im allgemeinen und für das geplante
HGF-Vorhaben im besonderen geschaffen werden.
Bislang existieren zu der Frage, wie ein solcher integrativer Ansatz zu
definieren und im einzelnen auszugestalten sei, noch relativ wenig
konkrete und ziemlich kontroverse Vorstellungen. Dementsprechend haben
sich die Autoren bemüht, den Kern des bisherigen
Nachhaltigkeitsdiskurses zu reflektieren, ohne natürlich den Anspruch
erheben zu können, die gesamte Nachhaltigkeitsliteratur in ihrer
mittlerweile erreichten Fülle vollständig erfaßt zu haben.
Die hier vorgestellten Ergebnisse sind also ausschließlich der ersten,
normativen Analyseebene zuzuordnen. Sämtliche Fragen, die die
spezifische Transformation des vorgestellten Konzepts auf Deutschland,
die Entwicklung konkreter Ziele oder daran orientierte
handlungsstrategische Analysen betreffen, sind daher nicht Gegenstand
dieser Arbeit. Sie werden auf den beiden an-
1 Hintergrund und Zielsetzung des Berichts
10
deren Ebenen behandelt werden und vorwiegend dem nachfolgenden
Verbundvorhaben vorbehalten sein.
Mit dieser Arbeit wird ein in sich geschlossenes, aber noch nicht
endgültig formuliertes Konzept präsentiert. Es wird ein Beitrag zur
laufenden Nachhaltigkeitsdebatte vorgelegt, der sich in seiner
Sichtweise und Interpretation des Leitbilds nachhaltiger Entwicklung von
den vorhandenen Arbeiten unterscheidet. Die Arbeit richtet sich damit
zunächst an den Nachhaltigkeitsdiskurs, und hier insbesondere an die
Wissenschaft als einen wesentlichen Akteur in diesem Prozeß.
Hervorzuheben ist schließlich, daß die hier vorgelegte Arbeit noch
keinen Abschlußbericht darstellt, sondern einen äwork in
progress?-Status besitzt, der den gegenwärtigen Stand der Erarbeitung in
der Projektgruppe wiedergibt. Die Autoren sind sich dessen bewußt, daß
manche Aussagen noch ausführlicherer Begründung und inhaltlicher
Vertiefung, möglicherweise auch der Korrektur bedürfen.
2 Die Nachhaltigkeitsdebatte als Ausgangspunkt für den HGF-Ansatz
Im Folgenden werden zunächst Ursprünge und Verlauf der Debatte um eine
nachhaltige Entwicklung skizzenhaft nachgezeichnet. Im zweiten Abschnitt
werden dann die zentralen im Nachhaltigkeitsdiskurs behandelten Themen
bzw. Kontroversen benannt. Daran anschließend wird im dritten Abschnitt
die Frage nach den grundsätzlichen Möglichkeiten der Realisierung einer
nachhaltigen Entwicklung in einer sich wandelnden, globalisierten und
komplexer werdenden Welt sowie nach den dafür erforderlichen Bedingungen
gestellt. Damit soll der Hintergrund beschreiben werden, vor dem sich
der ab Kap. 3 im Detail dargestellte HGF-Ansatz in die Debatte
einordnet.
2.1 Zur Historie der Nachhaltigkeitsdebatte
Die Ursprünge
In der Folge des Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden
Industrialisierungsprozesses und seiner Begleiterscheinungen
konzentrierte sich für die meisten Menschen bis in die Mitte des 20.
Jahrhunderts hinein die Frage nach Kriterien und Wegen
gesellschaftlicher Entwicklung weitestgehend auf ökonomische und soziale
Aspekte. Pure Überlebensfragen sowie die Regelung von Arbeitsbedingungen
standen für sie gegenüber dem, was man heute ökologische Aspekte nennt,
deutlich im Vordergrund.
In den Anfängen wirtschaftswissenschaftlicher Analysen wurde der Faktor
Natur (im Sinne von Ressourcen oder Boden) noch vielfach ins Zentrum
oder doch zumindest ins Blickfeld der Betrachtungen gestellt. So
bezeichnete die vom Franzosen Quesnay Mitte des 18. Jahrhunderts nicht
zuletzt als Kritik an der damals noch herrschenden Lehre des
Merkantilismus begründete Physiokratische Schule die Natur als äQuelle
allen Reichtums?. Auch rund 50 Jahre später lag den Arbeiten einiger
Ökonomen der Klassik, vor allem der Engländer Ricardo und Malthus, oder
auch noch Mitte des 19. Jahrhunderts des Neoklassikers Mill im Prinzip
die Vorstellung von begrenzten Tragekapazitäten der Natur zugrunde.
So hatte Malthus vor dem Hintergrund massiven Bevölkerungswachstums in
England ein Mißverhältnis zwischen der Ressourcenmenge in einem
Lebensraum und der Bevölkerungszahl diagnostiziert und Hungersnöte,
Epidemi-
2 Die Nachhaltigkeitsdebatte als Ausgangspunkt für den HGF-Ansatz
12
en und Kriege als Folge davon prognostiziert. Aus heutiger Sicht werden
diese Arbeiten häufig als erstmalige systematische Abhandlung über die
Wachstumsgrenzen in einer endlichen Welt bezeichnet und als eine frühe
Quelle der Nachhaltigkeitsdebatte interpretiert.
In dem Maße jedoch, wie fortschrittliche Methoden in Land- und
Ernährungswirtschaft die Nahrungsmittelversorgung verbesserten und die
Bevölkerung trotz steigender Konsummöglichkeiten nicht in dem
vorhergesagten Maß wuchs, teilweise auch konstant blieb, fand die
pessimistische These von Malthus immer weniger Resonanz und galt als
widerlegt. Auch davon geprägt, wurde in der weiteren Entwicklung und
Praxis des Mainstreams der neoklassischen Wirtschaftstheorie mehr als
hundertfünfzig Jahre lang der Faktor Natur weitgehend aus der
Beschreibung und Analyse des Produktionsprozesses ausgeblendet.
Eine zeitliche Verortung der Entstehung des Nachhaltigkeitsbegriffs ist
sicher punktgenau kaum möglich. Vielfach wird hier die Abhandlung
äSylvicultura Oeconomica? des sächsischen Oberberghauptmanns von
Carlowitz aus dem Jahr 1713 als Quelle seiner erstmaligen Erwähnung
genannt (vgl. u.a. Peters 1984; Schanz 1996). Für von Carlowitz beruhte
eine nachhaltige Forstwirtschaft auf dem Grundsatz, daß in einem
bestimmten Zeitraum nur so viel Holz geschlagen werden darf, wie durch
Baumneupflanzungen nachwachsen kann.
Dieses Prinzip wurde dann Ende des 18. Jahrhunderts in der deutschen
Forstwirtschaft per Gesetz festgeschrieben (vgl. etwa Haber 1994;
Busch-Lüty 1992). Daraus entwickelte sich in der bis heute dominierenden
waldbaulichen Praxis ein aus ökologischen (Erhaltung des ökosystemaren
Standorts) und ökonomischen (maximale Produktionskraft des Waldes in
Form des Nutzholzertrages zum Zwecke einzelwirtschaftlicher
Existenzsicherung) Kriterien kombinierter Maßstab für Nachhaltigkeit
(vgl. etwa Schanz 1996; Mantau 1996; Voss 1997).
Mit dem Konzept des ämaximum sustainable yield? fand der
Nachhaltigkeits- bzw. Sustainability-Begriff wesentlich später ? Anfang
des 20. Jahrhunderts ? auch Eingang in die Fischereiwirtschaft. Die
Zielsetzung war hier ähnlich. Es sollten Bedingungen geschaffen werden,
die maximale Erträge in Abhängigkeit von der Populationsstärke
ermöglichten.
Mehr als 200 Jahre lang war also das Nachhaltigkeitsprinzip, sofern es
überhaupt praktische Anwendung fand, weitgehend auf die Forst- und
Fischereiwirtschaft begrenzt. Auf die übrigen Bereiche des Wirtschaftens
hatte es letztlich kaum nennenswerten Einfluß. Hier kommt
bemerkenswerterweise das unternehmerisch-betriebswirtschaftliche Prinz
ip der äAbschreibung für Abnut-
2.1 Zur Historie der Nachhaltigkeitsdebatte 13
zung? dem Erhaltungsziel bzw. dem Ziel, von den Erträgen und nicht von
der Substanz zu leben, wohl noch am nächsten.
Die entwicklungspolitische Debatte der 70er und 80er Jahre
Die Ressourcenfrage wurde dann erst Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre
wieder zu einem bedeutsameren Thema, als, initiiert vor allem durch den
Bericht des Club of Rome von 1972 (äDie Grenzen des Wachstums?), in
Wissenschaft und Politik intensiver über die Zusammenhänge zwischen
gesellschaftlichen Produktions- und Lebensstilen, Wirtschaftswachstum
und der Verfügbarkeit bzw. Endlichkeit von Ressourcenbeständen
nachgedacht und diskutiert wurde.
Auch die Zunahme verschiedener Umweltbelastungsprobleme, etwa durch
Luftschadstoffemissionen, trug dazu bei, daß nun Umweltaspekten größeres
Gewicht in der Entwicklungsdebatte beigemessen wurde. Auf der
internationalen Ebene drückte sich dies zunächst am deutlichsten in der
Durchführung der UN-Konferenz zum Thema äHuman Environment? 1972 in
Stockholm und der Gründung des Umweltprogramms der Vereinten Nationen
(UNEP) im gleichen Jahr aus, auf der nationalen Ebene etwa in der
Einrichtung eigenständiger Umweltministerien in zahlreichen Staaten.
In der Folgezeit wurden verschiedene Konzeptvorschläge in die seit den
50er Jahren sehr kontrovers geführte internationale
entwicklungspolitische Diskussion gebracht, die allerdings letztlich
wenig Niederschlag in der Politik fanden. So wurde beispielsweise der
von UNEP kreierte äEcodevelopment?- Ansatz, der die Komponenten
Grundbedürfnisbefriedigung, Umweltschutz und Partizipation zu
vereinbaren versuchte, nicht zuletzt deswegen heftig kritisiert, weil
dort Macht- und Verteilungsfragen auf internationaler wie nationaler
Ebene zumindest implizit angesprochen wurden (vgl. Harborth 1991, S.
24ff.). Einen weiteren Akzent in der Debatte setzten auch die äErklärung
von Cocoyok?, das Abschlußdokument einer 1974 von UNEP und UNCTAD
veranstalteten Konferenz im mexikanischen Cocoyok, und der
Dag-Hammarskjöld-Report von 1975. Dort wurde erstmals neben dem
Fehlzustand der äUnterentwicklung? auch der der äÜberentwicklung?,
insbesondere bezogen auf die Lebensstile der Industriestaaten,
angeprangert (vgl. Harborth 1991, S. 27ff.).
Angesichts der Erkenntnis, daß sich die Umweltsituation trotz
unzweifelhaft gewachsenen Problembewußtseins und teilweise erheblicher,
vor allem in den Industriestaaten auf lokaler Ebene auch partiell
erfolgreicher umweltpolitischer Anstrengungen im globalen Maßstab noch
deutlich verschlechtert hatte, wurde
2 Die Nachhaltigkeitsdebatte als Ausgangspunkt für den HGF-Ansatz
14
in den 80er Jahren wiederum der ökologischen Dimension in der
entwicklungspolitischen Debatte stärkeres Gewicht gegeben.
Diesen Geist atmete auch die 1980 von der International Union for the
Conservation of Nature (IUCN) in Zusammenarbeit mit verschiedenen UN-
Organisationen wie UNEP oder UNESCO erarbeitete äWorld Conservation
Strategy?. In ihr fand der Begriff des äSustainable Development?
erstmals Verbreitung in einem etwas größeren, noch vorwiegend
wissenschaftlichen Kreis (vgl. etwa Tisdell 1985; Redclift 1987).
Zentrale These dieses Dokuments war, daß ökonomische Entwicklung ohne
die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Ökosysteme ? vor allem
Landwirtschafts-, Wald-, Küsten- und Frischwassersysteme ? auf lange
Sicht nicht realisierbar sei und ökonomische Gewinne aus der übermäßigen
Ausbeutung dieser Systeme nur auf Zeit möglich seien.
Die Kritik an diesem Vorschlag setzte vor allem bei ihrer zu starken
Ausrichtung auf die ökologischen Erfordernisse für äsustainable
development? und einer nur unzureichenden Thematisierung der den
umweltschädigenden menschlichen Aktivitäten zugrundeliegenden
politischen und sozioökonomischen Ursachen an (vgl. z .B. Barbier 1987;
Redclift 1987; L?l? 1991). Eine ähnliche Einschätzung trifft für die
1982 vom Washingtoner World Watch Institute vorgelegte Studie äSix Steps
to a Sustainable Society? (Brown/Schaw 1982) zu, in der neben den mit
Priorität versehenen Ressourcen- und Senkenaspekten nur die
Stabilisierung der Weltbevölkerung als strategische Komponente
vorgeschlagen wurde.
Der ebenfalls 1980 erschienene Bericht an den US-Präsidenten Carter
äGlobal 2000? versuchte ? ähnlich wie die äGrenzen des Wachstums?,
allerdings mit dem kürzeren Zeithorizont des Jahres 2000 ? die
Ressourcen- und Bevölkerungsproblematik zu verdeutlichen. Hierfür wurde
die Form eines prognostizierten Krisenszenarios unter der Annahme einer
weitgehenden Fortführung der damaligen Politik gewählt.
Gleichzeitig begann sich in den 80er Jahren eine veränderte Sicht auf
die ökologische Entwicklungsdimension zu etablieren. Im Hinblick auf die
Wahrnehmung und Behandlung von Umweltproblemen setzte eine allmähliche
und bis heute andauernde Schwerpunktverlagerung von der Ressourcen- hin
zur Senkenproblematik, also der Beeinträchtigung der Aufnahme- und
Verarbeitungskapazitäten der Ökosysteme, ein. Ausschlaggebend hierfür
war zum einen, daß infolge technischen Fortschritts zunehmend
ressourcensparsamere Produktionstechnologien eingesetzt werden konnten;
zum anderen wurden für manche Rohstoffe immer wieder neue Vorkommen
entdeckt. Die Tatsache, daß sich die Problematik anthropogener
Klimaveränderungen und deren Folgewirkungen für ökologische wie
sozioökonomische Systeme zu einem lang-
2.1 Zur Historie der Nachhaltigkeitsdebatte 15
anhaltend herausragenden Umweltthema entwickelte, ist ein Indiz für
diese sich wandelnde Sichtweise.
Darüber hinaus setzte sich zu jener Zeit in der internationalen Debatte
zunehmend die Erkenntnis bzw. Forderung durch, daß die von den
Industriestaaten praktizierten Produktions- und Lebensstile aus
verschiedenen Gründen nicht langfristig auf die übrige Welt ? d.h. rund
80% der Weltbevölkerung ? übertragbar seien. Daran anknüpfend wurde den
Industriestaaten aufgrund ihrer Verantwortung für viele Umwelt- und
sozioökonomische Probleme die Hauptlast bei deren Lösung zugewiesen. Der
sogenannte äBrandt-Report? (1980) und der darauffolgende äPalme-Report?
(1983) ? beide Ergebnisse der Arbeiten der äNord-Süd-Kommission? ?
zählen zu den ersten internationalen Dokumenten, die diese Thematik
ausführlicher behandelten.
Der Brundtland-Bericht
Vor diesem Hintergrund eines Jahrzehnts sich zunehmend politisierender
und kontrovers verlaufender internationaler Entwicklungsdebatten sowie
global gesehen teilweise dramatisch wachsender Probleme im ökologischen,
aber auch im sozialen und ökonomischen Bereich (Armut, Hungersnöte,
weltweite Rezession, internationale Schuldenkrise, Arbeitslosigkeit
usw.) nahm 1983 die von den Vereinten Nationen eingesetzte UN-Kommission
für Umwelt und Entwicklung (äBrundtland-Kommission?) ihre Arbeit auf.
Die überwiegend aus Politikern zusammengesetzte Kommission hatte sich
zum Ziel gesetzt, in strikter Konsensorientierung Handlungsempfehlungen
zu erarbeiten, die geeignet sind, den Prozeß einer dauerhaften
Entwicklung einzuleiten (vgl. Hauff 1987, S. XV).
Die meisten der bis dahin in die Debatte gebrachten Konzepte waren immer
wieder der Kritik eines in unterschiedlicher Weise eingeschränkten
Betrachtungshorizonts ausgesetz t. Auch vor diesem Hintergrund stellte
die Kommission, ausgehend von einer globalen Problemanalyse, in ihrem
1987 veröffentlichten Bericht drei Grundprinzipien in den Mittelpunkt
ihrer Überlegungen zur Umsetzung nachhaltiger Entwicklung: die globale
Perspektive (bezogen sowohl auf die Problemanalyse wie auch auf
Strategien zu deren Lösung), die untrennbare Verknüpfung zwischen
Umwelt- und Entwicklungsaspekten sowie die Realisierung von
Gerechtigkeit zugleich in der intergenerativen Perspektive (verstanden
als Verantwortung für künftige Generationen) und in der intragenerativen
Perspektive (im Sinne von Verantwortung für die heute Lebenden,
insbesondere für die armen Staaten).
2 Die Nachhaltigkeitsdebatte als Ausgangspunkt für den HGF-Ansatz
16
Die globale und integrative Perspektive wird schon in der relativ
ausführlichen Problemanalyse eingenommen. Der Bericht benennt drei
zentrale globale Probleme: den Raubbau an den natürlichen
Lebensgrundlagen, die wachsende Ungleichheit und Armut sowie die
Bedrohung von Frieden und Sicherheit. Dementsprechend beinhaltet die
Realisierung nachhaltiger Entwicklung aus Sicht der Kommission die drei
Imperative Bewahrung der Umwelt, Herstellung von sozialer Gerechtigkeit
und Gewährleistung von politischer Partizipation.
Mit den drei genannten Prinzipien integrierte die Kommission eine
ethischmoralische Dimension in das Nachhaltigkeitskonzept, die bis dato
kaum eine Rolle gespielt hatte. Es war allerdings vor allem in der
Allgemeinheit der Formulierung dieser Prinzipien begründet, daß sie in
der Debatte relativ breite Zustimmung fanden. Auch mit ihrer vielfach
zitierten Definition, derzufolge Entwicklung dann nachhaltig ist, wenn
sie ädie Bedürfnisse der heutigen Generation befriedigt, ohne zu
riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht
befriedigen können? (Hauff 1987, S. 46), verblieb die Kommission auf
einem ziemlich geringen und (deswegen) weitestgehend zustimmungsfähigen
Konkretionsniveau.
Damit ergab sich die Möglichkeit und vor allem die Notwendigkeit für
Interpretationen und konkretere Operationalisierungen dieser Definition
und der drei Prinzipien durch die verschiedenen, am
Nachhaltigkeitsdiskurs beteiligten Akteure. In der bis heute andauernden
Debatte ist, wie schon erwähnt, ein breites Spektrum unterschiedlicher
Verständnisse und Positionen zu konstatieren, die auf jeweils sehr
unterschiedlichen Interpretationen des Brundtland- Berichts beruhen.
Was die Funktion und Bewertung des Brundtland-Berichts anbelangt, so
kommt ihm nach weit verbreiteter Auffassung vor allem das Verdienst zu,
den Begriff des äSustainable Development? erstmals einer breiten, auch
nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit als globales Entwicklungsleitbild
nähergebracht zu haben. In dem Bericht wurden einige Elemente und
Positionen der entwicklungspolitischen Debatte der vorangegangenen Jahre
wieder aufgegriffen und mit neuen Aspekten verknüpft.
Im Sinne des schon angesprochenen Konsensdenkens wurde versucht,
zwischen polarisierten Positionen zu vermitteln: zwischen ökologischen,
ökonomischen und sozialen Entwicklungsaspekten, zwischen den beiden
zentralen entwicklungstheoretischen Paradigmen der vergangenen
Jahrzehnte, der Modernisierungs- und der Dependenztheorie, oder auch
zwischen subsistenzwirtschaftlicher Binnenorientierung und
Weltmarktintegration (vgl. Mßrmora 1990). Damit, mit seiner
Problemanalyse und den genannten Grundprinzipien hat der
2.1 Zur Historie der Nachhaltigkeitsdebatte 17
Bericht weltweit eine breite und intensive Diskussion über geeignete
Wege zur Umsetzung nachhaltiger Entwicklung initiiert.
Allerdings waren und sind einige der Handlungsempfehlungen, die der
Bericht selbst zu dieser Umsetzungsfrage vorlegte, sehr umstritten. Dies
gilt insbesondere für die Forderung einer globalen Wachstumsstrategie
mit jährlichen Zuwachsraten von 5-6% in den Entwicklungsländern und 3-4%
in den Industriestaaten für einen Zeitraum von 30 Jahren. Dem lag die
Überlegung zugrunde, daß eine Wachstumsinduzierung in den
Entwicklungsländern maßgeblich von einer Steigerung der Importnachfrage
in den Industrieländern und damit auch deren Wachstum abhänge. Die
bekannte, vor allem mit ökologischen Argumenten begründete
wachstumskritische Position wurde sehr bald als einer der Haupteinwände
gegen die Handlungsvorschläge des Berichts vorgebracht.
Eine Befreiung aus diesem selbst geschaffenen Dilemma zwischen
Wachstumsfokussierung und zumindest ökologischer Nachhaltigkeit konnte
der Kommission nur mit Hilfe sehr optimistischer Annahmen in bezug auf
Bevölkerungsentwicklung, Ressourcenvorräte und vor allem hinreichenden
effizienzsteigernden technischen Fortschritt gelingen (vgl. Harborth
1991). Damit blieb dem Bericht der grundsätzliche Vorwurf nicht erspart,
er bewege sich in weiten Teilen nach wie vor in der bekannten und
begrenzten Gedankenwelt konventionellen ökonomisch-technokratischen
Entwicklungs- und Umweltschutzmanagements.
Die UNCED-Konferenz und der Rio-Folgeprozeß
Unbestritten hingegen ist, daß der Bericht und die durch ihn ausgelöste
bzw. zumindest deutlich intensivierte Debatte um die Operationalisierung
des Nachhaltigkeitsleitbilds eine wesentliche Basis für die eingangs
schon erwähnte UNCED-Konferenz in Rio 1992 bzw. für verschiedene in
deren Vorfeld abgehaltene Konferenzen und verfaßte Berichte (vgl. z.B.
Atmatzidis et al. 1995) bildete. Die Befunde wachsender, teilweise
irreversibler Probleme in vielen Bereichen sowie zunehmender globaler
Verflechtungen und Komplexitäten gesellschaftlicher Entwicklung waren
Ausgangspunkt und Grundlage für die im Rahmen dieser ? als äErdgipfel?
apostrophierten ? größten multilateralen Konferenz in der
Menschheitsgeschichte getroffenen internationalen Vereinbarungen.
Ziel und Kern dieser Vereinbarungen war der Versuch einer
Konkretisierung und Umsetzungsinitiierung des Leitbilds einer
nachhaltigen Entwicklung, das sich im Zuge der Konferenz und ihrer
Vorbereitung auf den höchsten poli-
2 Die Nachhaltigkeitsdebatte als Ausgangspunkt für den HGF-Ansatz
18
tischen Ebenen etabliert hatte. Es wurden für die Konferenz verschiedene
Dokumente, bezogen auf die wichtigsten Aktionsfelder im Themenbereich
Umwelt und Entwicklung sowie diesbezügliche Grundprinzipien und
Strategien, formuliert. Im einzelnen waren dies neben der Wald-, der
Klimarahmen- und der Biodiversitätskonvention die Rio-Deklaration und
die Agenda 21 als die beiden zentralen Dokumente der Konferenz. Die
Dokumente hatten zwar nicht den Status völkerrechtlicher
Verbindlichkeit, zumindest die beiden letzteren besitzen jedoch aufgrund
ihrer Unterzeichnung durch 173 Staaten eine relativ starke politisch
verpflichtende Ausstrahlung.
In der Rio-Deklaration wurden einige entwicklungs- und umweltpolitische
Grundprinz ipien festgehalten. Diese beziehen sich insbesondere auf die
Armutsbekämpfung, die Bevölkerungspolitik, das Recht auf Entwicklung für
die bisherigen Entwicklungsländer und die Anerkennung der
Industriestaaten als Hauptverursacher der Umweltprobleme. Das Mandat für
die Deklaration wurde aus der Erklärung der erwähnten UN-Konferenz 1972
in Stockholm abgeleitet (vgl. Czakainski 1992).
Die Agenda 21 stellt ein an die Deklaration anknüpfendes, 40 Kapitel
umfassendes Aktionsprogramm für Ziele, Maßnahmen und Instrumente zur
Umsetzung des Leitbilds dar, in dem unterschiedliche Schwerpunkte für
Industrieund Entwicklungsländer gesetzt werden. Die breite Themenpalette
dieser politischen Erklärung umfaßt sozioökonomische Fragen (Armut,
Gesundheit, Demographie oder Konsumverhalten), ökologische Aspekte
(Klima, Wald, Wü- sten, Meere, Artenvielfalt usw.), die Perspektive von
Zielgruppen und Akteuren (Frauen, Kinder, NGOs, lokale Initiativen,
Industrie usw.) sowie die konkrete Umsetzungsebene (internationale
Kooperation, Bildung und Wissenschaft, Technologietransfer,
Institutionen usw.).
Eine herausragende Konsequenz der Rio-Konferenz in institutioneller
Hinsicht war die Einrichtung der Commission on Sustainable Development
(CSD) auf UN-Ebene, die den Prozeß der Einleitung bzw. Umsetzung einer
nachhaltigen Enwicklung in den einzelnen Staaten beobachten, fördern und
evaluieren soll.
Stärker noch als beim Bericht der Brundtland-Kommission kam es im
Interesse möglichst allgemein zustimmungsfähiger Dokumente darauf an,
die teilweise stark differierenden Interessenlagen der einzelnen Länder
bzw. Ländergruppen aufeinander abzustimmen. In dem sich anschließenden,
noch andauernden Rio-Folgeprozeß geht es nun darum, die verschiedenen
Kompromiß- formeln auf ihre Praktikabilität zu prüfen und zu
konkretisieren sowie Umsetzungswege aufzuzeigen. Wissenschaft, Politik
und gesellschaftlichen Gruppen kommt die Aufgabe zu, das
Nachhaltigkeitsleitbild grundsätzlich zu fassen und
2.1 Zur Historie der Nachhaltigkeitsdebatte 19
für geeignete Untersuchungsräume (lokal, regional, national) bzw. für
einzelne Themenbereiche (Verkehr, Energie usw.) zu konkretisieren.
Beiträge hierzu liegen mittlerweile auf den unterschiedlichen Ebenen
vor. Zu nennen sind hier zahlreiche Studien, Programme und Pläne,
weltweit vorgelegt von wissenschaftlichen Institutionen, Regierungen und
Nicht-Regierungs-Organisationen. Diese nähern sich dem
Nachhaltigkeitsleitbild mit unterschiedlichen thematischen
Schwerpunkten, in unterschiedlicher Detaillierung und differierenden
konzeptionellen Ansätzen. Desweiteren fanden nach Rio verschiedene
Weltkonferenzen der Vereinten Nationen etwa zu den Themen Bevölkerung,
Frauen, Soziales oder Stadtentwicklung statt, in deren Abschluß-
dokumenten zum Teil dezidierte Handlungsempfehlungen formuliert wurden.
Alle diese Operationalisierungsversuche berufen sich in erster Linie auf
den Brundtland-Bericht und die Rio-Dokumente. Angesichts der
angesprochenen kompromißhaften Formulierungen und Ambivalenzen ist es
nicht verwunderlich, daß diese Versuche dennoch zu unterschiedlichen
Ergebnissen geführt haben.1 Prinzipielle Einigkeit besteht letztlich nur
darüber, daß es in der Frage der Richtung und Ausprägung
gesellschaftlicher Entwicklung eines gemeinsamen Such-, Lern- und
Erfahrungsprozesses bedarf, an dem sich möglichst alle
gesellschaftlichen Gruppen (Wissenschaft, Politik,
Nichtregierungsorganisationen, Verbände, Unternehmen, Kirchen,
Gewerkschaften usw.) beteiligen und dessen Ergebnisse in irgendeiner
Form in Politik umzusetzen sind.
In Deutschland haben sich mit der Nachhaltigkeitsthematik von
wissenschaftlicher Seite vor allem das Wuppertal-Institut mit seiner
Studie äZukunftsfähiges Deutschland?, die beiden Enquete-Kommissionen
äSchutz des Menschen und der Umwelt? des 12. und 13. Deutschen
Bundestags, der Sachverständigenrat für Umweltfragen, das
Umweltbundesamt mit seiner Studie äNachhaltiges Deutschland? und der
Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen
befaßt. Verschiedenste wissenschaftliche Disziplinen liefern in
zunehmendem Umfang Beiträge zur Diskussion über die Definition und
Umsetzung des Leitbilds. Daneben existieren auf der kommunalen Ebene
schon eine ganze Reihe von Initiativen und Aktivitäten im Rahmen der
lokalen Agenda 21 ebenso wie auf Unternehmens- bzw. Verbändeebene, in
denen versucht wird, Wege zur Umsetzung des Leitbilds aufzuzeigen oder
schon zu beschreiten.
1 Auf die einzelnen Ansätze kann hier nicht näher eingegangen werden. In
der schon angesprochenen, als Teil des Abschlußberichts der jetzt
laufenden Vorstudie zum geplanten HGF-Verbundvorhaben vorgesehenen
Synopse wird eine detaillierte Betrachtung insbesondere der in der
deutschen Debatte wichtigsten konzeptione lle n Studien vorgenommen.
2 Die Nachhaltigkeitsdebatte als Ausgangspunkt für den HGF-Ansatz
20
2.2 Zentrale Kontroversen in der Nachhaltigkeitsdebatte
Gegenstand des Diskurses über das Nachhaltigkeitsleitbild und seine
Umsetzung ist im Prinzip die gesamte Palette konzeptioneller und
analytischer Fragen, die mit unterschiedlicher Kontroversität diskutiert
werden. Diese Kontroversen bilden einen wesentlichen Hintergrund und
Ausgangspunkt für die Entwicklung des HGF-Ansatzes.
Es geht dabei um die grundsätzlichen Prämissen eines Verständnisses von
nachhaltiger Entwicklung und seiner Realisierbarkeit, um die Frage, ob
bzw. welche Regeln bzw. Handlungsleitlinien für ihre Konkretisierung
formuliert werden können, um die Gewichtung der einzelnen
Nachhaltigkeitsdimensionen, um geeignete Indikatoren zur Messung und
Bewertung erreichter Zustände, um quantitative oder qualitative Ziele
für diese Indikatoren sowie um ad- äquate Maßnahmen zur Erreichung
dieser Ziele.
Erklärbar sind die bestehenden Kontroversen insoweit, als von Anfang an
deutlich wurde, daß es sich bei der Idee einer nachhaltigen Entwicklung
letztlich um ein in weiten Teilen normatives Leitbild handelt,
wesentlich bestimmt durch Interessen, Wertvorstellungen und ethische
Grundhaltungen der gesellschaftlichen Akteure zu Entwicklungsfragen. Die
normative Komponente wird insbesondere dann offenkundig, wenn es um
Fragen der nationalen oder globalen Verteilung von Nutzungs- bzw.
Belastungsrechten in bezug auf natürliche oder sozioökonomische
Ressourcen geht. Ähnlich wie bei den in zahlreichen Staaten schon
institutionalisierten gesellschaftlichen Leitbildern des Sozialstaats-
oder des Rechtsstaatsprinzips wird die Einleitung und Umsetzung einer
nachhaltigen Entwicklung im Sinne des äWettbewerbs der besten Ideen? mit
fortwährenden Definitions-, und Interpretationsauseinandersetzungen in
den Gesellschaften verbunden sein.
In der Frage der Operationalisierung des Leitbilds wurde ein erster
konkreterer Markstein Anfang der 90er Jahre von Pearce und Turner (1990)
und von Daly (1991) mit ihren äprinciples of sustainable development?
gesetzt. Diese auf Ressourcennutzung und die Belastung der ökologischen
Tragekapazitäten bezogenen Prinzipien fanden schnell breite Zustimmung
und werden bis heute in unwesentlich modifizierter Form in nahezu
sämtlichen Arbeiten als Kern der sogenannten äökologischen
Managementregeln? verwendet (vgl. dazu die detaillierten Ausführungen in
Kap. 4).
Wenn auch diese ökologischen Regeln in ihrer allgemeinen Formulierung
durchaus breite Zustimmung finden, so zeigt doch die bisherige Debatte,
daß die Frage, wie sie in der Praxis realisierbar sein können,
erheblichen Konkretisierungsbedarf mit sich bringt und im einzelnen
häufig sehr umstritten ist.
2.2 Zentrale Kontroversen in der Nachhaltigkeitsdebatte 21
Zwar wird die oben erwähnte Diagnose der Modifizierungsbedürftigkeit der
Produktions- und Lebensstile in den Industriestaaten weithin geteilt.
Wie diese Modifikation im einzelnen aussehen soll und wie die vom
Brundtland-Bericht und in den Rio-Dokumenten geforderte dauerhafte
Verknüpfung zwischen Umwelt- und Entwicklungsaspekten konkret realisiert
werden kann, wird allerdings, über bestimmte Minimalkonsense hinaus,
kontrovers diskutiert.
Vorschläge für den ökologischen Regeln vergleichbare Leitlinien in bezug
auf die anderen Dimensionen lagen lange Zeit nicht vor. Die
Enquete-Kommission äSchutz des Menschen und der Umwelt? hat in ihrem
Endbericht 1998 erstmals ? und bislang immer noch als einzige
Institution ? solche Regeln für die soziale und ökonomische Dimension in
die Diskussion gebracht (im Anhang sind die Regeln der
Enquete-Kommission im einzelnen aufgelistet).
Vor diesem Hintergrund lassen sich im Nachhaltigkeitsdiskurs einige
zentrale, im folgenden in ihren wesentlichen Positionen kurz skizzierte
Kontroversen ausmachen, in denen die Normativität des Leitbilds deutlich
zum Ausdruck kommt.
Die Entwicklung von Leitorientierungen
Im Hinblick auf die Zielsetzung einer gesellschaftlichen Einigung über
das Nachhaltigkeitsleitbild und damit verbundener Vorgaben besteht eine
erste sehr grundsätzliche Kontroverse in der Frage, auf welchem Wege
solche Vo r gaben oder generellen Leitlinien für den gesellschaftlichen
Entwicklungsprozeß ermittelt werden sollten.
Es lassen sich dabei zwei grundsätzliche Positionen unterscheiden: Die
eine hält es für möglich und notwendig, Kriterien und Ziele einer
nachhaltigen Entwicklung aus übergeordneten, konsensualen
Handlungsprinzipien analytischdeduktiv abzuleiten. Die zweite stellt die
Einschätzung in den Vordergrund, daß es heute keine moralisch
legitimierte Instanz mehr gibt, die einheitliche gesellschaftliche
Leitorientierungen vorgeben könne. Sie mißt daher der partizipativen
Komponente sowie der prinzipiellen Offenheit des gesellschaftlichen
Entdeckungs- und Entwicklungsprozesses entscheidende Bedeutung bei und
hält deswegen solche Kriterien und Ziele nur im Diskurs aller
gesellschaftlicher Akteursgruppen für ermittelbar.
2 Die Nachhaltigkeitsdebatte als Ausgangspunkt für den HGF-Ansatz
22
Umsetzung von Leitlinien
Unmittelbar anknüpfend an die Kontroverse über die Entstehung von
gesellschaftlichen Leitlinien bestehen auch deutlich unterschiedliche
Vorstellungen in der Frage der generellen Umsetzung bzw. Umsetzbarkeit
solcher Vorgaben. Auf der einen Seite steht hier die Position, die die
Festlegung konkreter Ziele und Leitlinien in den verschiedenen Bereichen
sowie darauf abgestimmte Handlungsstrategien für unverzichtbar hält,
u.a. mit dem Hinweis auf die damit erzielbare größere Planungssicherheit
für die verschiedenen betroffenen Akteure.
Demgegenüber sehen andere die Realisierungsmöglichkeiten eines
dergestalt vorgegebenen Konzepts bzw. die Steuerungsmöglichkeiten in
diese Richtung angesichts gegenwärtiger gesellschaftlicher
Entwicklungstendenzen (zunehmende Komplexität, Individualisierung,
Pluralisierung von Lebensstilen, Globalisierung und damit der Verlust
einer normativen Einheit der Gesellschaft) wesentlich skeptischer. Sie
stellen daher diesen Prozeß eher dem äFreien Spiel der Kräfte? ?
beispielsweise dem Markt ? anheim. Synonym für diese Position stehen
Stichworte wie Deregulierung, Liberalisierung oder Privatisierung.
Eine ausführlichere Darstellung und Wertung der zu dieser Frage
geführten Debatte sowie der Konsequenzen, die daraus für den HGF-Ansatz
gezogen wurden, folgt im anschließenden Kap. 2.3.
Gewichtung der Dimensionen
In der Frage, welche Bedeutung den verschiedenen
Nachhaltigkeitsdimensionen beigemessen wird, bestehen Kontroversen auf
zwei Ebenen: Eine erste wird zwischen denen ausgetragen, die einer der
Dimensionen grundsätzliche Priorität einräumen (und die anderen
Dimensionen eher auf der Ebene der Folgenanalyse betrachten), und
denjenigen, die von einer prinzipiellen Gleichberechtigung der
Dimensionen ausgehen. Als Beispiele für eine Priorisierung der
ökologischen Dimension lassen sich etwa die Wuppertal-Studie oder die
UBA- Studie nennen, dagegen machte die Enquete-Kommission die
Gleichberechtigung der Dimensionen zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit.
Auf einer zweiten Ebene bestehen unterschiedliche Vorstellungen in der
Frage, welche der Dimensionen Priorität zukommen soll. So räumen im
Rahmen der internationalen Debatte die Entwicklungsländer bislang der
soz ialen und ökonomischen Entwicklungsperspektive (einschließlich der
globalen Ver-
2.2 Zentrale Kontroversen in der Nachhaltigkeitsdebatte 23
teilungsfrage) eindeutigen Vorrang ein, was u.a. dazu führt, daß sie bei
der Lö- sung der bestehenden Probleme den Industriestaaten den ersten
Schritt und die Hauptlast zuschreiben. Demgegenüber stellen die
Industriestaaten die ökologischen Themen in den Vordergrund (nicht
zuletzt, weil sie es sich ökonomisch leisten können) und fordern
Lösungsinitiativen vor allem in den Entwicklungsländern, wo Erfolge als
häufig kostengünstiger erzielbar eingeschätzt werden.
Intra- und intergenerative Gerechtigkeitsperspektive
Kontroverse Debatten finden desweiteren im Hinblick auf eine der
zentralen konstitutiven Nachhaltigkeitselemente, der
Gerechtigkeitsthematik, statt. Die Vorstellungen dazu, welche Bedeutung
hier der intergenerativen Perspektive zukommt, die den Blick auf die
Chancenverteilung zur Bedürfnisbefriedigung zwischen den Generationen
richtet, und welche der intragenerativen, bei der es um die Verteilung
innerhalb einer Generation geht, sind sehr unterschiedlich. Die in
dieser Frage vertretenen Positionen werden in Kap. 3.2 näher
dargestellt.
Entwicklung und/oder Nachhaltigkeit?
Häufig wird das Verhältnis der beiden im Begriff der nachhaltigen
Entwicklung enthaltenen Begriffe (und die damit verbundenen Konzepte)
äNachhaltigkeit? und äEntwicklung? als Dichotomie beschrieben (vgl. dazu
u.a. Arts 1994; Jamieson 1998).
Mit dem Nachhaltigkeitsbegriff werden von Anfang an Aspekte der
Stabilität (von z.B. ökologischen Systemen) und der Erhaltung (von
Funktionen ? etwa von Systemen ?, von Potentialen oder von
Handlungsspielräumen) verknüpft. Demgegenüber verbergen sich hinter dem
Entwicklungs-Begriff ? zumindest in seiner nach dem Zweiten Weltkrieg
erlangten Bedeutung ? überwiegend die Elemente Veränderung, Dynamik und
Wachstum, bezogen auf die wesentlichen Kenngrößen des
Modernisierungsprozesses (insbesondere das Bruttosozialprodukt) sowie
auf deren Verteilung.
Obwohl gerade die Rio-Dokumente oder der Brundtland-Bericht die
dringliche Notwendigkeit der Verknüpfung dieser beiden Elemente explizit
und implizit hervorgehoben haben, wird dennoch in den in die Debatte
eingebrachten Positionen zur Frage der Umsetzung einer nachhaltigen
Entwicklung häufig einem der beiden Aspekte faktisch Priorität
eingeräumt.
2 Die Nachhaltigkeitsdebatte als Ausgangspunkt für den HGF-Ansatz
24
Die Rolle von Wirtschaftswachstum
Die in den 70er Jahren begonnene und zwischenzeitlich etwas in den
Hintergrund getretene Wachstumsdebatte zählt zu jenen, die im Kontext
der Nachhaltigkeitsdiskussion wieder intensiver geführt werden. Nach wie
vor stehen sich hier die vor allem mit der Prognose ökologischer Schäden
argumentierenden Wachstumskritiker und diejenigen gegenüber, die
wirtschaftliches Wachstum als unverzichtbare Voraussetzung für eine
effektive Umweltpolitik wie auch für die Lösung von
Verteilungskonflikten und damit als Grundlage für nachhaltige
Entwicklung ansehen. Unter dem Schlagwort des äqualitativen Wachstums?
wird seit einiger Zeit versucht, eine Versöhnung dieser gegensätzlichen
Positionen zu schaffen, allerdings bislang mit eher begrenztem Erfolg.
Gewichtung von Effizienz, Suffizienz und Konsistenz
Auf der handlungsstrategischen Ebene der Umsetzung einer nachhaltigen
Entwicklung besteht eine häufig geführte Kontroverse zwischen denen, die
? zumindest im Hinblick auf die ökologische Dimension ? stärker auf vor
allem durch technische Innovationen induzierte Effizienz- oder auch
Konsistenzsteigerungen setzen und denen, die eher die
Suffizienzkomponente, also tendenziell die Reduzierung mater iellen
Wohlstands, in den Vordergrund stellen.2
Im HGF-Ansatz werden die in den genannten Kontroversen behandelten
Fragen in unterschiedlicher Weise aufgegriffen. Teilweise ordnet er sich
einzelnen Positionen relativ eindeutig zu, etwa in der Frage der
Gewichtung der Dimensionen mit dem Versuch, ein die vier Dimensionen
integrierendes Nachhaltigkeitskonzept zu entwickeln. Teilweise wird eine
Verknüpfung bzw. Überbrückung polarisierter Positionen versucht.
Zwei Beispiele seien hierzu herausgegriffen. Zum einen wird in der Frage
der Entwicklung von Leitorientierungen versucht, den
analytisch-deduktiven mit dem diskursiven Zugang auf den verschiedenen
Analyseebenen zu verbinden: Auf der normativen Ebene werden
Nachhaltigkeitsziele aus bestimmten Prämissen abgeleitet und in
verschiedenen Regeln konkretisiert, die anschlie-
2 Diese Thematik wird in der hier vorliegenden Arbeit keinen we i teren
Raum e innehmen, da sie, wie oben beschrieben, auf der dritten
strategischen Analyseebene in der dort ebenfalls skizzierten Gewichtung
behandelt werden wird und damit ausschließlich dem nachfolgenden
Verbundvorhaben vorbehalten bleibt.
2.3 Zu den Bedingungen de r Möglichke it einer Realisierung nachha
ltiger Entwicklung 25
ßend auf der kontextualen und stategischen Ebene weiter konkretisiert
und in bezug auf ihre Erreichbarkeit analysiert werden.
Auf allen Ebenen wird dabei der diskursiven Komponente Rechnung
getragen. Für die Festlegung solcher Ziele, für die
technologie-bezogenen Potentialund Folgenanalysen wie auch für die
Analysen von Handlungsstrategien werden neben dem wissenschaftlichen
Erkenntnisstand die verschiedenen betreffenden aktuellen Diskurse
rezipiert bzw. eigenständige Panels, zusammengesetzt aus Vertretern
involvierter gesellschaftlicher Gruppen, durchgeführt werden. Ein
solches Vorgehen könnte als Verbindung einer äNormativität von oben? mit
einer äNormativität von unten? charakterisiert werden
Zum anderen basiert der HGF-Ansatz in der Frage des Verhältnisses
zwischen den beiden Komponenten Nachhaltigkeit und Entwicklung auf der
vorstellung, daß der konstitutive Kern und das große innovative und
kreative Potential des Leitbilds einer nachhaltigen Entwicklung ? nicht
zuletzt im Vergleich zur bisherigen Entwicklungsdebatte ? gerade in der
Verknüpfung dieser beiden Elemente bestehen muß. Eine zentrale
Herausforderung bei der Suche nach einem angemessenen
Nachhaltigkeitskonzept wird demzufolge darin bestehen, die Elemente
Nutzung (z.B. von Ressourcen), Erhaltung und Entwicklung dergestalt zu
verknüpfen, daß die an eine nachhaltige Entwicklung gestellten
Mindestanforderungen erfüllt werden können.
Hierzu versuchen die Autoren mit dem ab Kap. 3 beschriebenen Vorschlag
eines integrativen Ansatzes nachhaltiger Entwicklung einen Beitrag zu
leisten.
2.3 Zu den Bedingungen der Möglichkeit einer Realisierung nachhaltiger
Entwicklung
Die im vorigen Kapitel schon angesprochene Kontroverse um die
Realisierbarkeit des Leitbildes hat in den letzten Jahren zu einer
stärkeren wissenschaftlichen Hinwendung auf die Frage nach dem äWie?
einer nachhaltigen Entwicklung geführt. Ganz generell wird dabei der
Frage nachgegangen, inwieweit Gesellschaften überhaupt in der Lage sind,
eine solche umfassende und weitreichende Transformation zu bewältigen,
wie sie das Konzept der zukunftsfähigen Entwicklung impliziert. Eine
derartige Transformation ist nicht ohne weltweite Modifikationen in der
Lebensweise der Menschen, nicht ohne einen erheblichen Wandel in den
dominanten Produktions- und Konsumtionsmustern zu erreichen und
erfordert deshalb eine Selbststeuerungsfähigkeit moderner Gesell-
2 Die Nachhaltigkeitsdebatte als Ausgangspunkt für den HGF-Ansatz
26
schaften, die unter den vorzufindenden Bedingungen nicht ohne weiteres
vorausgesetzt werden kann.3
Selbststeuerung und Transformation in eine zukunftsfähige Entwicklung
erfordern umfangreiches Wissen über ökologische, soziale und ökonomische
Problemlagen, Klarheit über allgemeine Handlungsziele, Informationen
über vorhandene Handlungspotentiale, über unterstützende oder
restriktive Bedingungen, über Interventionsmöglichkeiten in andere
gesellschaftliche Teilsysteme usw. Die traditionelle, an den
Nationalstaat gebundene Idee, daß die Politik beziehungsweise die
staatlichen Institutionen die Rolle einer Steuerungsinstanz für das
Ganze der Gesellschaft ausüben könnten, ist in den letzten Jahren
schrittweise relativiert worden.4 Wie sollte in einer komplexen, auf
unterschiedlichen Kulturen und divergierenden institutionellen
Arrangements aufbauenden (Welt)Gesellschaft eine quasi-organisatorische
Steuerungsinstanz aussehen? Der evolutionäre Vorteil einer in autonome
Teilsysteme funktional differenzierten Gesellschaft wird ja gerade in
der Selektivität der Informationsverarbeitung und einer damit
einhergehenden höheren Resonanzfähigkeit der einzelnen Systeme gegenüber
Veränderungen in der Umwelt gesehen. Will man diesen Vorteil nicht
aufgeben, sondern für eine nachhaltige Entwicklung nutzen, wird
deutlich, daß die Frage der Selbststeuerung der Gesellschaft nicht mehr
ausschließlich als ein Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft
gesehen werden kann. Letztendlich müssen alle gesellschaftlichen
Funktionssysteme auf ihre Steuerungsfähigkeit hin befragt werden.5
Gerade in dem Bestreben, das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung in
die spezifischen Relevanzkriterien aller gesellschaftlichen Systeme
übersetzen zu können und auf diese Weise eine interne
Selbststeuerungswirkung zu erzeugen, liegt ja der Realismus der Vision.
Am deutlichsten wird dies am Beispiel der Wirtschaft. Langfristige
Planungen, das Ausrichten unternehmerischer Strategien an langfristigen
Trends ist eine Überlebensfrage von Unternehmen und der Prosperität des
gesamten wirtschaftlichen Systems. In diesem Sinne formuliert
beispielsweise der äWorld Business Council for Sustainable Development?
(WBCSD) die Hypothese, daß
3 Diesbezügliche kritische Kommentare begleiten den Diskurs seit seinen
Anfängen (Altvater 1997; Bals 1993; Sachs 1995). Bereits in der Agenda
21 wird in verschiedenen Kapiteln diese Frage aufgegriffen und führt zu
einer Reihe von Empfehlungen, die sich auf die Rahmenbedingungen
zukunftsfähiger Entwicklung beziehen (v.a. In den Abschnitten 3 und 4).
4 Nicht zuletzt hat die Debatte über die globalen Weltprobleme hierzu
beigetragen. 5 Dennoch kann kaum bestritten werden, daß der Politik
hierbei eine Sonderrolle zukommt. Hier werden kollektiv bindende
Entscheidungen getroffen, mit dem expliziten Anspruch, die übr igen
gesellschaftlichen Teilsysteme zu Reaktionen zu veranlassen.
2.3 Zu den Bedingungen de r Möglichke it einer Realisierung nachha
ltiger Entwicklung 27
nur diejenigen Unternehmen die nächsten 30 Jahre überleben werden, die
ihre langfristige Strategie an das Leitbild der zukunftsfähigen
Entwicklung anpassen werden (vgl. Schmidheiny 1992; Fussler 1997).
Sustainable Development wird zu einem entscheidenden Faktor der
Wettbewerbsfähigkeit.6
Der WBCSD beantwortet die Steuerungsfrage primär mit dem Hinweis auf die
Marktkräfte, geht aber davon aus, daß ein rechtzeitiges Einstellen von
unternehmerischen Strategien auf das Leitbild Sustainable Development
Änderungen in der Umwelt des Wirtschaftssystems antizipiert. Hier wird
die besondere Rolle des politischen Systems deutlich. Neben den zu
erwartenden Veränderungen in den Kundenwünschen sind es nämlich primär
die vom Staat ausgehenden Vorschriften, Gesetze etc., die die
Unternehmen zu Reaktionen veranlassen werden. Dennoch darf auch der
umgekehrte Einfluß nicht übersehen werden. Denn diejenigen Unternehmen,
die in ihren Langfriststrategien das Leitbild Sustainable Development
verarbeitet haben, werden nun ihrerseits die erwarteten Beschlüsse und
Regelungen auf Seiten der Politik einfordern, um ihre
Wettbewerbsposition zu unterstützen. Andere dagegen werden blockieren.
Hier zeigt sich die wechselseitige Beeinflussung gesellschaftlicher
Teilsysteme. Nicht nur die Wirtschaft ist Steuerungsversuchen seitens
der Politik ausgesetzt, sondern ebenso versucht die Wirtschaft, steuernd
auf die Politik einzuwirken.
Mit dieser Beziehung im Blick hat schon vor mehr als zwanzig Jahren
Mancur Olsen die Steuerungsfähigkeit des Staates gegenüber der
Gesellschaft hinterfragt. Seine Analyse der ästrong societies and weak
states? zeigt das Problem moderner Staaten, das äöffentliche Interesse?
zu formulieren und programmatisch umzusetzen. Olson stellt einen
Zusammenhang zwischen einer stabilen politischen Ordnung und der
Entstehung partikular orientierter Interessenverbände her, die im Laufe
der Zeit dazu führen, Politik nur noch als ädistributional coalition? zu
betreiben.7
6 Bere its in wenigen Jahren wird sich zeigen, welche Unternehmen ihre
Strategien rechtzeitig auf den langfr istigen Trend eingestellt haben
und we lche nicht. Diejenigen Unternehmen, die zu erwartende Änderungen
vorwegnehmen, werden sich gegenüber denjenigen, die nur auf
Veränderungen reagieren, durchsetzen (vgl. Fussler 1997, S. 17f.). Es
ist somit eine Frage der Resonanzfähigkeit gegenüber den globalen
Problemen, d ie über wirtscha ftl ichen Erfolg entscheidet. Es ist hier
nicht entscheidend, ob die Hypothesen des WBCSD letztendlich zutreffen
werden oder nicht. Hier soll lediglich gezeigt werden, daß innerhalb
eines gesellscha ftl ichen Teilsystems die Frage der Nachha ltigkeit
nach eigenen Relevanzkriterien behandelt und somit eine
systemspezifische Selbststeuerung eingeleitet wird. 7 Olson geht soweit,
das Bild des ähomo oeconomicus?, der seine Entscheidungen von
individueller Nutzenmaximierung abhängig macht, in Frage zu stellen.
2 Die Nachhaltigkeitsdebatte als Ausgangspunkt für den HGF-Ansatz
28
Die soziologische Systemtheorie formuliert dieses Phänomen als
Interpenetration oder als strukturelle Kopplung zwischen
unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen. Die Autonomie der
Systeme wird dadurch keineswegs eingeschränkt. Im Gegenteil: so wie die
Wirtschaft auf Impulse seitens der Politik nur dann reagiert, wenn sie
in systemimmanente Codes übersetzt werden (v.a. in Kategorien von
Preisen und Kapitalverwertung), so reagiert die Politik auf Impulse
durch die Wirtschaft nur über politik-immanente Codes. Dieser
Mechanismus, insbesondere die ihm zugrundeliegende Autonomie der
Teilsysteme, impliziert allerdings ein gravierendes Folgeproblem, das
unter dem Begriff der äeingeschränkten Rationalität? schon seit längerem
Gegenstand der Debatte ist (vgl. Mayntz/Scharpf 1995). Alles was
geschieht, wird aus dem Blickwinkel der eigenen Systemrationalität
beurteilt. Oft werden die Folgen des eigenen Handelns auf die Umwelt
nicht oder nur unzureichend berücksichtigt (Externalisierung von
Folgekosten). Die W irkungen werden nicht mehr vom eigenen System als
Problem erkannt und entsprechend an andere Systeme zur Behandlung
weitergereicht.
Einwände werden aus der Sicht einer kritischen, die Steuerungsfähigkeit
komplexer sozialer Systeme hinterfragenden Diskussion erhoben, die in
den letzten Jahren sowohl in staatstheoretischen als auch in
managementtheoretischen Diskursen geführt wurde (vgl. Luhmann 1998;
March/Olsen 1989; Mayntz/Scharpf 1995; Olson 1978; Willke 1983). Die
Debatte läßt sich bis in die 70er Jahre zurückverfolgen, wo angesichts
der praktischen Dominanz interventionistischer Politikansätze vor einer
Überforderung des Staates gewarnt, seine Unregierbarkeit prognostiziert
und als Therapie ein Minimalstaat gefordert wurde (vgl. Forsthoff 1971;
Nozick 1974).
Ohne diese Diskussion hier vertiefen zu wollen, wirft sie für unseren
Zusammenhang die Frage auf, inwieweit die in einer gewachsenen
institutionellen Struktur operierende Politik überhaupt in der Lage ist,
ein komplexes polyzentrisches System unter den vorhandenen
Rahmenbedingungen auf Zukunftsfä- higkeit hin zu steuern bzw. wie
Steuerung aussehen muß, damit sie das leisten kann.
2.3 Zu den Bedingungen de r Möglichke it einer Realisierung nachha
ltiger Entwicklung 29
Nachhaltigkeit als normatives Leitbild kann ? wie andere Leitbilder oder
regulative Ideen8 ? entscheidende Impulse für die Entwicklung der
Gesellschaft liefern und damit Realität verändern. Es kann dabei aber
nicht übersehen werden, daß es selbst ein Entwicklungsprodukt der
Gesellschaft ist und damit nur aus der Gesellschaft heraus begründbar
ist, nicht durch Verweis auf (der Gesellschaft) übergeordnete
Prinzipien. Nachhaltigkeit muß sich in einem sozialen Reflexions- und
Diskussionsprozeß durchsetzen, sie kann nicht verordnet und dann
sozialtechnologischen Strategien ausgesetzt werden. Jegliche Reduktion
der äWie-Frage? einer nachhaltigen Entwicklung auf das Steuerungsproblem
greift somit zu kurz. Die Frage nach der Begründbarkeit von
verbindlichen Gerechtigkeitsnormen (intra- und intergenerativer Art)
sowie nach den ethischen Grundlagen ihrer Durchsetzungsmöglichkeiten
unter historisch kontingenten Umständen werden selbst zum Gegenstand des
Nachhaltigkeitsdiskurses (s.a. Kap. 7).9 Dies impliziert auch, daß die
regulative Idee der nachhaltigen Entwicklung offen in Bezug auf den
Prozeß ihrer Konkretisierung ist. Das Angebot an möglichen
Referenzpositionen zur Konkretisierung der Dimensionen des integrativen
Konzepts der Nachhaltigkeit ist vielfältig. Dennoch sind sie nicht
beliebig, denn hinter diesen Referenzpositionen stehen unterschiedliche
Bedürfniszusammenhänge, an denen die Interessen und Lebensentwürfe der
verschiedenengesellschaftlichen Gruppen, Teilsysteme oder Individuen
anknüpfen. Sie enthalten Konfliktpotentiale, die beachtet und gestaltet
werden müssen.
Die enorme Komplexität des Themas, nicht nur globale und zugleich
regionale bzw. lokale Aspekte zu berücksichtigen, sondern auch
ökologische und
8 Der Begriff der äregulativen Idee? geht auf Kant zurück. Das Attribut
regulativ ist bei Kant das Korrelativum zu konstitutiv. Ideen sind keine
Begriffe, die einen Erfahrungsgegenstand konstituieren, sondern bloß
praktisch-regulierende Prinzipien. Es gibt für sie keinen Gegenstand i
n der Erfahrung, sie entz iehen sich der E rkenntnis des Subjekts, man
kann an ihnen nicht au smachen, ob a n ihnen etwas Wahre s ist. äMan
wird bald inne: daß, wo der Verstand nicht folgen kann, die Vernunft
überschwenglich wird, und in zuvo r gegründeten Ideen (a ls regulativen
Prinzipien), aber nicht ob jektiv gültigen Begriffen sich hervortut.?
(Kant 1790, ß76) Ideen sind Bestandteile der transzendentalen Vernunft:
Gott, Unsterblichkeit der Seele, Einheit der Welt für einen vernünftigen
Zweck, Freiheit usw. Regulative Ideen steuern den vernünftigen Umgang
mit der Erfahrung von Gegenständen. Sie sind nicht objektbestimmend (in
diesem Sinne nicht konst itutiv), sondern subjektbedingt und werden zur
Regulierung des erkennenden oder sittlichen Verhaltens verwendet. äSie
regeln die konstitutive (objektbestimmende) Arbeit des Verstande s, ohne
sich selbst in die Bestimmung der Objekte einzumischen.? (Nauman-Beyer
1990, S. 94 ) Kant hat darauf aufmerksam gemacht, daß d ie Verwechslung
von Ideen und Begriffen zu erkenntnistheoretischen Problemen führt, die
rein praktische Anwendung von Ideen, als praktisch-regulierende Maximen
der Vernunft, dagegen sehr nützlich und zum Teil sogar unabdingbar ist .
9 Zur Debatte um die Begründung von Gerechtigkeit vgl. u.a. Etzioni
1996; Rawls 1971.
2 Die Nachhaltigkeitsdebatte als Ausgangspunkt für den HGF-Ansatz
30
zugleich ökonomische und soziale Faktoren, verweist darauf, daß es um
nicht weniger geht als um die Fähigkeit der Menschheit, das eigene
Verhalten als Akt des Willens und des Wollens an einem als vernünftig
anerkannten Ziel auszurichten, anstatt die Dinge so laufen zu lassen,
wie sie laufen. Die Geschehnisse sollen dem ausschließlich an der
Vernunft orientierten kreativen Geist des Menschen unterworfen werden,
anstatt umgekehrt, Mensch und Natur von einem nicht durchschauten und
nicht lenkbaren Prozeß vielfältiger Einflüsse subsumieren zu lassen.
Die europäische Aufklärungsphilosophie hat dies als Autonomie bzw. als
Freihe it bezeichnet. Autonomie wurde als Unabhängigkeit des als frei zu
denkenden Menschen von einem Bestimmtwerden durch ihm Fremdes
bezeichnet. Autonomie ist ein Begriff der Selbsterhaltung, die als
Selbstbestimmung ausgelegt wird. Als Eigenschaft des Willens und Wollens
(W illensfreiheit) bezieht sich Autonomie auf jene Tätigkeiten und
Prozesse, in denen ein Subjekt sich dazu bestimmt, in einem konkreten
Sinn und ausschließlich kraft seines Wollens zu handeln. Autonomie setzt
somit ein Subjekt voraus, daß mit der Fähigkeit ausgestattet ist,
erstens sein eigenes Handeln von den Ursachen und Wirkungen seiner
Handlungen zu unterscheiden, und zweitens sich und seinem Handeln Normen
zu setzen bzw. bestehende anzuerkennen oder abzulehnen. In diesem Sinne
bedeutet nachhaltige Entwicklung etwas zu gestalten, was vernünftig
ist.10
Die Zweifel an der Plausibilität dieser für das okzidentale Denken
charakteristischen Vorstellung, die vor allem in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts angemeldet wurden, sind bekannt. Ohne diese Debatte
hier auch nur ansatzweise rekapitulieren zu können,11 sei auf die
Vernunftkritik der Kritischen Theorie verwiesen (vgl. Adorno 1975;
Horkheimer/Adorno 1969) , in deren Verlauf der Verlust einer universell
anwendbaren Rationalität konstatiert werden muß. äUnerreichbar wird
Totalität, wird Einheit oder gar ein die Kontingenz der Geschichte
transzendierendes Telos? (Fuchs 1992, S. 17). Die Anerkennung von
Polykontexturalität, d.h. die Einbettung in unterschiedliche Welten, die
zu einer Vielfalt von Beobachtungsverhältnissen führt, erfordert auch
epistemologisch die Anerkennung einer radikalen Pluralität (vgl. Welsch
1987). äMan muß nur anders beobachten, um andere Realitäten zu erhalten?
(Fuchs 1992, S.
10 Kant: äDie Autonomie des Willens ist das alleinige P rinzip aller
moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten ... Also drückt das
moralische Gesetz nichts anderes aus, als die Autonomie der reinen
praktischen Vernunft, d.i. der Freiheit, und diese ist selbst die
formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit dem obersten
praktischen Gesetze zusammenstimmen können? (Kant 1788:I, ß8). 11 Zur
philosophi schen Auseinandersetzung um das neuzeitliche Subjekt vgl.
Cramer 1987.
2.3 Zu den Bedingungen de r Möglichke it einer Realisierung nachha
ltiger Entwicklung 31
8). Das Ergebnis ist eine äOrientierungsdestruktion? (Fuchs 1992, S.
16), die dem modernen Menschen ein äZuwenig an tragender W irklichkeit
und ein Zuviel an Möglichkeiten? (Waldenfels 1987, S. 23) oktroiert, ein
Zustand, den Habermas als äNeue Unübersichtlichkeit? beschrieben hat
(vgl. Habermas 1985).
Die Fallstricke für eine zukunftsfähige Entwicklung sind also immens.
Die im Wege liegenden Hindernisse können auf der Ebene
weltgesellschaftlicher Zusammenhänge liegen (z.B. globaler
Wirtschaftszusammenhänge), auf der Ebene des Eigenverhaltens sozialer
Systeme (v.a. ihrer systemspez ifischen Selektionskriterien, etwas für
relevant oder irrelevant zu halten) und auf der Ebene einzelner
Individuen (und ihres Verhaltens).
Ob es sich um Bürger handelt, die es als Ausdruck ihrer individuellen
Freiheit ansehen, mit 220 km/h über die Autobahn zu fahren oder die sich
über niedrige ? die Produzenten möglicherweise ruinierende ?
Kaffeepreise freuen, ob es einzelne Unternehmen sind, die ? ungerührt
von einer hohen strukturellen Arbeitslosigkeit in einer bestimmten
Region ? ihre Produktion aus Kostengründen in eine andere Region
verlagern, ob verarmte Bauern wertvolle Regenwaldgebiete roden, um ihr
Überleben zu sichern, das Partikulare schiebt sich gegenüber dem
Gemeinsamen in den Vordergrund.
Gleichzeitig erleben wir aber auch das umgekehrte Phänomen: So ist es
beispielsweise im Zuge einer globalisierten Ökonomie nur sehr schwer
möglich, eine nationalstaatlich autonome, d.h. an den partikularen
Interessen eines Staates ausgerichtete Wirtschaftspolitik zu betreiben.
Das Gleiche beobachten wir im Rechtssystem. D.h. jeder Versuch,
Autonomie im Sinne des menschlichen Subjekts, des Menschen als
Gattungswesen, zu erzeugen, stößt immer auf ein Spannungsverhältnis mit
den partikularen Autonomien. Und umgekehrt stößt jeder Versuch, eine
partikulare Autonomie zu wahren (auf welcher Ebene auch immer), auf die
Interdependenzen des Gesamtzusammenhangs. Hier liegt die ganze
Ambivalenz ? und auch die ganze Tragik ? des aufklärerischen
Autonomiebegriffs, die zur gegenwärtigen Krise der abendländischen Idee
vom autonomen menschlichen Subjekt geführt hat.
Das äWie? einer zukunftsfähigen Entwicklung als Autonomieproblem zu
formulieren heißt somit, den Blick auf folgende Überlegungen zu lenken:
Einerseits geht es um die Möglichkeit zur Integration autonomer Elemente
der Gesellschaft (Individuen bzw. soziale Teilsysteme) zu einem
gesellschaftlichen Ganzen, in dem die auf heterarchische,
polykontexturale und partikulare Sinnselektionen basierende
Zersplitterung der Gesellschaft überwunden werden kann zugunsten einer
gesamtgesellschaftlichen (kulturellen, wirtschaftlichen, politischen)
Einheit. Darüber hinaus geht es auch darum, dieses gesellschaftli-
2 Die Nachhaltigkeitsdebatte als Ausgangspunkt für den HGF-Ansatz
32
che Ganze auf ein vernünftiges Ziel12 ? nämlich nachhaltige Entwicklung
? zu orientieren und damit um die Frage, wie für die Gesellschaft selbst
Autonomie zu gewinnen sei. Unabhängig davon, ob man die Autonomie der
Gesellschaft als historisches (kollektives) Subjekt im alteuropäischen
Sinne oder als kollektiven Akteur höherer Ordnung im Sinne einer
emergenten Struktur (vgl. Teubner 1992) definiert, stellen sich zwei
allgemeine Fragen: Zum einen geht es um die Selbstbestimmung steuernder
Institutionen gegenüber determinierenden Einflüssen ? beispielsweise
durch einflußreiche gesellschaftliche Gruppen, Korruption, mafiose
Strukturen oder radikale Individualisierungen (vgl. Greiffenhagen 1998)
?, zum anderen aber muß umgekehrt nach der Möglichkeit der
Selbstbestimmung der Individuen und damit ihrer Autonomie gegenüber
institutionellen Determinierungsversuchen gefragt werden. D.h. das
Problem der Autonomie läßt sich nicht ohne die Frage nach der
Legitimität behandeln (vgl. Gimmler 1998, S. 15).
Die Frage nach dem äW ie? einer zukunftsfähigen Entwicklung läßt sich ?
das sei nochmals betont ? nicht lediglich als Steuerungsproblem
behandeln. Weder kann die Existenz einer gesellschaftlichen Instanz
unterstellt werden, die über die Einsicht in die Ziele und das Wissen
über die einzuschlagenden Wege verfügt, noch könnte ? selbst wenn es
eine solche Instanz gäbe ? unterstellt werden, daß sie in der Lage wäre,
die anderen Teile der Gesellschaft (Teilsysteme, Individuen), denen
diese Einsicht mangelt, zu lenken. Die Vernunftkritik dieses
Jahrhunderts gilt auch für die Vision einer zukunftsfähigen Entwicklung.
Angesichts der hier ausgebreiteten Problematik ist es hinsichtlich der
Umsetzung des integrativen Ansatzes bzw. der Durchführung des geplanten
HGF- Verbundprojektes von großer Bedeutung darauf hinzuweisen, daß es
nicht angemessen wäre, den skizzierten Steuerungsskeptizismus zu
radikalisieren. Denn erstens darf nicht vergessen werden, daß in den
real existierenden Weltgesellschaften Prozesse und Strukturen auf
vielfältigen Ebenen, mit vielfältigen Instrumenten faktisch durchaus
erfolgreich gesteuert bzw. verändert werden, wenn dies auch vermutlich
zunehmend schwieriger wird. Zweitens stehen den hier erwähnten
skeptischen Positionen in der Steuerungsfrage in der relevanten
Literatur durchaus auch mannigfaltige steuerungsoptimistischere
Positionen gegenüber, die grundsätzliche Bedenken in dieser Frage
gleichwohl durchaus würdigen. Deshalb wären weder ein radikaler
Steuerungspessimismus noch ein naiver Steuerungsoptimismus in dieser
Frage angebracht.
12 Diese Frage wurde bereits 1976 von Jürgen Habermas gestellt und ist
heute aktueller denn je (vgl. Habermas 1976).
2.3 Zu den Bedingungen de r Möglichke it einer Realisierung nachha
ltiger Entwicklung 33
In der neueren staatstheoretischen und institutionentheoretischen
Diskussion wird von einem äambivalenten Verhältnis zwischen der
Modernisierung von Gesellschaften und ihrer Gestaltbarkeit? (Messner
1995, S. 74) gesprochen. Während einerseits die Leistungsfähigkeit der
modernen Gesellschaft durch eine steigende Anzahl von autonomen
Akteursgruppen oder ? je nach theoretischer Sichtweise ? der
Ausdifferenzierung funktionaler gesellschaftlicher Spezialsysteme
gesteigert wurde, geht die Einheit und die Steuerungsfähigkeit des
Ganzen verloren. Gesellschaften werden als äpolyzentrisch? dargestellt
(vgl. Rosewitz/Schimank 1988), als ämultizentrale Handlungssysteme?
(vgl. Fürst 1987), in denen die Idee des hierarchisch steuernden über
der Gesellschaft stehenden, Staates keinen Platz mehr hat. Von einer
äEntzauberung des Staates? (vgl. Willke 1983) ist die Rede.
Zwei grundlegende Prinzipien gesellschaftlicher Evolution werden sich
gegenseitig zum Problem: Erstens das Prinzip der Differenzierung mit
einer steigenden Spezialisierung und thematischen Verengung einzelner
Teilbereiche, was eine zunehmende Interdependenz zur Folge hat, und
zweitens das Prinzip operationaler Geschlossenheit bei Zunahme
partikularer Autonomie der Subsysteme und einer zirkulären
Informationsverarbeitung, nur noch das als relevant zu erachten, was
ohnehin schon als wichtig genommen wird, womit ebenfalls eine steigende
Independenz einhergeht (vgl. Willke 1993, S.48).
Die Diskussion um die Steuerungsfähigkeit moderner komplexer
Gesellschaften hat in den letzten Jahren zur Ausarbeitung einer Reihe
von Ansätzen geführt, die die Steuerungsabsicht nicht aufgeben, die
Kritik aber ernst nehmen. In den meisten Fällen wird der Einsatz eines
Ensembles von unterschiedlichen Steuerungsformen vorgeschlagen (vgl.
Scharpf 1993; Mayntz 1993; WBGU 1997; Kirsch 1997; Willke 1998).
Unterschieden werden Formen der direkten Steuerung (z.B. Ver- und
Gebote, Auflagen, Grenzwerte, Finanz- und Technologietransfers etc.) und
der indirekten Steuerung durch die Beeinflussung von Rahmenbedingungen
(Kontextsteuerung). Beide Formen lassen sich als vertikale oder als
horizontale Steuerung denken.13 In einigen Ansätzen wird der Fokus auf
selektionsleitende, handlungs- bzw. kommunikationsstrukturie-
13 Der WBGU spricht insbesondere im internationalen Zusammenhang von
ähorizontaler Selbstkoordination? (multilaterale nationalstaatliche
Regelungs- und Ordnungsmuster).
2 Die Nachhaltigkeitsdebatte als Ausgangspunkt für den HGF-Ansatz
34
rende Medien gelegt (vgl. Willke 1998). Ihnen wird eine entscheidende
Rolle zur (internen) Selbststeuerung beigemessen.14
Die skizzierte problematische Situation hat freilich auch Konsequenzen
für die Real isierungsbedingungen des vorgelegten Ansatzes. Es soll
deshalb hier erläutert werden, von welchem Selbstverständnis sich
diesbezüglich die Autoren dieses Berichts leiten lassen. Die Autoren
begreifen ihre Konzeption als einen Beitrag zu einem umfassenden
gesamtgesellschaftlichen Diskurs zum Thema Nachhaltigkeit. Im
Spannungsfeld zwischen deduktiv abgeleiteten Konzeptionen einerseits und
diskursiv entwickelten Ansätzen andererseits ist dieser Beitrag genauer
wie folgt zu charakterisieren: Einerseits wird an für die
Nachhaltigkeitsproblematik relevante, vor allem in den vergangenen zwei
Jahrzehnten zur Diskussion gestellten theoretischen normativen
Konzeptionen (Gerechtigkeitstheorien, naturethischen Theorien usw.)
angeknüpft. Andererseits stützen wir uns auf die in der Folge des
Rio-Prozesses diskursiv zustandegekommenen zahlreichen weltweiten
Übereinkommen hinsichtlich normativer Grundlagen der Nachhaltigkeit, wie
sie vor allem als Ergebnis vielfältiger internationaler Konferenzen und
Vereinbarungen (zur Biodiversität, zur Menschenrechtsproblematik usw.)
sichtbar werden. Auf dieser Grundlage wird, z.T. deduktiv-analytisch
vorgehend (normative Ebene), eine eigene Konzeption vorgeschlagen, die ?
auf der kontextuellen Ebene ? in partikulären Diskursen wieder
aufgegriffen wird. Mit dieser eigenen Konzeption sollen die ermittelten
Defizite und Schwachstellen bereits existierender Konzeptionen
berücksichtigt, ihre Stärken und Verdienste aufgenommen und, mit eigenen
Ideen verknüpft, mit dem Ziel weitergeführt werden, eine kohärente
Ausformulierung des Leitbildes Nachhaltigkeit zu präsentieren.
Dieses Selbstverständnis demonstriert dreierlei: Erstens handelt es sich
mit der hier vorgelegten Konzeption um keine dogmatische (die normative
Einheit oder die Akzeptanz normativer Vorschläge voraussetzende oder
postulierende) Konzeption. Zweitens sehen wir die vorgeschlagenen
Nachhaltigkeitskriterien (ägenerelle Ziele?, äRegeln?) nicht als
unantastbar an. Erst in der öffentlichen Diskussion der Konzeption wird
sich erweisen, ob und inwiefern die vorgeschlagenen Kriterien
gesellschaftlich akzeptiert bzw. umgesetzt werden können. Drittens
meinen wir einerseits, mit der hier skizzierten konzeptionellen
Vorgehensweise den obigen skeptischen Einwänden und Vorbehalten
hinsicht-
14 Die Anknüpfung an solche Ansätze wird der stra tegischen Ebene des
geplanten HGF - Vorhabens vorbehalten sein. Es soll dort versucht
werden, unterschied lichen Kontexten angepaßte Steuerungsansätze zu
untersuchen bzw. zu entwickeln. In Kap. 7 werden diese Fragen wieder
aufgegriffen und mit Blick auf die institutionelle Dimension der
Nachhaltigkeit konkre tisiert.
2.3 Zu den Bedingungen de r Möglichke it einer Realisierung nachha
ltiger Entwicklung 35
lich Normativität gerecht zu werden. Andererseits wird mit der
vorgelegten Konzeption eine, wie wir glauben, unverzichtbare
gesellschaftliche kommunikative Funktion von normativen Ansätzen
realisiert, nämlich eine breite und differenzierte gesellschaftliche
Diskussion der Gesellschaft über die anstehenden Probleme, über Wege zu
ihrer Lösung, über hierfür gerechtfertigte Opfer und hierzu notwendige
Anstrengungen in Gang zu setzen bzw. weiter voran zu bringen. Der
Diskurs bedarf normativer Vorschläge.
3 Zur Grundstruktur des HGF-Ansatzes
Der zweiten Enquete-Kommission äSchutz des Menschen und der Umwelt?
kommt das Verdienst zu, in Deutschland als erste ein mehrdimensionales
integratives Konzept nachhaltiger Entwicklung erarbeitet zu haben (vgl.
Enquete- Kommission 1998). Es liegt daher nahe, die Arbeit der
Kommission als äReferenzszenario? für die Einordnung des
HGF-Verbundvorhabens heranzuziehen. Bevor im folgenden der eigene Ansatz
dargestellt wird, sollen deshalb einige grundlegende Unterschiede in der
Herangehensweise zwischen Enquete- Kommission und HGF herausgearbeitet
werden.
3.1 Unterschiede zwischen dem Ansatz der Enquete- Kommission und dem
HGF-Ansatz
Im wesentlichen lassen sich drei Unterschiede im Hinblick auf das
Verständnis und die Operationalisierung eines integrativen Konzepts
nachhaltiger Entwicklung zwischen dem Ansatz der Enquete-Kommission und
dem der HGF feststellen.
Zur Frage der Integration
Die Enquete-Kommission hat sich einem integrativen Konzept über die
einzelnen Dimensionen genähert. Ausgehend von der Vorstellung einer
prinzipiellen Gleichrangigkeit von ökologischen, ökonomischen und
sozialen Belangen wird Nachhaltigkeit zunächst aus der Sicht jeder
einzelnen Dimensionen definiert. Die Operationalisierung der
ökonomischen und sozialen Dimension, mit der die Kommission Neuland
betritt, erfolgt dabei weitgehend in Analogie zur ökologischen
Dimension, zu der bereits zahlreiche andere Arbeiten vorliegen und über
die sich, zumindest in Grundzügen, ein gewisser Konsens in der
politischen und wissenschaftlichen Debatte abzuzeichnen beginnt. Durch
die analoge Herangehensweise überträgt die Kommission auch die in der
ökologischen Debatte um Nachhaltigkeit vorherrschende funktionsbezogene
Sichtweise auf die ökonomische und soziale Dimension. Ähnlich wie die
sog. äökologischen Managementregeln? die Bedingungen präzisieren sollen,
die erfüllt sein müssen, um die für den Menschen unentbehrlichen
Funktionen der Natur langfristig zu erhalten, werden Regeln aufgestellt,
deren Einhaltung die äFunktionsfähigkeit des marktwirtschaftlichen
Systems? sowie äsoziale Stabilität und ge-
3 Zur Grundstruktur des HGF-Ansatzes
38
sellschaftliche Leistungsfähigkeit?15 gewährleisten sollen (siehe
Anhang). Als zentrales Ziel des Nachhaltigkeitsanliegens wird die
äSicherstellung und Verbesserung ökologischer, ökonomischer und sozialer
Leistungsfähigkeiten? gesehen (vgl. Enquete-Kommission 1998, S. 19).
Abgesehen von der Frage, ob diese rein funktionale Sicht angemessen ist,
erscheint auch der Weg, die Bedingungen der Nachhaltigkeit zunächst aus
der Innenperspektive jeder Dimension zu formulieren, nicht
unproblematisch. Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen hat dazu
kritisch angemerkt, daß die isolierte Anwendung des
Nachhaltigkeitsbegriffs auf die Teilbereiche Ökologie, Ökonomie und
Soziales der Vorstellung Vorschub leiste, daß sich ökologische,
ökonomische und soziale Nachhaltigkeit unabhängig voneinander
realisieren ließe und so die integrative Funktion der
Nachhaltigkeitsidee untergraben werde (vgl. SRU 1994, Tz. 19).
Zwar betont die Kommission, daß es in ihrem Ansatz nicht um die additive
Zusammenführung dreier nebeneinander stehender Säulen gehe, sondern um
ädie Entwicklung einer dreidimensionalen Perspektive aus der
Erfahrungswirklichkeit? (Enquete-Kommission 1998, S. 18), dennoch bleibt
letztlich offen, wie die Integration erfolgen soll. Falls sich in der
Praxis herausstellen sollte, daß nicht alle Forderungen gleichzeitig
erfüllbar sind, müßte entweder ein Kompromiß ausgehandelt werden, in dem
alle drei Zielkomponenten gleichmäßig Abstriche hinnehmen müßten, oder
es müßten Prioritäten festgelegt werden, die klarstellen, welcher Aspekt
von Nachhaltigkeit im Konfliktfall Vorrang haben soll. Solche Kriterien
für den Umgang mit Konflikten sind aber nicht erarbeitet worden.
Im Gegensatz zu der Vorgehensweise der Enquete-Kommission erfolgt der
Einstieg in die Operationalisierung eines integrativen Konzepts im HGF-
Ansatz nicht über die Dimensionen, sondern über die Frage, welche
Elemente als konstitutiv für das Leitbild der Nachhaltigkeit betrachtet
werden können.
Zur Begründung der Nachhaltigkeitsforderung
Um die Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung zu begründen, kommen
zwei unterschiedliche Argumentationslinien in Betracht, eine explizit
normati-
15 Die Enquete-Kommission äSchutz des Menschen und der Umwelt? des 13.
Deutschen Bundestages orientiert sich mit die ser Zie lsetzung an den
bereits von de r Enquete- Kommission gle ichen Namens des 12. Deutschen
Bundestages formulierten sozialen und ökonomischen äSchutz- und
Gestaltungszielen? (vgl. Enquete-Kommission 1994, S. 485ff. und 495f.).
3.1 Unterschiede zwischen dem Ansatz der Enquete-Kommission und dem
HGF-Ansatz 39
ve, die vom Postulat der Gerechtigkeit ausgeht, und eine
quasi-objektive, die sich an den Grenzen der Belastbarkeit und aktuellen
Problemlagen orientiert. Im Brundtland-Bericht werden beide parallel
verwendet (vgl. dazu Metzner 1999).
Die Enquete-Kommission rückt die zweite Begründungslinie in den
Vordergrund, wobei sie das wiederum aus der ökologische Debatte
stammende Konzept der äTragekapazität? in die gesellschaftliche Sphäre
überträgt: äIn jüngster Zeit (...) setzt sich zunehmend die Erkenntnis
durch, daß auch im Bereich ökonomischer und sozialer Ordnungen Grenzen
der Belastungsfähigkeiten existieren, die bei Überbeanspruchung zu
ähnlichen Konsequenzen (Einschränkung der Leistungsfähigkeit bis hin zum
Zusammenbruch des betreffenden Systems) führen können?
(Enquete-Kommission 1998, S. 17). Der dem Menschen verbleibende
Handlungsspielraum würde sich nach dieser Vorstellung durch die
Belastbarkeitsgrenzen ökologischer, ökonomischer und sozialer Systeme
definieren lassen.
In der ökologischen Debatte hat die Schwierigkeit, in Anbetracht
mangelnder Kenntnisse über die Stabilitätsbedingungen und
Belastungsfähigkeit von Ökosystemen ein positives Zielsystem der
Nachhaltigkeit aufzustellen, zur Favorisierung negativer Zielkataloge
geführt. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, daß es schwierig, wenn nicht
unmöglich ist, Grenzen der Belastbarkeit wissenschaftlich zu
identifizieren, ohne sie zunächst zu überschreiten, da erst dann
deutlich wird, wo sie liegen (vgl. Metzner 1999). Die Zielbestimmung
orientiert sich also an den offensichtlichen Krisenphänomenen
anthropogener Naturnutzung, die anzeigen, daß die Grenzen erreicht oder
schon überschritten sind. Unter Herbeiführung eines wissenschaftlichen
und politischen Konsenses über den definitiv als nicht zukunftsfähig
anzusehenden Zustand sollen äLeitplanken? definiert werden, innerhalb
derer sich die künftige Entwicklung bewegen kann (vgl. u.a. Reusswig
1999).
Aus der Überzeugung, daß die zivilisatorische Entwicklung ebenso durch
ökonomische und soziale Risiken bedroht werden kann wie durch
ökologische, überträgt die Kommission das Konzept der Leitplanken in die
gesellschaftliche Sphäre. Nichtnachhaltig ist aus der Sicht der
Kommission jede Entwicklung, die zu Lasten kommender Generationen geht.
Staatliche und private Verschuldungen, denen keine Zukunftsinvestitionen
gegenüberstehen, mangelnde Anpassungsfähigkeit der Bildungs- und
Ausbildungssysteme sowie die zunehmende Unfinanzierbarkeit der sozialen
Sicherungssysteme verletzen daher das Nachhaltigkeitsgebot ebenso wie
eine Beeinträchtigung der natürlichen Lebensgrundlagen oder des
Erdklimas (vgl. Enquete-Kommission 1998, S. 24). Soweit es sich als
unmöglich herausstellen sollte, positive Ziele aufzustellen,
3 Zur Grundstruktur des HGF-Ansatzes
40
soll nach Ansicht der Kommission Konsens über die als nicht nachhaltig
empfundenen Zustände hergestellt und äein ausgewogenes Maß allgemein
akzeptierter Leitplanken formuliert werden? (ebd., S. 29)
Im Gegensatz zur Enquete-Kommission orientiert sich der HGF-Ansatz nicht
primär an Belastungsgrenzen und aktuellen Problemlagen, sondern stellt
die normative Begründungslinie in den Vordergrund. Ausgehend von dem
Postulat der Gerechtigkeit wird der Versuch unternommen,
Mindeststandards zu benennen, auf deren Gewährleistung alle Mitglieder
der globalen Gesellschaft, einschließlich der kommenden Generationen,
einen moralischen Anspruch haben. Dieser zunächst rein normative Ansatz
soll später jedoch mit einem problembezogenen Ansatz kombiniert werden.
Der Orientierung an aktuellen Problemlagen kommt dabei die Funktion
eines Filters zu, mit dessen Hilfe das aufgeworfene breite
Themenspektrum auf die für die weitere Bearbeitung der HGF-Studie
relevanten Aspekte fokussiert werden kann. Der problemorientierte Ansatz
bildet somit gewissermaßen das äScharnier? zwischen der normativen und
der kontextualen Ebene (siehe dazu Kap. 3.5 )
Zum Verhältnisvon Entwicklung und Bewahrung
Der Begriff der änachhaltigen Entwicklung? stellt eine Kompromißformel
dar, die zwei im Grunde heterogene Zielsetzungen umfaßt: einerseits geht
es um äNachhaltigkeit? im Sinne einer Bestandssicherung, andererseits um
äEntwicklung? im Sinne einer Verbesserung der Lebensbedingungen durch
Ausweitung der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. Ausgehend von
ganz unterschiedlichen Startpositionen ergibt sich aus dieser
Kombination ein gemeinsames Interesse aller Staaten an einem
Entwicklungsmodell, das den Industrieländern eine Perspektive der
Wohlstandserhaltung und den Entwicklungsländern eine Perspektive der
Wohlstandsgewinnung eröffnet (vgl. Metzner 1999). Inwieweit sich diese
beiden Zielsetzungen in einem globalen Maß- stab überhaupt in Einklang
bringen lassen, ist durchaus umstritten (vgl. Birnbacher 1999,
Knaus/Renn 1998, S. 60ff.). Dennoch liegt gerade in ihrer Verknüpfung
die Ursache für die Attraktivität und die weltweite Akzeptanz des
Leitbilds.
In dem durch den Begriff selbst aufgebauten Spannungsfeld zwischen
Entwicklung und Bewahrung rückt die Enquete-Kommission den Aspekt der
Bewahrung in den Mittelpunkt. Das in Deutschland historisch gewachsene
System der sozialen Marktwirtschaft und der parlamentarischen Demokratie
wird als das für kommende Generationen insgesamt zu erhaltende Erbe
angesehen. Die als Bedingungen ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit
deklarierten
3.2 Konstitutive Elemente des Nachhaltigkeitsleitbildes 41
Kriterien beinhalten daher im wesentlichen bekannte Forderungen, die die
Stabilität und Funktionsfähigkeit der parlamentarisch-demokratischen
Ordnung, des Sozialstaates und des marktwirtschaftlichen Systems
gewährleisten sollen.
Die Frage, welche Anforderungen an eine global nachhaltige Entwicklung
sich unter dem Aspekt der Generationengerechtigkeit und der
Entwicklungschancen für alle stellen würden und welche Konsequenzen sich
daraus u.U. für die gewachsenen Systeme entwickelter Industrienationen
ergeben könnten, wird nicht aufgeworfen. In die gleiche R ichtung zielt
auch die in einem Sondervotum zum Ausdruck gebrachte Kritik des
Kommissionsmitglieds Rochlitz. Er sieht in den von der Kommission
vorgeschlagenen ökonomischen und sozialen Nachhaltigkeitsregeln in
erster Linie eine Beschreibung des Istzustands der bundesdeutschen
Realität, die keine Vision der anzustrebenden Entwicklung beinhaltet,
sondern eher von dem notwendigen Veränderungsbedarf ablenkt (vgl.
Enquete-Kommission 1998, S. 216).
Im Gegensatz zu dem von vornherein auf Deutschland beschränkten
Operationalisierungsansatz der Enquete-Kommission wird im HGF-Projekt
zunächst versucht, Mindestvoraussetzungen für eine nachhaltige
Entwicklung zu formulieren, die unabhängig vom nationalen Kontext sind.
Da diese Mindestbedingungen globalisierbar sein sollen, müssen sie
konsequenterweise beiden Zielsetzungen des Leitbilds, also sowohl der
Bestandserhaltungs- wie der Entwicklungsperspektive Rechnung tragen.
Welche konkreten Anforderungen sich daraus für ein bestimmtes Land
ableiten lassen, wäre nach dem Aufbau unserer Studie erst auf der
nachfolgenden kontextualen Ebene zu untersuchen, wobei es von der
Ausgangssituation des betreffenden Landes abhinge, ob Aspekte der
Entwicklung oder Aspekte der Bestandssicherung im Vordergrund stehen
würden.
3.2 Konstitutive Elemente des Nachhaltigkeitsleitbildes
Um der Frage nachzugehen, welches die konstitutiven Elemente des
Leitbildes der Nachhaltigkeit sind, ist eine weithin akzeptierte
Definition zugrunde zu legen. Dazu wurde hier die Definition der
Brundtland-Kommission16 herangezogen. Zwar gibt es inzwischen viele
andere Definitionsversuche mit zum Teil
16 World Commission on Environment and Development: Our Common Future.
Oxford University Press 1987. Im vorliegenden Text wird die deutsche
Übersetzung des Berichts zugrundegelegt, vgl. Hauff, V. (Hrsg.): Unsere
gemeinsame Zukunft. Eggenkamp Verlag Greven 1987.
3 Zur Grundstruktur des HGF-Ansatzes
42
erheblichen Unterschieden bei der inhaltlichen Bestimmung des
Begriffs,17 die Definition der Brundtland-Kommission ist aber nach wie
vor die einzig international anerkannte, auf die in zahlreichen
UN-Dokumenten verwiesen wird und die auch den Verhandlungen in Rio
zugrunde lag (vgl. Bartolomäi 1997, S. 81f.). Danach ist eine
Entwicklung als nachhaltig zu bezeichnen, äwenn sie die Bedürfnisse der
Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre
eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können? (Hauff 1987, S. 46).
Was die Kommission unter dem Begriff der äBedürfnisse? versteht,
erläutert sie gleich im Anschluß an diese Definition. Es geht
äinsbesondere um die Grundbedürfnisse der Ärmsten dieser Welt, die die
überwiegende Priorität haben sollten?. Armut ist nach Ansicht der
Kommission nicht nur ein Übel per se, sondern gleichzeitig eine der
Hauptursachen der Umweltzerstörung und anderer negativer Entwicklungen:
äEine Welt, in der Armut herrscht, wird immer zu ökologischen und
anderen Katastrophen neigen? (ebd., S. 10). Beseitigung von Armut ist
demnach eine Voraussetzung für global nachhaltige Entwicklung:
äNachhaltige Entwicklung erfordert, die Grundbedürfnisse aller zu
befriedigen und für alle die Möglichkeit zu schaffen, ihren Wunsch nach
einem besseren Leben zu befriedigen? (ebd., S. 47). Lebensstandards, die
über dieses Minimum hinausgehen, sind nach Ansicht der Kommission nur
gerechtfertigt, wenn die Verbrauchsgewohnheiten den Erfordernissen der
Nachhaltigkeit gerecht werden, also den ökologischen Möglichkeiten
unseres Planeten angemessen sind. Auf der anderen Seite setzt die
Erfüllung der Grundbedürfnisse voraus, daß Ländern, in denen die
Mehrheit der Bevölkerung arm ist, ein gerechter Anteil an den dazu
erforderlichen Ressourcen zugestanden wird (ebd., S. 10). Nachhaltige
Entwicklung erfordert daher eine Entwicklungspolitik, die auf
Veränderung bezüglich des Zugangs zu Ressourcen und der Verteilung von
Kosten und Nutzen ausgerichtet ist (ebd., S. 46).
Aus alldem läßt sich die Schlußfolgerung ziehen, daß der Begriff der
Nachhaltigkeit aus der Sicht der Brundtland-Kommission Verantwortung für
soziale Gerechtigkeit sowohl zwischen den Generationen als auch
innerhalb jeder Generation impliziert.
Die Definition der Brundtland-Kommission einschließlich der von ihr
selbst dazu gegebenen Erläuterungen hat in der wissenschaftlichen
Debatte zu erheblichen Kontroversen über die konstitutiven Elemente der
Nachhaltigkeit geführt. Einigkeit besteht insoweit, daß die Definition
im Kern das Verhältnis
17 Die inhaltliche Bedeutung des Begriffs der Nachhaltigkeit ist vor
allem in der Wissenschaft nach wie vor höchst umstritten; einen Eindruck
von der Spannweite der bisher ver suchten Begriffsabgrenzungen geben
Pezzey 1992, Kreibich 1995 und Renn/Kastenholz 1996.
3.2 Konstitutive Elemente des Nachhaltigkeitsleitbildes 43
zwischen den Generationen betrifft. Sie fordert eine gerechte Verteilung
der Chancen zur Bedürfnisbefriedigung, sowohl zwischen
aufeinanderfolgenden Generationen (intergenerative Gerechtigkeit) als
auch innerhalb jeder Generation (intragenerative Gerechtigkeit). Die
Frage, in welchem Verhältnis die beiden Gerechtigkeitspostulate
zueinander stehen, ist jedoch höchst umstritten.
Eine erste Position, die sich eng an den Brundtland-Bericht anlehnt,
sieht die beiden Postulate von ihrem normativen Anspruch her als
gleichrangig an, wobei die intragenerative Gerechtigkeit jedoch zugleich
in einem instrumentellen Verhältnis zur intergenerativen Gerechtigkeit
steht. Eine prominente Vertreterin dieser Position ist Edith
Brown-Weiss, die in ihrer grundlegenden Studie äIn Fairness to Future
Generations? eine umfassende Theorie intergenerativer Gerechtigkeit
entwickelt hat. Ausgangsthese ist die Idee des äPlanetary Trust?, dem
alle Menschen als Gattungswesen angehören, und der sie zu Solidarität
und verantwortlichem Handeln in räumlicher und zeitlicher Hinsicht
verpflichtet (vgl. Brown-Weiss 1989, S. 21ff.). Jede Generation ist
berechtigt, das von vorangegangen Generationen übernommene natürliche
und kulturelle Erbe zu nutzen und hat es gleichzeitig treuhänderisch für
nachfolgende Generationen zu verwalten. Diese Doppelrolle als Nutznießer
und Treuhänder des gemeinsamen Erbes räumt jeder Generation spezielle
kollektive Rechte ein, mit denen kollektive Pflichten korrespondieren.
Als Basis für die Zuweisung von Rechten und Pflichten werden drei Prinz
ipen intergenerativer Gerechtigkeit formuliert (vgl. ebd., S. 38). Das
erste Prinzip äConservation of Options? verlangt von jeder Generation,
die Diversität der natürlichen und kulturellen Ressourcenbasis zu
erhalten, um die Wahlmöglichkeiten kommender Generationen bei der Lösung
ihrer Probleme und der Verwirklichung ihrer eigenen Werte nicht
unangemessen zu beschränken. Das zweite Prinzip äConservation of
Quality? verpflichtet jede Generation, den übernommenen Bestand an
natürlichen und kulturellen Ressourcen in keinem schlechteren Zustand
weiterzugeben, als sie ihn selbst empfangen haben. Das dritte Prinzip
äConservation of Access? fordert, daß jede Generation ihren Mitgliedern
gerechten Zugang zu dem gemeinsamen Erbe einräumt und diese
Zugangsmöglichkeiten für kommende Generationen erhält.
Mit dem dritten Prinzip wird sowohl ein Grundsatz inter- wie
intragenerativer Gerechtigkeit formuliert, wobei die Einräumung
gerechter Zugangsmöglichkeiten innerhalb einer Generation als
Voraussetzung für die Realisierung intergenerativer Gerechtigkeit
betrachtet wird. Dem liegt folgende Überlegung zugrunde: Das Recht zur
Nutzung des gemeinsamen Erbes, das jeder Generation als Mitglied des
äPlanetary Trust? zukommt, sagt noch nichts darüber aus, wie Nutzen und
Lasten innerhalb einer Generation verteilt sind. Nur diejeni-
3 Zur Grundstruktur des HGF-Ansatzes
44
gen, die heute von der Nutzung der globalen Ressourcen profitieren,
verfügen über einen Bestand an Werten, den sie künftigen Generationen
hinterlassen können, aber sie werden diesen Bestand ihren eigenen
Nachkommen übergeben, wodurch die heute bestehende Ungleicheit der
Verteilung in die Zukunft verlängert wird (vgl. ebd., S. 14). Wenn die
heutigen Nutznießer des gemeinsamen Erbes nichts gegen die
fortschreitende Verarmung ganzer Gesellschaften oder
Gesellschaftsschichten unternehmen, wird die Armut als solche
einschließlich ihrer Folgen (Migration, Umweltzerstörung,
Überbevölkerung, Bürgerkriege) an künftige Generationen vererbt. Weder
die heutigen Armen noch deren Nachkommen werden also in der Lage sein,
Wahlmöglichkeiten für kommende Generationen zu erhalten und die Qualität
der Ressourcen zu sichern. Damit alle Mitglieder einer Generation ihren
intergenerativen Pflichten gerecht werden können, ist daher zunächst
sicherzustellen, daß alle an dem wirtschaftlichen Nutzen des gemeinsamen
Erbes partizipieren können. Dies impliziert nach Brown-Weiss, daß ein
international akzeptierter Mindeststandard für den Zugang zu Ressourcen
gewährleistet sein muß, und daß die reichen Mitglieder der heutigen
Weltgesellschaft die armen darin unterstützen, diesen Anspruch auch zu
realisieren (vgl. ebd., S. 28, 44f.). Das intergenerativ begründete
Recht zur Nutzung des gemeinsamen Erbes ist somit verknüpft mit
Pflichten gegenüber den Mitgliedern der eigenen Generation (vgl. ebd.,
S. 97).
Eine zweite Position, die in Deutschland vor allem vom
Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt und Energie vertreten wird und auch
der Studie äZukunftsfähiges Deutschland? zugrunde liegt, sieht inter-
und intragenerative Gerechtigkeit als normativ gleichrangig an, räumt
der intergenerativen Gerechtigkeit jedoch in analytischer Hinsicht
Priorität ein. Die Pflicht zu einer treuhänderischen Verwaltung des
natürlichen Erbes wird hier durch das in Anlehnung an Opschoor
entwickelte Konzept des äUmweltraums? operationalisiert. Der Umweltraum
umschreibt das Ausmaß, in dem der Mensch die natürliche Umwelt nutzen
kann, ohne wesentliche Charakteristika auf Dauer zu beeinträchtigen,
d.h. ohne ihr Nutzenpotential für kommende Generationen zu schmälern.
Innerhalb dieses durch die Tragekapazitäten der Ökosysteme, die
Regenerationsfähigkeit der natürlichen Ressourcen sowie die
Verfügbarkeit der Ressourcen begrenzten Handlungsraums sollen dann
weltweit gleiche Pro-Kopf- Nutzungsrechte gelten (vgl.
Wuppertal-Institut 1995, S. 14f.). Die Gewährleistung gleicher
Nutzungschancen an der natürlichen Umwelt für künftige Generationen
stellt somit die begrenzende Bedingung für eine Umverteilung innerhalb
der heutigen Generation dar. Das heißt: Mit erster Priorität sind die
Rechte kommender Generationen zu wahren, auf der Basis der dann noch
verbleiben-
3.2 Konstitutive Elemente des Nachhaltigkeitsleitbildes 45
den Möglichkeiten ist Chancengleichheit innerhalb der heutigen
Generation herzustellen (vgl. dazu Renn/Kastenholz 1996)
Demgegenüber sieht eine dritte Position allein den intergenerativen
Ausgleich als konstitutiv für das Leitbild der Nachhaltigkeit an
(Birnbacher, Cansier, Radke, TA-Akademie Baden-Württemberg). Die
Verantwortung für kommende Generationen und die Zukunftsvorsorge liefern
hier den einzigen Maßstab, an dem das Konzept zu messen ist. Die
zentrale Frage lautet dementsprechend, auf welche Hinterlassenschaft
kommende Generationen einen Anspruch haben bzw. in welcher Form und auf
welchem Niveau die natürlichen, ökonomischen, soz ialen, kulturellen und
intellektuellen Ressourcen, die in ihrer Gesamtheit die Voraussetzung
für die Befriedigung künftiger Bedürfnisse bilden, weitergegeben werden
müssen.
Innerhalb dieser dritten Position lassen sich im Hinblick auf die
Beziehung zur intragenerativen Gerechtigkeit wiederum verschiedene
Auffassungen unterscheiden. Nach Ansicht von Birnbacher sollten Aspekte
der intragenerativen Gerechtigkeit dann berücksichtigt werden, wenn sie
von kausaler Bedeutung für die Realisierung der intergenerativen
Gerechtigkeit sind. Ziele wie Freiheit, soziale Gerechtigkeit,
Sicherheit, Chancengleichheit seien zwar nicht konstitutiv für
Nachhaltigkeit, gleichwohl aber in diesem Zusammenhang relevant, soweit
sie wesentliche Vorbedingung, Durchsetzungsinstrument oder Folgewirkung
von Nachhaltigkeit darstellen (vgl. Birnbacher 1999). Dagegen plädiert
die TA-Akademie dafür, Nachhaltigkeit ausschließlich im Sinne der
intergenerativen Gerechtigkeit zu interpretieren und die Frage der
intragenerativen oder besser der internationalen
Verteilungsgerechtigkeit als einen eigenständigen konkurrierenden
Zielbereich zu betrachten, der teils in Einklang, teils in Konflikt zu
dem Ziel der Nachhaltigkeit steht (vgl. Renn/Kastenholz 1996; Knaus/Renn
1998).
Der HGF-Ansatz lehnt sich im wesentlichen an die erste der drei
genannten Positionen an, die auch in der internationalen Debatte um
nachhaltige Entwicklung die ausschlaggebende Rolle spielt. Das heißt,
inter- und intragenerative Gerechtigkeit werden als gleichrangig und
zusammengehörig betrachtet. Begründen läßt sich diese Entscheidung mit
der hier verfolgten Absicht, als erste Stufe der Operationalisierung
einen Bezugsrahmen der Nachhaltigkeit in einem globalen Kontext zu
entwickeln. Die Globalität stellt aus unserer Sicht ein weiteres
konstitutives Element des Leitbilds dar, das sich ebenfalls unmittelbar
aus dem Bericht der Brundtland-Kommission ableiten läßt.
Wie schon dem Titel des Berichts zu entnehmen ist, geht es um die
Zukunft der Menschheit als Ganzes. Ausgehend von der Erkenntnis, daß
infolge der zunehmenden globalen Verflechtung lokale Handlungen globale
Auswirkungen
3 Zur Grundstruktur des HGF-Ansatzes
46
haben können, und umgekehrt globale Probleme ökologischer oder
soziokultureller Natur wiederum mit vielfältigen Folgen auf lokaler
Ebene verknüpft sein können, wollte die Kommission eine
Entwicklungsperspektive für die Weltgesellschaft insgesamt aufzeigen.
Ein Ansatz, der sich ausschließlich auf den intertemporalen Aspekt
beschränkt, kann unserer Auffassung nach diesem Anliegen nicht gerecht
werden. Nachhaltigkeit im Sinne eines reinen äVerschlechterungsverbots?
(vgl. Cansier 1996) mag eine sinnvolle Ausgangsbasis für hoch
entwickelte Industrieländer sein, in denen es darum geht, einen
gegebenen Bestand an natürlichen, ökonomischen, sozialen und kulturellen
Werten für kommende Generationen zu erhalten, ist jedoch völlig
unzureichend im Hinblick auf Länder, in denen die Mindestvoraussetzungen
eines menschenwürdigen Lebens nicht erfüllt sind. Ein global
verallgemeinerungsfähiges Konzept muß also sowohl den Aspekt der
Bestandserhaltung als auch den Aspekt der Entwicklung im Sinne der
Schaffung dieser Mindestbedingungen umfassen.
Konstitutiv für das Leitbild ist aus unserer Sicht schließlich noch ein
weiteres Element: nachhaltige Entwicklung ist ein anthropozentrisches
Konzept. Es geht um die Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen in
heutigen und kommenden Generationen. Daraus folgt, daß die natürliche
Umwelt nicht um ihrer selbst willen, sondern im Hinblick auf ihre
Bedeutung für den Menschen zu schützen ist. Dies beinhaltet neben der
Erhaltung von Nutzungsmöglichkeiten die Aufrechterhaltung wesentlicher,
für den Menschen unentbehrlicher Funktionen der Biosphäre. Selbst dort,
wo bestimmten Komponenten der Natur ein inhärenter Wert zugeschrieben
wird, geschieht dies aus der Sicht und nach den Wertmaßstäben des
Menschen.
3.3 Ableitung von generellen Nachhaltigkeitszielen
Auf der Basis der im letzten Abschnitt angestellten Überlegungen zu den
konstitutiven Elementen des Leitbildes der Nachhaltigkeit wird im
Folgenden der Frage nachgegangen, welche generellen Ziele sich auf der
globalen Ebene aus dem normativen Postulat der intra- und
intergenerativen Gerechtigkeit ableiten lassen. Die hier formulierten
drei Ziele lehnen sich im Prinzip an die von Brown-Weiss formulierten
Grundsätze intergenerativer Gerechtigkeit an, deh-
3.3 Ableitung von generellen Nachhaltigkeitszielen 47
nen jedoch den Begriff der Ressource über die ökologische Dimension
hinaus auf ökonomische, soziale und kulturelle18 Ressourcen aus.
Ziel 1: Sicherung der menschlichen Existenz
Das oberste Gebot, das sich aus dem Postulat ableiten läßt, ist ohne
Zweifel, daß die jetzigen Generationen nicht die Voraussetzungen für das
Leben künftiger Generationen zerstören dürfen. Das heißt zunächst, daß
die für die menschliche Existenz unentbehrlichen Funktionen der Natur
aufrecht erhalten werden müssen. Weiterhin läßt sich daraus ableiten,
daß die individuelle Existenz aller Mitglieder der Weltgesellschaft
dauerhaft und in menschenwürdiger Weise gesichert sein muß. Die
Brundtland-Kommission nennt als Mindestvoraussetzungen dafür einerseits
die Befriedigung der Grundbedürfnisse (vgl. Hauff 1987, S. 10) und
andererseits die Gewährleistung einer Umwelt, die äder Gesundheit und
dem Wohlergehen des Menschen angemessen ist? (ebd., S. 387). Unter dem
Aspekt einer dauerhaft aufrechterhaltbaren Entwicklung kann es jedoch
nicht nur um die Sicherung des änackten Überlebens? gehen, sondern
darüber hinaus um die bestmögliche Befähigung der Menschen, ihre
Existenz selbständig und produktiv zu gestalten, d.h. möglichst
unabhängig von Transfers zu sein (vgl. Sen 1986, 1993, 1998). Eine
weitere Grundvoraussetzung für nachhaltige Entwicklung sehen wir deshalb
darin, daß jedes Mitglied der Weltgesellschaft die Möglichkeit haben
muß, selbst für die Erfüllung seiner Grundbedürfnisse zu sorgen.
Ziel 2: Erhaltung des gesellschaftlichen Produktivpotentials
Die Definition der Brundtland-Kommission besagt, daß die Bedürfnisse der
heutigen Generation in einer Weise erfüllt werden sollen, die die
Bedürfnisbefriedigung kommender Generationen nicht gefährdet. Das
bedeutet, kommende Generationen müssen vergleichbare Voraussetzungen
vorfinden, ihre Bedürfnisse, die nicht unbedingt mit den heutigen
übereinstimmen müssen, zu erfüllen (vgl. Folkers 1998). Im Hinblick auf
die materiellen Bedürfnisse läßt sich daraus als generelles Ziel
nachhaltiger Entwicklung die Forderung ableiten,
18 Zwar verwendet auch Brown-Weiss den Begr iff der äkulturellen
Ressource ?, bezieht diesen jedoch in erster L inie auf das zur
Erhaltung der natürl ichen Lebensgrundlagen notwendige Wissen, wobei es
sowohl um die Erhaltung traditioneller Kenntnisse, Fähigkeiten und
Techniken geht als auch um die Konservierung von Satellitendaten,
Computerprogrammen, Gendatenbanken etc.
3 Zur Grundstruktur des HGF-Ansatzes
48
daß die produktive Kapazität der (Welt)gesellschaft in einem ganz
allgemeinen Sinne über die Zeit erhalten bleiben muß (vgl. Solow 1993,
Radke 1995). Zu den elementaren Bestandteilen des gesellschaftlichen
Produktivpotentials gehört außer den natürlichen (erneuerbaren und nicht
erneuerbaren) Ressourcen vor allem das menschliche Wissen. Die
Mindestvoraussetzungen zur Erfüllung dieses generellen Ziels werden in
den verschiedenen kapitalbezogenen Regeln formuliert (siehe unten). In
welcher Zusammensetzung und auf welchem Niveau das Produktivpotential
weitergegeben werden soll, ist eine höchst umstrittene Frage, auf die in
Kap. 4 näher eingegangen wird.
Ziel 3: Bewahrung der Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten
Das Gebot, die Bedürfnisbefriedigung kommender Generationen nicht zu
gefährden, kann sich jedoch nicht allein auf materielle Bedürfnisse
erstrecken, sondern muß immaterielle Bedürfnisse einschließen. Allgemein
könnte man formulieren, daß die heutigen Generationen die Entwicklungs-
und Handlungsmöglichkeiten kommender Generationen nicht beschränken
dürfen. Bezogen auf den einzelnen Menschen bedeutet dies, daß die
individuellen Entfaltungsmöglichkeiten heute und in Zukunft gesichert
sein müssen. Als Mindestvoraussetzung zur Erfüllung dieses Ziels wäre
die Einräumung von Chancengleichheit im Hinblick auf den Zugang zu
Ressourcen sowie die Möglichkeit der Teilhabe an den gesellschaftlich
relevanten Entscheidungsprozessen zu nennen. Weiterhin wäre zu fordern,
daß die heute bestehenden Wahlmöglichkeiten nicht vermindert werden
dürfen. Dies bedeutet insbesondere, daß die Vielfalt kultureller,
ästhetischer und soz ialer Werte erhalten bleiben muß.
Die in Kap. 5 näher erläuterte äBipolarität des Soz ialen? macht es
erforderlich, die individuelle Perspektive durch die gesellschaftliche
Perspektive zu ergänzen. Eine Gesellschaft, die dauerhaft existenzfähig
bleiben will, muß die Sicherung des inneren und äußeren Friedens
gewährleisten, sie muß für die Integration, Soz ialisation und
Motivation ihrer Mitglieder Sorge tragen und sie muß die Fähigkeit zu
angemessener Reaktion auf veränderte Bedingungen besitzen
(Resonanzfähigkeit). Das bedeutet nicht unbedingt, daß die bestehenden
sozialen Strukturen und Institutionen stabilisiert werden sollen (oder
können), sondern daß sie lern- und entwicklungsfähig gehalten werden.
Die Konkretisierung des Postulats der intra- und intergenerativen
Gerechtigkeit in Form der drei generellen Ziele macht deutlich, daß sich
schon auf der obersten (normativen) Ebene ökologische, ökonomische
soziale und institutionelle Forderungen wechselseitig bedingen. Daraus
könnte man die Schlußfol-
3.4 Zum Charakter der Nachhaltigkeitsregeln 49
gerung ziehen, daß es im Grunde nicht sinnvoll ist, die
äNachhaltigkeitsregeln?, die ja nur die Voraussetzungen für die
Erfüllung dieser Ziele präzisieren sollen, den einzelnen Dimensionen
zuzuordnen. Von der Logik des Ansatzes her schiene es richtiger, sie den
generellen Zielen zuzuordnen (siehe Abbildung 2).
Eine solche Zuordnung wäre nicht nur dem integrativen Ansatz
angemessener, sondern würde auch die Probleme, die bisher bei der
Zuordnung der Regeln zu den Dimensionen aufgetreten sind, vermeiden. So
werden z.B. die Regeln zu Erhaltung des Naturkapitals der ökologischen
Dimension zugeordnet, während die Regeln zur Erhaltung des Human- und
Wissenskapitals entweder der sozialen oder der ökonomischen Dimension
zugeordnet werden, obwohl alle dem gleichen Oberziel dienen, nämlich die
Voraussetzung für die Befriedigung materieller Bedürfnisse für kommende
Generationen zu erhalten.
Dennoch folgt die vorgelegte Arbeit in seinem Aufbau der äklassischen?
Einteilung nach Dimensionen. Wir haben diese Struktur gewählt, um
anschluß- fähig an die aktuelle Debatte zu sein und insbesondere den
Vergleich mit den von der Enquete-Kommission aufgestellten
Nachhaltigkeitsregeln zu erleichtern.
3.4 Zum Charakter der Nachhaltigkeitsregeln
Wie schon erwähnt, hat die Enquete-Kommission in ihrem Abschlußbericht
erstmals Regeln einer nachhaltigen Entwicklung formuliert, die neben der
ökologischen auch die ökonomische und soziale Dimension betreffen. In
den folgenden Kapiteln wird ebenfalls versucht, solche Regeln
aufzustellen, die sich jedoch in mehrfacher Hinsicht von denen der
Kommission unterscheiden:
Zunächst wird das Set von Regeln in Erweiterung des Ansatzes der
Enquete-Kommission auf eine vierte ? politisch-institutionelle ?
Dimension ausgedehnt.
Der zweite Unterschied liegt darin, daß die Regeln der Kommission
jeweils eigenständig aus der Binnenperspektive der sozialen und
ökonomischen Dimension entwickelt wurden, während sich die hier
aufgestellten Regeln auf die im vorangehenden Abschnitt beschriebenen,
dimensionsübergreifenden Nachhaltigkeitsziele beziehen, wenn sie auch,
ihrem jeweiligen Gegenstandsbereich entsprechend, zunächst noch den
einzelnen Dimensionen zugeordnet bleiben.
3 Zur Grundstruktur des HGF-Ansatzes
50
?WAS-REGELNö
Sicherung der menschlichen Existenz
Erhaltung des gesellschaftlichen Produktionspotentials
Bewahrung der Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten
Ziele
Regeln
? Schutz der menschlichen Gesundheit
? Nachhaltige Nutzung
erneuerbarer Ressourcen
? Erhaltung der kulturellen Funktion der
Natur
? Vermeidung unvertretbarer Umweltrisiken
? Nachhaltige Nutzung
nicht-erneuerbarer
Ressourcen
? Erhaltung der kulturellen Vielfalt
? Gewährleistung der
Grundversorgung
? Nachhaltige Nutzung
der Umwe lt als Senke
? Gerechte Verteilung
der Umweltnutzung
? Selbständige Existenz s icherung
? Entwicklung von
Sach-, Human- und
Wissenskapital
? Gerechter Zugang zu
Bildung, Information,
beruflicher Tätigkeit
? Erhaltung der sozialen
Ressourcen
? Gerechte Einkommens- und Vermö-
gensverteilung
? Partizipation an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen
? Machtausgleich
? Begrenzung der Verschuldung
?WIE-REGELNö
? Internalisierung sozialer und ökologischer Folgenkosten
? Angemessene Diskontierung
? Verbesserung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen
? Förderung der internationalen Zusammenarbeit
? Resonanzfähigkeit von Institutionen
? Reflexivität von Institutionen
? Selbstorganisation
? Erwartungskonformität
Abb. 2: Nachhaltigkeitsregeln
3.4 Zum Charakter der Nachhaltigkeitsregeln 51
Die Enquete-Kommission hat zwar die im globalen Kontext entwickelten
ökologischen Regeln übernommen, sich bei der Formulierung von Regeln für
ökonomische und soziale Nachhaltigkeit aber auf Deutschland, also auf
die Bedingungen eines hoch entwickelten Industrielandes beschränkt.
Daraus folgt, daß die Regeln nur auf Deutschland bzw. auf ein Land mit
vergleichbaren Voraussetzungen anwendbar sind. Dagegen sollen die hier
aufgestellten Regeln die Bedingungen präzisieren, die auf globaler Ebene
mindestens erfüllt sein müß- ten, um die drei generellen
Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Konsequenterweise ist an die Regeln
die Forderung zu stellen, daß sie aus der Sicht unterschiedlicher
kultureller Traditionen annehmbar und auf unterschiedliche politische
und ökonomische Systeme anwendbar sein müssen. Dies hat zur Folge, daß
die Regeln auf einem relativ abstrakten Niveau formuliert sein müssen,
um Raum für eine kontextspezifische Konkretisierung und
Ausdifferenzierung zu lassen. Welche konkreten Ziele daraus für die
Bundesrepublik Deutschland abgeleitet werden könnten, ist nach unserer
Systematik erst auf der nächst folgenden (kontextualen) Ebene zu prüfen.
Die Regeln sollen sowohl als Leitorientierung für die weitere
Operationalisierung des Konzepts dienen als auch die Funktion von
Prüfkriterien haben, mit deren Hilfe nachhaltige und nicht-nachhaltige
Zustände in den verschiedenen Ländern ermittelt werden können. Dabei
wird im Gegensatz zur Enquete- Kommission zwischen äWas-Regeln? und
äWie-Regeln? unterschieden.
Die äWas-Regeln? beinhalten substantielle Mindestanforderungen an eine
nachhaltige Entwicklung, während die äWie-Regeln? den Weg zur Erfüllung
dieser Mindestanforderungen betreffen. Auch innerhalb dieser beiden
Gruppen sind die Regeln in ihrem Charakter unterschiedlich. So sind z
.B. die äWie- Regeln? der institutionellen Dimension auf einem
wesentlich höheren Abstraktionsniveau formuliert als die äW ie-Regeln?
der ökonomischen Dimension. Die äWas-Regeln? beinhalten teilweise
materielle Anforderungen (z.B. äErfüllung der Grundbedürfnisse? oder
äMöglichkeit einer selbständigen Existenzsicherung?), teilweise
betreffen sie prozedurale Anforderungen (z.B. ädie Nutzung der Umwelt
ist nach Prinzipien der Gerechtigkeit ... zu verteilen?).
Gemeinsam ist jedoch allen äWas-Regeln?, daß sie lediglich
Mindeststandards benennen, auf deren Gewährleistung alle Mitglieder der
globalen Gesellschaft, einschließlich der kommenden Generationen, einen
berechtigten Anspruch haben. Als ein Gerüst von Mindestanforderungen,
das auf dem Postulat der Gerechtigkeit beruht, umfaßt das
Nachhaltigkeitskonzept somit keineswegs die Summe aller wünschbaren
politischen, soz ialen und ökonomischen Ziele, sondern lediglich einen
äWohlfahrtssockel? (Birnbacher 1999). Dies bedeutet, daß es in allen
Dimensionen noch andere legitime und erstrebenswerte Ziele
3 Zur Grundstruktur des HGF-Ansatzes
52
gibt, deren Erfüllung nicht als konstitutiv für das Leitbild der
Nachhaltigkeit angesehen wird. Eine rationale Politik müßte darauf
ausgerichtet sein, die Einhaltung der essentiellen Mindestanforderungen
zu garantieren und gleichzeitig im Bereich der darüber hinausgehenden
konkurrierenden Ziele gesellschaftlich tragfähige Kompromisse zu finden.
Ausgehend von dem äminimalistischen? Charakter des hier entwickelten
Nachhaltigkeitskonzepts wird unterstellt, daß die Regeln im Prinzip alle
gleichzeitig erfüllbar sind. Mit diesem zunächst nur als
Arbeitshypothese formulierbaren Anspruch ist vor allem gemeint, daß die
Regeln immer in ihrer Gesamtheit zu sehen sind. Jede Regel kann also nur
in den Schranken der anderen Gültigkeit haben, wobei ein äKernbereich?
bestehen muß, der nie mißachtet werden darf (vgl. dazu Bartholomäi 1997,
S. 89). So kann z.B. die Forderung, für alle Menschen das
Existenzminimum zu gewährleisten, in Abhängigkeit von dem jeweiligen
nationalen Kontext höchst unterschiedlich interpretiert werden, in ihrem
essentiellen Kernbereich gebietet sie aber nur, daß zumindest das
Überleben aller gesichert ist. Die Forderung der gleichzeitigen
Einhaltbarkeit stellt somit eine begrenzende Bedingung für die weitere
Ausdifferenzierung der Regeln auf der kontextualen Ebene dar.
Darüber hinaus impliziert die unterstellte grundsätzliche Vereinbarkeit
der Regeln keineswegs, daß sie sich gegenseitig in positiver Weise
verstärken und somit gleichsam automatisch zu äWin-Win-Situationen?
führen werden. Das zwischen den Mindestanforderungen bestehende
Konfliktpotential soll nicht geleugnet werden, wobei Zielkonflikte auf
mehreren Ebenen denkbar sind. Zunächst ist nicht auszuschließen, daß
aufgrund der konkreten Entwicklung eine gleichzeitige Einhaltung der
Regeln, selbst in ihrem essentiellen Kernbereich, prinzipiell nicht mehr
möglich ist. So könnte es z.B. eine ungebremste Bevölkerungsentwicklung
unmöglich machen, die Grundbedürfnisse der Weltbevölkerung zu
befriedigen, ohne die ökologischen Nachhaltigkeitsregeln zu verletzen.
Auf der kontextualen Ebene sind verschiedenartige Nutzungskonflikte
denkbar, die etwa das Gebot äLandschaften von besonders
charakteristischer Eigenart und Schönheit zu erhalten? in Konflikt
geraten lassen z.B. mit der Forderung nach selbständiger
Existenzsicherung. Wie mit solchen Zielkonflikten umzugehen ist, müßte
noch weiter untersucht werden.19 Weitere Konfliktpotentiale werden sich
auf der strategischen Ebene ergeben, wenn es dar-
19 Ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma könnte darin bestehen, eine
Hierarchie der Mindestanforderungen aufzustellen, die festlegt, welcher
Regel im Konfliktfa ll Vorrang einzuräumen ist. Vgl. zu diesem Ansatz
etwa Küng 1996; Hubig 1999 .
3.5 Problemorientierung 53
um geht, die in den Regeln enthaltenen Nachhaltigkeitsforderungen in
konkrete Handlungsverpflichtungen für gesellschaftliche Akteure zu
übersetzen, also z.B. zu entscheiden, welchen Beitrag der Verkehr und
welchen Beitrag die Energiewirtschaft zur Realisierung eines nationalen
CO2-Minderungsziels beitragen soll.
Denkbar ist schließlich auch, daß die hier formulierten
Nachhaltigkeitsregeln in bestimmten Fällen in Widerspruch zu anderen,
außerhalb des Nachhaltigkeitskonzepts angesiedelten Zielsystemen stehen.
So wird z.B. die Einhaltung der Menschenrechte in ihrer Gesamtheit nicht
als spezifische Nachhaltigkeitsforderung angesehen, wohl aber als
unverzichtbare Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung. Wahrung
der Menschenrechte und nachhaltige Entwicklung werden als sich
wechselseitig bedingend betrachtet, ganz im Sinne des
Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, in dem es heißt: ähuman
rights and sustainable development are interdependent and mutually
reinforcing? (United Nations Development Programme 1998). Die als
Nachhaltigkeitsregel formulierte Forderung, die kulturelle Vielfalt zu
erhalten, wäre also am Maßstab der universell anerkannten Menschenrechte
zu messen und kann sicher im Hinblick auf bestimmte traditionelle
Praktiken (afrikanische Initiationsriten, Witwenverbrennung in Indien,
Blutrache etc.) keine Geltung beanspruchen. Die Einhaltung der
Menschenrechte bildet somit eine weitere begrenzende Bedingung für die
kontextuale Ausdifferenzierung der Regeln
3.5 Problemorientierung
Ergänzend zu dem beschriebenen analytisch-deduktiven, regel-bezogenen
Vorgehen wird in dem HGF-Vorhaben ein induktiver problem-orientierter
Ansatz verwendet werden. Dieser besteht im wesentlichen darin, die
aktuellen gesellschaftlich bzw. nachhaltigkeits-relevanten
Problembereiche zu selektieren, die dann im weiteren Verlauf der
Untersuchung bearbeitet werden. Damit wird der analytische Übergang von
der normativen und universellen zur kontextualen Ebene Deutschlands
vollzogen. In konsequenter Umsetzung des integrativen
Nachhaltigkeitsverständnisses muß sich die Suche nach relevanten
Problemen auf alle vier Nachhaltigkeitsdimensionen erstrecken.
Dem problemorientierten Ansatzes kommen im HGF-Konzept im wesentlichen
zwei Funktionen zu: Zum einen die eines komplexitätsreduzierenden
äFilters?, bezogen auf das umfassendere in den Regeln abgebildete
Themenspektrum. Mit Hilfe dieses Filters soll die nicht zuletzt aus
Gründen begrenzter Bearbeitungskapazitäten notwendige Einschränkung der
Analysekomplexität
3 Zur Grundstruktur des HGF-Ansatzes
54
durch die Auswahl relevanter Probleme erreicht werden. Zum anderen ist
die Funktion eines äScharniers? zwischen deduktivem und
induktiv-diskursivem Vorgehen bedeutsam, indem bei der Selektion
relvanter Probleme den in der Gesellschaft vorhandenen Einschätzungen
äzur Lage? Rechnung getragen wird.
Entsprechend diesen beiden Funktionen muß ein Phänomen zwei Kriterien
erfüllen, um als äNachhaltigkeits-Problem? gelten zu können: es muß eine
oder mehrerer der aufgestellten Nachhaltigkeitsregeln verletzen und
zugleich im gesellschaftlichen Diskurs als Nachhaltigkeitsproblem
eingestuft werden.
Die Notwendigkeit eines solchen aus Regel- und Problemorientierung
kombinierten Ansatzes läßt sich nach unserer Auffassung hinreichend mit
den Defiziten der denkbaren Alternativen begründen: Der Haupteinwand
gegen ein ausschließlich regelorientiertes Vorgehen besteht darin, daß
die Zahl der zu bearbeitenden Probleme ? aufgrund ihrer Definition als
Regelverstoß ? ohne zwischengeschalteten Filter zu umfangreich sein
würde. Demgegenüber würde eine ausschließliche Orientierung an schon
identifizierten Problemen insoweit eine Vernachlässigung des gerade im
Nachhaltigkeitskontext bedeutsamen Versorgegedankens darstellen, als
zwar latent existierende, jedoch noch nicht konkret als Problem
thematisierte Phänomene im Prinzip unberücksichtigt blieben.
Um die Filterfunktion dieser induktiven Vorgehensweise realisieren zu
können, sind Kriterien erforderlich, mit deren Hilfe über die
Nachhaltigkeits- Relevanz bestimmter äProbleme? entschieden werden kann.
In der Literatur wird eine Reihe solcher Kriterien genannt, die sich
entweder auf die Phänomene selbst oder auf den Umgang mit ihnen beziehen
(vgl. z.B. Dovers 1995 und 1996; Zürn/Take 1996; Bellebaum/Braun 1974).
Die wichtigsten sind nachfolgend aufgelistet:
? die Reichweite des Phänomens (bezogen auf die räumliche Ausdehnung,
die Anzahl der Betroffenen oder die bewirkten Folgeprobleme),
? die Schwere (hier wäre etwa zu fragen, ob bestimmte identifizierbare
Grenzen berührt oder überschritten werden),
? die Irreversibilität (insbesondere in bezug auf die Auswirkungen),
? die Dringlichkeit (wieviel Zeit bleibt nach dem vorhandenen Wissen für
Handlungen zur Problemlösung?) sowie
? die Bedeutung in der öffentlichen Diskussion.
Angesichts der globalen Perspektive des Nachhaltigkeitsleitbilds ?
bezogen sowohl auf die verschiedenen Ursache/Wirkungs-Zusammenhänge im
Hinblick
3.5 Problemorientierung 55
auf bestimmte Probleme als auch auf die Kooperationserfordernisse zur
Lö- sung solcher Probleme ? und der globalen Gültigkeit der formulierten
Nachhaltigkeits-Regeln ist es desweiteren erforderlich, den genannten
Kriterienssatz um entsprechende Komponenten zu ergänzen. Zwei solcher
Kriterien könnten sein:
? der Beitrag Deutschlands an der Entstehung eines Problems außerhalb
seiner Landesgrenzen bzw. die Betroffenheit Deutschlands von außerhalb
seiner Grenzen verursachten Problemen sowie ? die Möglichkeit
Deutschlands, zur Lösung von Problemen beizutragen.
Natürlich wird dieser Prozeß der Auswahl von Relevanzkriterien sowie von
relevanten Nachhaltigkeitsproblemen notwendigerweise wertenden Charakter
besitzen. Mit der Offenlegung der verwendeten Kriterien des
Auswahlprozesses soll jedoch für Außenstehende zumindest ausreichende
Transparenz und Nachvollziehbarkeit geschaffen werden.
In einem ersten Schritt lassen sich aus der natur-, sozial-,
wirtschafts- oder politikwissenschaftlichen Literatur, aus Berichten
nationaler und supranationaler Organisationen (z.B. Vereinte Nationen,
Weltbank usw.) sowie aus vorliegenden regierungsoffiziellen nationalen
und internationalen (Nachhaltigkeits-)Dokumenten Listen von bedeutsamen
bzw. immer wieder genannten Problemen ädestillieren?. Für den
sozioökonomischen Bereich umfaßt dies ? bezogen auf Deutschland ? u.a.
die Phänomene Arbeitslosigkeit, mangelhafte bzw. ungenügend
anpassungsfähige Bildungssysteme, Drogenprobleme oder die mangelnde
Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme. Bei Berücksichtigung
der globalen Verflechtungs-Kriterien erweitert sich diese Liste um
Armut, Unterernährung, mangelnde Gesundheitsversorgung, die
internationale Verschuldungskrise oder die Einkommensdisparitäten
zwischen Nord und Süd. Entsprechend wären für die ökologische Dimension
die Abfall- und Lärmproblematik, Grundwasserbelastung oder Waldsterben
bzw. Klimawandel, Rückgang der Artenvielfalt oder Abbau der Ozonschicht
zu nennen.
Anzumerken wäre hier, daß Phänomene wie Globalisierung,
Individualisierung, funktionale Differenzierung der Gesellschaft oder
Pluralisierung in den Listen fehlen. Als Begleiterscheinungen moderner
gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse werden sie in ihren Auswirkungen
sehr unterschiedlich bewertet (vgl. z.B. Dettling 1996; Strasser 1994;
Heidenreich 1996; Creydt 1994). Sie sind jedoch nach unserer Auffassung
eher als Ursachen für die übrigen Probleme zu sehen und an
entsprechender Stelle zu behandeln.
Als nächster Arbeitsschritt im Rahmen dieses Vorhabens ist vorgesehen,
aus diesen Listen unter Verwendung der genannten Kriterien die
relevanten Pro-
3 Zur Grundstruktur des HGF-Ansatzes
56
bleme auszuwählen, die im weiteren Verlauf des Vorhabens behandelt
werden sollen.
Grundsätzlich wird eine angemessene Umsetzung des problemorientierten
Vorgehens eine kontinuierliche Erhebung gesellschaftlicher
Problemwahrnehmungen und ihrer möglichen Veränderungen erfordern. Für
viele der aufgeführten Phänomene ist die Frage, ob sie als Problem
gesehen werden, wesentlich von Definitionen, Wahrnehmungen und
Bewertungen der gesellschaftlichen Akteure abhängig (vgl. z .B.
Schetsche 1996; Nowotny 1981; Lautmann 1981; Bohle 1981). Diese
äsozialen Konstruktionen? verändern sich erfahrungsgemäß über die Zeit,
sie unterliegen bestimmten äKarrieren? (vgl. Schetsche 1996). Die
Identifizierung von Problemen, die in einer Gesellschaft
Nachhaltigkeitsrelevanz besitzen, kann daher immer nur eine
Momentaufnahme sein, deren weitere Gültigkeit kontinuierlich zu
beobachten und zu überprüfen ist.
Das Wesen des integrativen Nachhaltigkeitsansatzes äußert sich im Rahmen
des problemorientierten Vorgehens vor allem darin, daß in allen
Dimensionen identifizierte Probleme prinzipiell gleichberechtigt
behandelt werden.
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
Die Debatte um nachhaltige Entwicklung hat den Blick auf den
Zusammenhang zwischen den wirtschaftlichen Tätigkeiten des Menschen und
der natürlichen Umwelt als einem endlichen, nicht wachsenden und
materiell abgeschlossenen Ökosystem gelenkt (vgl. Daly 1999, S. 16). Die
kumulativen Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf das System Erde
haben ein Ausmaß erreicht, das die Grenzen seiner Belastungsfähigkeit
deutlich werden läßt. Wie die Bundesregierung in ihrem Bericht äAuf dem
Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung in Deutschland? schreibt, ist
ämenschliches Leben und Wirtschaften an einen Punkt gelangt, an dem es
Gefahr läuft, sich seiner eigenen natürlichen Grundlagen zu berauben?
(BMU 1997a, S. 9).
Vor diesem Hintergrund fordert der Rat von Sachverständigen für
Umweltfragen (SRU) äeine Rückbindung der menschlichen Kulturwelt mitsamt
der Dynamik der sie bestimmenden Wirtschaft in das sie tragende Netzwerk
einer sich ebenfalls dynamisch auslegenden Natur? (SRU 1994, Tz. 36).
Die Anerkennung dieser Gesamtvernetzung oder äRetinität? stellt nach
Meinung des Rates eine Grundbedingung für die weitere Entwicklung der
Zivilisation, ja für deren weiteres Überleben dar. Wenn der Mensch seine
personale Würde als Vernunftwesen im Umgang mit sich selbst und anderen
wahren wolle, so müsse er sich der darin implizierten Verantwortung für
die Natur bewußt werden und die Retinität zum Prinzip seines Handelns
machen.
Nachhaltigkeit bedeutet demnach, die natürliche Umwelt so zu nutzen, daß
sie in ihren wesentlichen Charakteristika oder Funktionen langfristig
erhalten bleibt. Nur so kann das normative Postulat, kommenden
Generationen vergleichbare Chancen der Bedürfnisbefriedigung einzuräumen
wie der gegenwärtigen, erfüllt werden. Auch wenn die Unverzichtbarkeit
des Ressourcenschutzes im Interesse einer Erhaltung der natürlichen
Lebensgrundlagen der Menschheit unbestritten ist, gehen die Auffassungen
darüber, wie das künftigen Generationen zu hinterlassende ökologische
Erbe strukturiert sein muß, nach wie vor weit auseinander.
4.1 Zum Verhältnis Mensch ? Natur
Der Mensch ist Teil der natürlichen Ökosysteme und damit wie jedes
andere Lebewesen auf Güter und Leistungen der Natur, d.h. auf die
Funktionsfähigkeit natürlicher Kreisläufe und Wachstumsprozesse
angewiesen. Andererseits hat
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
58
der Mensch als kulturschaffendes Wesen die natürliche Umwelt seit
tausenden von Jahren gestalterisch geprägt und seinen Bedürfnissen
angepaßt (vgl. dazu ausführlich Knaus/Renn 1998, S. 37ff.).
Das Neuartige im Verhältnis Mensch-Natur, das mit dem Begriff des
äglobalen Wandels? umschrieben wird, liegt darin, daß sich menschliches
Handeln erstmals in der Geschichte auf die Umwelt als Ganzes auswirkt.
Wie der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale
Umweltveränderungen (WBGU) in seinem Jahresgutachten von 1996
hervorhebt, ist der Mensch äzu einem aktiven Systemfaktor von
planetarischer Bedeutung? geworden: Zivilisatorische Eingriffe wie der
Abbau von Rohstoffen, die Umlenkung von Stoffund Energieflüssen, die
Veränderung großräumiger natürlicher Strukturen und die kritische
Belastung von Schutzgütern verändern das System Erde zunehmend in seinem
Charakter. Dieser in seiner Geschwindigkeit einzigartige
Transformationsprozeß zwingt nach Ansicht des WBGU dazu, das Verhältnis
der Menschheit zu ihren natürlichen Lebensgrundlagen völlig neu zu
bestimmen (vgl. WBGU 1996, S. 3f.).
Im Rahmen dieser Neubestimmung kommt den Naturwissenschaften,
insbesondere der Ökologie, eine wichtige Rolle zu. Von ihnen werden
Antworten auf folgende Fragen verlangt: Auf welchen natürlichen
Gesetzmäßigkeiten beruht die langfristige Beständigkeit der Biosphäre?
Wie kommt es zu globalen Umweltveränderungen? Wie muß der Mensch
handeln, um negative Entwicklungen zu verhindern?
Für die Beantwortung dieser Fragen ist der Begriff der Belastbarkeit
oder äTragekapazität? von zentraler Bedeutung.20 Darunter ist die
Fähigkeit eines Ökosystems zu verstehen, äeinen bestimmten Grad an
(anthropogenen) Belastungen zu tolerieren, ohne daß seine
systemimmanenten oder vom Menschen geschaffenen Strukturen und
Funktionen verändert werden? (SRU 1994, Tz. 103 mit weiteren
Nachweisen). Das Ausmaß der Belastbarkeit hängt neben Art, Intensität
und Dauer der Belastung von der Elastizität oder äResilienz? des
betreffenden Systems ab. Ein wichtiger Grundsatz für die Ermittlung der
Belastbarkeit lautet: Je größer und damit komplexer das betrachtete
System ist, desto länger ist die Zeitspanne bis zur Reaktion auf eine
Belastung. Das Konzept der Tragekapazität ist eng verknüpft mit der
Sicherung der Leistungs- und Funktionsfähigkeit natürlicher
Ausgleichsmechanismen oder der Regenerationsfähig-
20 Nach Auffassung der Rates von Sachverständigen für Umweltfragen ist
die Belastbarkeit oder Tragekapazität ein geeigneter Maßstab für das
Regulationsvermögen von Ökosystemen innerhalb vom Menschen
überschaubarer Zeiträume und stellt von daher die wesentliche
ökologische Komponente im Rahmen einer Operationalisierung des Leitbilds
der Nachhaltigkeit dar (vgl. SRU 1994, Tz. 102).
4.1 Zum Verhältnis Mensch ? Natur 59
keit von Ökosystemen. Ökosys teme werden hier verstanden als funktionale
Wirkungsgefüge aus Lebewesen und unbelebten, sowohl natürlichen als auch
vom Menschen geschaffenen Bestandteilen, die untereinander und mit ihrer
Umwelt in energetischen, stofflichen und informatorischen
Wechselwirkungen stehen. Diese Wirkungsgefüge werden unter dem
Gesichtspunkt von zu erbringenden Leistungen oder Funktionen untersucht
(vgl. dazu SRU 1987, Tz. 14ff.).
Aufbauend auf der ursprünglich eher theoretisch orientierten Forschung
über Ökosystemfunktionen sind in den letzen Jahren zahlreiche Arbeiten
erschienen, die das Ziel verfolgen, ein Gerüst für die systematische
Analyse und Bewertung der funktionalen Beziehungen zwischen Mensch und
Umwelt zu liefern (vgl. u.a. de Groot 1992; Daily 1997; Costanza/Folke
1997; Costanza/Arge/de Groot et al. 1997).
De Groot definiert den Begriff der äUmweltfunktionen? als die Fähigkeit
natürlicher Prozesse und Komponenten, Güter und Dienstleistungen zur
Verfü- gung zu stellen, die der direkten und indirekten Befriedigung
menschlicher Bedürfnisse dienen (vgl. de Groot 1992, S. 7). Menschliche
Bedürfnisse werden dabei in zwei Kategorien unterteilt: physiologische
Bedürfnisse, wie z . B. der Bedarf an Sauerstoff, Wasser, Nahrung,
Wärme, körperlicher Gesundheit, und psychologische Bedürfnisse, wie etwa
mentales Wohlergehen, kognitive und spirituelle Erfahrung, Erholung, soz
iale Kontakte, sichere Zukunftsaussichten für heutige und kommende
Generationen. Im Hinblick auf die Befriedigung dieser Bedürfnisse werden
vier zentrale Umweltfunktionen21 unterschieden (vgl. ebd., S. 8, 15ff.):
Regelungsfunktion
Die Regelungsfunktion bezieht sich auf die Fähigkeit der Umwelt, die
essentiellen stofflichen, energetischen und biochemischen Prozesse des
Naturhaushalts aufrechtzuerhalten sowie die Folgen anthropogener
Eingriffe auszugleichen. Dazu gehören u.a. Abschirmung kosmischer
Strahlung, Regulierung des lokalen und globalen Klimas, Steuerung der
chemischen Zusammensetzung der Atmosphäre, Regelung des Wasserhaushalts,
Umsetzung von Sonnenenergie in Biomasse, Selbstreinigung der Gewässer,
Bodenbildung, Erosionsschutz durch
21 Diese Klassifikation stützt sich auf die umfangreichen
Forschungstätigkeiten über Umweltfunktionen im Kontext der Raumplanung,
die seit den späten 60er Jahren vor allem in den Niederlanden
durchgeführt wurden; vgl. etwa Ministe rie van Volkshuisvestingen
Ruimtelijke Ordening: Ein globales Modell für die räumliche Entwicklung
der Niederlande. 1978; Maarel/Dauvellier 1978; Braat et al 1979. Eine
Übersicht übe r d iese Arbeiten gibt de Groot 1992, S. 4f.
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
60
Vegetation, biologischer Abbau von Schadstoffen, Aufrechterhaltung
biologischer und genetischer Vielfalt.
Trägerfunktion
Die Umwelt stellt Raum, Fläche und Medium für menschliche Aktivitäten
wie Wohnen, landwirtschaftliche Nutzung, Energieumwandlung, Freizeit und
Erholung zur Verfügung.
Produktionsfunktion
Die Umwelt liefert die zur Befriedigung menschlicher
Elementarbedürfnisse notwendigen natürlichen Ressourcen wie Sauerstoff,
Wasser, Energie, Nahrungsmittel, Rohstoffe, genetisches Material, wobei
zwischen erneuerbaren und nicht-erneuerbaren Ressourcen zu unterscheiden
ist.
Informationsfunktion
Die Umwelt bietet dem Menschen die Möglichkeit ästhetischer,
spiritueller und religiöser Erfahrung, kultureller und künstlerischer
Inspiration, historischer Information sowie wissenschaftlicher und
erzieherischer Erkenntnis.
Diese Klassifikation ist in neueren Arbeiten weiter differenziert
worden, wobei zwischen äUmweltfunktionen? und äUmweltleistungen?
differenziert wird (vgl. Costanza/Arge/de Groot et al. 1997; Wood 1997).
Unter Umweltfunktionen werden Eigenschaften von Habitaten, biologischen
Systemen und Ökosystemprozessen verstanden, die zur Funktionsfähigkeit
des betreffenden Systems beitragen. Umweltleistungen betreffen dagegen
den Nutzen, den die menschliche Gesellschaft direkt oder indirekt aus
den Umweltfunktionen zieht, in Form von Gütern (z.B. Nahrung, genetische
Ressourcen) und Dienstleistungen (z.B. Klimaregulierung,
Schadstoffabbau).
Wie der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen in seinem
Umweltgutachten 1994 nachdrücklich betont, birgt das Konzept der
Umweltfunktionen, das zunächst als rein abstraktes Denkmuster zur E
rklärung ökosystemarer Prozesse galt, die Gefahr einer Überforderung der
Ökologie in sich. Weder die Umweltfunktionen noch das ökologische
Gleichgewicht oder die Tragekapazität könnten als rein beschreibende und
damit wertfreie Konzepte aufgefaßt werden (SRU 1994, Tz. 107). Daß
anthropogene Belastungen zu Veränderungen der Strukturen und Funktionen
von Ökosystemen führen können, sei ein naturwissenschaftlich
feststellbarer Sachverhalt. Ob solche Veränderungen jedoch positiv oder
negativ seien, bedürfe einer Bewertung, die letztlich nur auf der Basis
anthropozentrischer Zielvorstellungen getroffen werden könne (ebd., Tz.
104).
4.2 Zum Stand der Debatte 61
Mit diesem Hinweis auf die normative Komponente ökologischer
Schlüsselbegriffe macht der Rat deutlich, daß auch die
Operationalisierung der ökologischen Dimension nicht ohne
gesellschaftliche Abwägungsprozesse auskommt. Ein Ansatz, der das
ökologische Gleichgewicht oder die ökologische Stabilität als solche zum
Maßstab des Handelns erhebt, würde sich dem Vorwurf eines änaturalist
ischen Fehlschlusses? aussetzen.22 Daß etwas änaturwüchsig? so ist, läßt
nicht den Schluß zu, daß es auch ethisch geboten oder gesellschaftlich
akzeptabel ist (vgl. Birnbacher 1997). Die Erhaltung des Status quo ist
kein Wert an sich (vgl. Geddert-Steinacher 1995). Eine Beantwortung der
Frage, welches natürliche Erbe kommenden Generationen zu hinterlassen
ist, kann also nicht allein aus ökologischen Faktoren abgeleitet werden,
sondern erfordert die Entwicklung gesellschaftlicher Zielvorstellungen
über den sachlich, räumlich und zeitlich anzustrebenden Umweltzustand
(vgl. SRU 1994, Tz. 97, 129ff.).
4.2 Zum Stand der Debatte
Die Zielvorstellungen über den sachlich, räumlich und zeitlich
anzustrebenden Umweltzustand sind in der aktuellen Debatte nach wie vor
höchst umstritten. Zunächst geht es um die grundlegende Kontroverse
zwischen biozentrischen und anthropozentrischen Standpunkten, auf die
hier nicht näher eingegangen werden soll,23 da dem HGF-Projekt,
ausgehend von der Definition der Brundtland-Kommission, ein
anthropozentrischer Ansatz zugrunde liegt (siehe Kap. 3).
Die Frage, wie die ökologische Hinterlassenschaft strukturiert sein muß,
läßt sich jedoch auch aus anthropozentrischer Sicht nicht eindeutig
beantworten. Geht es nur darum, die essentiellen ökologischen Funktionen
zu erhalten, die das Überleben der menschlichen Spezies garantieren,
oder geht es darum, einen äzufriedenstellenden Lebensstandard? für eine
möglichst große Zahl von Menschen über einen möglichst langen Zeitraum
sicherzustellen? (vgl. dazu Tisdell 1983; Daly 1999) Der HGF-Ansatz
sieht das übergreifende Ziel einer nachhaltigen Entwicklung darin, die
langfristige Sicherung der natürlichen Lebens-
22 Aufschlußreich ist in diesem Kontext auch die äußerst kontroverse
Debatte um die Verankerung eines Staatsziels äUmweltschutz? im Grundgese
tz (vgl. dazu im Überblick Geddert- Steinacher 1995).
23 Vgl. dazu Krebs (Hrsg.): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tie
r- und ökoethischen Diskussion. Frankfurt a. Main 1997; SRU:
Umweltgutachten 1994, Tz. 52ff.
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
62
grundlagen mit einer globalen Verbesserung der ökonomischen und sozialen
Lebensbedingungen in Einklang zu bringen (siehe oben Kap. 1).
Eine Präzisierung der Zielsetzung verlangt eine Bewertung der Güter und
Leistungen der Natur. Die Frage, welchen Wert die Natur für den Menschen
hat, beschäftigt neben der Ökonomie vor allem die Philosophie bzw. die
ökologische Ethik. In der philosophischen Debatte wird zwischen
äEigenwerten? und äinstrumentellen Werten? unterschieden.
äInstrumenteller Wert? wird der Natur als Ausgangsbasis für die
Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zugeschrieben, äEigenwert?
bedeutet, daß die Natur bzw. bestimmte Teile der Natur um ihrer selbst
willen geschätzt werden, nicht unter dem Aspekt ihrer Nützlichkeit (vgl.
dazu ausführlich Krebs 1997).
Die Umweltökonomik ordnet die verschiedenen Werte der Natur den beiden
Kategorien äkonsumtive? und änicht-konsumtive? Werte zu (vgl. dazu
Seidl/Gowdy 1999; Döring 1998). äKonsumtive? Werte können direkt (z.B.
Nutzung von Naturprodukten, Freizeit- und Erholungswert der Natur) sein
oder indirekt (z.B. Regulierung biochemischer Kreisläufe,
Ersosionsschutz, Stabilisierung des Klimas, Abbau von Schadstoffen). Zur
den änicht-konsumtiven? Werten gehören der äOptionswert?, der sich aus
dem Offenhalten möglicher künftiger Nutzungen der Natur ergibt, der äEx
istenzwert?, der aus dem reinen Vorhandensein bestimmter natürlicher
Systeme (z.B. des tropischen Regenwaldes) resultiert, unabhängig von
einer persönlichen gegenwärtigen oder zukünftigen Nutzung, und der
äVermächtniswert?, der sich aus der Aufrechterhaltung gleicher
Handlungsmöglichkeiten für kommende Generationen ergibt. Auf die
Unterschiede zwischen der philosophischen und der ökonomischen
Klassifikation soll hier nicht näher eingegangen werden (vgl. dazu
Seidl/Gowdy 1999).
Aus ökonomischer Sicht ergibt sich der Gesamtwert der Natur aus der
Summe aller Kompensationsforderungen (Randall 1997). Ausgehend von der
Überlegung, daß die totale Vernichtung der Biospäre auch zur Auslöschung
allen menschlichen Lebens führen würde, ist dieser Wert offensichtlich
unendlich: Wenn das Naturkapital den Wert von Null annähme, würde auch
die menschliche Wohlfahrt den Wert Null haben, da eine Substitution der
Natur in ihrer Gesamtheit nicht möglich ist (vgl. Randall 1997; Gowdy
1997; Costanza/d'Arge/de Groot et al. 1997). Weitgehende Einigkeit
besteht darüber, daß die Frage nach dem Gesamtwert der Natur nicht
weiterführt, es aber gleichwohl sinnvoll ist zu fragen, welcher
Wertverlust sich durch marginale Veränderungen in der Quantität und
Qualität ökologischer Leistungen ergibt. Umstritten ist in diesem
Zusammenhang insbesondere, ob eine monetäre Bewer-
4.2 Zum Stand der Debatte 63
tung von Naturveränderungen überhaupt (a) durchführbar, (b) sinnvoll und
(c) ethisch vertretbar ist (vgl. dazu ausführlich Seidl/Gowdy 1999).
Mit der Bewertung eng verknüpft und ebenfalls umstritten ist die Frage,
ob für bestimmte ökologische Güter und Leistungen ein äfunktional
äquivalenter Ersatz? vorstellbar ist, oder in der Terminologie der
Ökonomie ausgedrückt, ob Elemente des natürlichen Kapitalstocks durch
künstliches Kapital ersetzt werden können. Jede Generation verfügt über
ein bestimmtes Produktivpotential, das sich aus verschiedenen Faktoren
zusammensetzt. Unterschieden werden:
? Naturkapital (unterteilt in Güter, Leistungen und Information); ?
Kultiviertes Naturkapital (Viehherden, Lachsfarmen, Wälder, Plantagen
etc.);
? Sachkapital (Maschinen, Anlagen, Geräte, Infrastruktur);
? Humankapital (personengebundene Fähigkeiten und Kenntnisse); ?
Wissenskapital (nicht personengebundenes ökonomisch relevantes Wissen);
? Sozialkapital (soziale Strukturen, Normen, Sanktionen, Traditionen)
(vgl. Serageldin/Steer 1994; Mohr 1997; Jamieson 1998; Ott 1999).
Nachhaltige Entwicklung verlangt generell, daß das in einer Generation
insgesamt vorhandene Kapital möglichst unversehrt an nachfolgende
Generationen weitergegeben wird. Dabei sind jedoch zwei grundsätzlich
verschiedene Alternativen denkbar: Einerseits könnte man fordern, daß
die Summe von künstlichem und natürlichem Kapital im Sinne eines
aggregierten Wertes konstant gehalten wird, andererseits könnte man
fordern, daß jede einzelne Komponente für sich unversehrt erhalten
bleiben muß. Der erste Weg ist sinnvoll, wenn man annimmt, daß
natürliches und künstliches Kapital austauschbar sind. Der zweite Weg
ist geboten, wenn man davon ausgeht, daß künstliches und natürliches
Kapital in komplementärer Beziehung zueinander stehen. Die erste
Position wird als schwache Nachhaltigkeit bezeichnet, die zweite als
starke Nachhaltigkeit (vgl. Daly 1999, S. 110ff.)
Anhänger der schwachen Nachhaltigkeit vertreten den Standpunkt, daß
natürliches Kapital durch künstliches ersetzt werden kann, sofern das
Wohlfahrtsniveau über die Zeit konstant bleibt (vgl. etwa Solow 1974;
Pezzey 1989; Radke 1995; Howarth 1995). Wohlfahrtseinbußen durch
Verminderung des Naturbestandes können durch eine Vermehrung von
Kapitalgütern menschlichen Ursprungs ausgeglichen werden. Unterstellt
wird bei dieser Position eine nahezu vollständige Substituierbarkeit von
natürlichem durch künstliches Kapital, so daß es letztlich unerheblich
sei, in welcher physischen Zusammensetzung der ererbte Kapitalbestand an
die nächste Generation weitergegeben wer-
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
64
de. Im Hinblick auf die Austauschbarkeit wird zwischen stofflicher,
funktionsorientierter und nutzenorientierter Substitution unterschieden
(vgl. dazu ausführlich Knaus/Renn 1998, S. 46ff.).
Vertreter der starken Nachhaltigkeit gehen demgegenüber davon aus, daß
menschlich produziertes Kapital und natürliches Kapital grundsätzlich
komplementär und daher nur sehr begrenzt austauschbar sind (vgl.
Wuppertal- Institut 1995; Daly 1999). Dementsprechend fordern sie, daß
die einzelnen Komponenten des gesellschaftlichen Produktivpotentials
gesondert betrachtet werden müssen. Im Hinblick auf den natürlichen
Kapitalstock wird außerdem verlangt, daß er in seiner Zusammensetzung,
also bezüglich seiner einzelnen Elemente (Klimafaktoren, Landschaften,
Biodiversität etc.), möglichst konstant gehalten werden soll. Innerhalb
der einzelnen Kapitalarten (und Unterarten) ist ein begrenzter Austausch
möglich. So kann z.B. der Verlust eines Waldes durch Wiederaufforstung
in einem anderen Gebiet ersetzt oder der Verbrauch von Erdöl durch
entsprechende Investition in erneuerbare Energien kompensiert werden.
Extreme Vertreter der starken Nachhaltigkeit wie etwa die äDeep
Ecologists? wollen jedoch auch diese Art der Substitution nicht
zulassen. Genutzt werden soll ihrer Auffassung nach nur, was nachwächst
oder sich erneuern kann, so daß jede Inanspruchnahme der nicht
erneuerbaren Ressourcen unterbleibt.24
Letztlich herrscht in der Debatte weitgehende Einigkeit darüber, daß
beide Extrempositionen nicht haltbar sind: Die Vorstellung einer nahezu
vollständigen Substituierbarkeit des natürlichen Kapitals verkennt, daß
jede wirtschaftliche Tätigkeit, selbst die Erhaltung künstlichen
Kapitals, auf Vor- und Nachleistungen der Natur angewiesen ist. Ein
völliger Verzicht auf Naturnutzung jenseits der vorgegebenen
Erneuerungsraten (dies entspricht der gängigen Forderung, von den Zinsen
des natürlichen Kapitals zu leben) würde dagegen bedeuten, daß das
vorhandene Potential an nicht erneuerbaren Ressourcen weder der heutigen
noch künftigen Generationen zur Verfügung steht (vgl. Haborth 1991;
Renn/Kastenholz 1996; Knaus/Renn 1998, S. 50)
Favorisiert wird daher von der Mehrheit der Ökonomen eine ämittlere?
Position, die Seregaldin/Steer als äsensible sustainability? bezeichnen.
Innerhalb dieser Position gibt es zwar wiederum unterschiedliche
Schattierungen (vgl. etwa Seregaldin/Steer 1994; Lerch/Nutzinger 1996;
Knaus/Renn 1998), dennoch lassen sich gemeinsame Grundprinzipen
ausmachen: Nachhaltigkeit verlangt hier in erster Linie, daß das
gesellschaftliche Produktivpotential als Summe aller Elemente
natürlichen und menschlichen Ursprungs nicht verrin-
24 Serageldin und Steer bezeichnen d iese Position als äabsurdly strong
sustainiability?.
4.3 Regeln für die ökologische Dimension 65
gert werden darf, wobei jedoch auch der Zusammensetzung der
Hinterlassenschaft eine gewisse Bedeutung zugemessen wird. Die Vertreter
dieser Position halten eine begrenzte Substitution von Naturkapital
durch künstliches Kapital für zulässig, sofern die grundlegenden
Funktionen der Natur (auch die immateriellen) erhalten bleiben. Die
Frage der Austauschbarkeit zwischen einzelnen Elementen des Natur-,
Sach- und Humankapitals kann ihrer Auffassung nach nicht a priori
entschieden werden, sondern hängt von den Umständen des konkreten
Einzelfalls ab.
Vorausgesetzt wird hierbei, daß zwischen den Bestandteilen des
künstlichen und des natürlichen Kapitalstocks zum Teil komplementäre und
zum Teil substitutive Bez iehungen bestehen (vgl. Knaus/Renn 1998, S.
52). Komplementarität wird für Umweltgüter unterstellt, für die es
keinen Ersatz geben kann, weil der Mensch ohne sie nicht überlebensfähig
wäre (Atemluft, Trinkwasser). Solche äessentiellen Ressourcen? sind zu
erhalten. Bei anderen ist zu fragen, inwieweit ihr Ge- oder Verbrauch zu
Nutzeneinbußen für kommende Generationen führt. Dies ist vermutlich
immer dann der Fall, wenn Bestandteile des natürlichen Kapitalstocks
irreversibel vernichtet werden.25 Eingriffe in die Natur, die nicht
wieder rückgängig gemacht werden können, stellen einen
unwiederbringlichen Verlust dar, der die Handlungsoptionen künftiger
Generationen unzulässig beschränkt.
Aus diesem Grund plädieren Vertreter dieser Position dafür, für jede
einzelne Kapitalart äkritische Grenzen? zu definieren, die eine
nachhaltige Entwicklung nicht unterschreiten darf, unabhängig davon, wie
hoch die Akkumulation bei anderen Kapitalformen ist. Solange es nicht
möglich ist, solche kritischen Grenzen exakt zu bestimmen, gebietet es
ihrer Auffassung nach das Vorsorgeprinzip, bei der Ausbeutung der
betroffenen Ressourcen Zurückhaltung zu üben (vgl. Serageldin/Steer
1994; Berrens/Brookshire/McKee/Schmidt 1998).
4.3 Regeln für die ökologische Dimension
In dem Bestreben, das Wissen um die Grenzen der Naturnutzung in
praktische Handlungsleitlinien umzusetzen, sind erstmals von Pearce und
Turner (1990)
25 Große Unsicherheiten bezüglich der Substituierbarkeit ergeben sich
vor allem aus der Tatsache, daß der potentielle künftige Nutzen des
natürlichen Kapitals in vielen Bereichen nicht abschätzbar ist. So kann
z.B. die Vernichtung einer bestimmten Art dazu führen, daß noch
unbekannte Quellen, etwa im Hinblick auf eine künftige medizinische Ve
rwe rtung, versiegen, bevor ihre Bedeutung überhaupt e rkannt worden ist
(vgl. Knaus/Renn 1998, S. 51).
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
66
sowie etwa zeitgleich von Daly (1991) äprinciples of sustainable
development? aufgestellt worden. Diese lauten:
? harvesting rates of renewable natural resources should not exceed
regeneration rates (sustainable yield), ? non-renewable resources should
be exploited no faster than the rate of creation of renewable
substitutes, ? waste emissions should not exceed the assimilative
capacities of the receiving environment.
Ergänzend zu diesen drei Handlungsleitlinien haben die genannten Autoren
noch zwei weitere Prinzipien formuliert. Gefordert wird zum einen, daß
die Bevölkerungsentwicklung (äphysical human scale?) an die T
ragekapazität der Erde angepaßt wird, zum anderen, daß der technische
Fortschritt zur Effizienzsteigerung und nicht zur Erhöhung des
Durchsatzes (äthroughput?) beitragen müsse. Wenn diese fünf Prinzipien
weltweit und von allen kommenden Generationen befolgt würden, so die
These der Autoren, blieben die essentiellen Funktionen der Umwelt für
den Menschen dauerhaft gewahrt.
In der Folgezeit sind vor allem die ersten drei Prinzipien, die den
Umgang mit der Natur betreffen, von fast allen Autoren, die sich mit
nachhaltiger Entwicklung befassen, aufgegriffen worden, während die
beiden anderen eher selten rezipiert wurden. Sie sind in vielfältiger
Weise ergänzt und modifiziert worden, ohne daß ihr grundsätzlicher
Aussagegehalt verändert worden wäre. Im deutschen Sprachraum hat sich
dafür der vielleicht nicht ganz zutreffende Begriff der äökologischen
Managementregeln? eingebürgert.26 Obwohl diese Managementregeln den
gemeinsamen Ausgangspunkt der meisten Nachhaltigkeitsstudien bilden,
sind deren Ergebnisse höchst verschieden, da die Regeln in sehr
unterschiedlicher Weise interpretiert werden können. Darauf wird in Kap.
4.4 ausführlich eingegangen.
Ein zentrales Problem bei dem Versuch, die Nutzungsmöglichkeiten der
Natur langfristig zu erhalten, liegt darin, daß der Zeittakt
menschlicher Eingriffe in die Natur, z.B. Verbrennen von Kohle, Gas,
Erdöl, und das Zeitmaß der Natur zur Regeneration der Ressourcen, z.B.
Aufbau fossiler Energieträger, weit auseinanderklaffen. Ausgehend von
dieser Erkenntnis hat die erste Enquete-Kommision äSchutz des Menschen
und der Umwelt? dem Kanon der ökologischen Managementregeln eine vierte
hinzugefügt, die fordert, ädaß an-
26 Wir benutzen im folgenden in Einklang mit der herrschenden
Sprechweise ebenfalls den Begriff äRegel?, obwohl unserer Ansicht nach
der Begriff äHandlungsmaxime? oder äLeitlinie? zutreffender wäre.
4.3 Regeln für die ökologische Dimension 67
thropogene Eingriffe in die Umwelt in einem ausgewogenen Verhältnis zu
dem Reaktionsvermögen der Umwelt stehen müssen?.
Mit der Einführung dieser Regel wollte sie deutlich machen, daß die
Umwelt kein statisches System ist und daß es sich bei der Unterscheidung
zwischen erneuerbaren und nicht erneuerbaren Ressourcen häufig nur um
die grobe Vereinfachung eines sehr komplexen Sachverhalts handelt. Die
Klassifizierung einer Ressource als erneuerbar oder nicht-erneuerbar
ergibt sich in erster Linie aus der Relation der sehr unterschiedlichen
Zeitskalen von (Neu-)Bildung bzw. Regeneration einer Ressource und ihrer
Nutzung (Enquete- Kommission 1994 S. 44). Nach Auffassung der Kommission
sind die vier Regeln nicht scharf voneinander abzugrenzen, sondern
müssen im Zusammenhang gesehen werden, wobei jeweils ein spezifischer
Aspekt als Verhaltensgebot beim Umgang mit Stoffströmen in den
Vordergrund rückt (ebd., S. 53).
Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen hat unter Bezugnahme auf
den anthropozentrischen Ansatz der Rio-Erklärung eine fünfte Regel
aufgestellt, die dem Vorsorgegrundsatz im Hinblick auf die menschliche
Gesundheit Ausdruck verleihen soll (SRU 1994, Tz. 12). Das
Umweltbundesamt hat diese Regel als Handlungsprinzip der Nachhaltigkeit
übernommen und im Hinblick auf die Umwelt erweitert. Gefordert wird,
äGefahren und unvertretbare Risiken für den Menschen und die Umwelt
durch anthropogene Einwirkungen zu vermeiden? (UBA 1997, S. 12).27
Die TA-Akademie Baden-Württemberg schließlich hat noch eine sechste
Regel formuliert, die sich auf den Umgang mit der Natur jenseits
wirtschaftlicher Notwendigkeit bezieht. In dieser Regel geht es nicht um
den Erhalt von Nutzungsmöglichkeiten für einen eventuellen späteren
Bedarf, sondern um sozial oder kulturell begründete Wertsetzungen.
Gefordert wird, daß äjede Gesellschaft oder auch Staatengemeinschaft die
Möglichkeit haben soll, im Konsens der Beteiligten Gegenständen aus der
Natur einen immanenten Wert zuzuschreiben? (Knaus/Renn 1998, S. 89). Vor
dem Hintergrund der schon existierenden Regeln schlagen wir folgende
Modifikationen und Ergänzungen vor:
27 Ähnl ich hat auch die Sachverständigen-Kommission zum
Umweltgesetzbuch das Nachhaltigkeitsprinzip in ß 4, Nr. 5 verankert:
äDer Schutz der Umwe lt und des Menschen ist auch in Ve rantwor tung für
die künftigen Generationen insbe sondere dadurch zu gewähr leisten, daß
Gefahren und Risiken für die Umwelt und den Menschen vermieden werden?
(UGB- KomE 1998).
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
68
Regel 1: Nutzung erneuerbarer Ressourcen
Die Nutzungsrate sich erneuernder Ressourcen darf deren
Regenerationsrate nicht überschreiten sowie die Leistungs- und
Funktionsfä- higkeit des jeweiligen Ökosystems nicht gefährden.
Regel 2: Nutzung nicht-erneuerbarer Ressourcen
Die Reichweite der nachgewiesenen28 nicht-erneuerbaren Ressourcen ist
über die Zeit zu erhalten.
Regel 3: Nutzung der Umwelt als Senke
Die Freisetzung von Stoffen darf die Aufnahmefähigkeit der Umweltmedien
und Ökosysteme nicht überschreiten.
Regel 4: Technische Großrisiken
Technische Großrisiken mit möglicherweise katastrophalen Auswirkungen
auf die Umwelt sind zu vermeiden.
Regel 5: Kulturelle Funktion der Natur
Kultur- und Naturlandschaften bzw. -landschaftsteile von besonders
charakteristischer Eigenart und Schönheit sind zu erhalten.
Regel 6: Verteilung der Umweltnutzung
Die Nutzung der Umwelt ist nach Prinzipien der Gerechtigkeit unter
fairer Beteiligung aller Betroffenen zu verteilen.
Regel 7: Schutz der menschlichen Gesundheit
Gefahren und unvertretbare Risiken für die menschliche Gesundheit durch
anthropogene Einwirkungen sind zu vermeiden.
Die von der ersten Enquete-Kommission aufgestellte Zeitregel wurde nicht
übernommen, da die Forderung, daß anthropogene Eingriffe in die Umwelt
in einem ausgewogenen Verhältnis zu dem Reaktionsvermögen der Umwelt
stehen sollen, bei einer strikten Einhaltung der ersten drei Regeln
bereits erfüllt wäre. Die Zeitregel ist daher eher als eine
Akzentuierung und Zusammenfassung der ersten drei Regeln aufzufassen,
die ihnen jedoch kein eigenständiges neues Gebot hinzufügt (ähnlich
Lerch/Nutzinger 1997, S. 17).
28 Unter änachgewiesenen Ressourcen? sind solche zu verstehen, die mit
den derzeit bekannten Technologien zu ökonomisch vertretbaren
Bedingungen abgebaut werden können .
4.4 Erläuterungen zu den Regeln 69
4.4 Erläuterungen zu den Regeln
Die beiden ersten Regeln sind ressourcenökonomischer Natur, beziehen
sich also auf die produktive Funktion der Natur. Im Hinblick auf die
Inanspruchnahme der Produktionsfunktion kommen verschiedenartige
Möglichkeiten in Betracht: der Mensch kann die Natur äanzapfen?
(Sonnenstrahlung, Wind, Wasser), äernten? (Fischfang, Forst- und
Landwirtschaft) und äabbauen? (Erze, Kohle, Erdöl). Die drei
Nutzungsarten sind mit unterschiedlich weitreichenden Eingriffen in
Natur und Landschaft verbunden. Problematisch aus der Sicht einer
nachhaltigen Entwicklung erscheint zunächst vor allem der Abbau
nichterneuerbarer Ressourcen sowie die rücksichtslose Ernte erneuerbarer
Ressourcen, da sie zu einer Reduktion des natürlichen
Produktivpotentials führen (vgl. dazu Arts 1994). Demgegenüber mindert
das Anzapfen zwar nicht den Bestand an Ressourcen, ist aber u.U.
ebenfalls mit negativen Auswirkungen auf die Umwelt verbunden (man denke
etwa an Wasserkraftwerke oder Windkraftanlagen). Die verschiedenen
Ansätze zur Auslegung der in Kap. 4.3 angeführten ressourcenökonomischen
Grundregeln tragen diesen Aspekten in unterschiedlichem Umfang Rechnung.
Regel 1: Nutzung erneuerbarer Ressourcen
Im Hinblick auf die erneuerbaren Ressourcen wird zunächst verlangt, daß
deren Nutzungsrate ihre Regenerationsrate nicht übersteigen darf. Der
Vollzug dieser Forderung setzt voraus, daß die Regenerationsraten der
sich erneuernden Ressourcen (Ackerböden, Wälder, Grundwasser,
Fischpopulationen etc.) bekannt sind und auf dieser Basis eine maximal
tragbare Nutzungsrate bzw. ein ämaximal dauerhafter Ertrag? (maximum
sustainable yield) festgelegt werden kann.
Für die Bestimmung dieses Maximums spielt, soweit es sich um lebende
erneuerbare Ressourcen handelt, das Kriterium des äsafe minimum
standard?, eine wichtige Rolle, das schon 1952 von dem
Ressourcenökonomen Ciriacy- Wantrup vorgeschlagen wurde und im Kontext
der Nachhaltigkeitsdebatte neue Bedeutung erlangt hat (vgl. u.a. Bishop
1978, 1980, 1993; Bishop/Woodward 1994; Randall 1997). Damit soll eine
für die Erhaltung der jeweiligen Spezies sichere Minimalpopulation
gewährleistet werden, die auch in genetischer Hinsicht langfristiges
Überleben und evolutionäre Weiterentwicklung erlaubt. Im Hinblick auf
gefährdete oder bedrohte Arten gebietet die Anwendung dieses Kriteriums,
jede anthropogene Dezimierung dieser Arten, auch im Rahmen ihrer
Regenerationsrate, zu unterlassen (vgl. Gowdy 1997). Diese Prinzip wird
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
70
heute zum Teil schon praktiziert. So hat z .B. die Internationale
Walfangkommission 1986 ein totales Fangverbot verhängt, das nach
Auffassung der Kommission so lange aufrechterhalten werden sollte, bis
die Walpopulation wieder auf einen festgelegten Prozentsatz ihres
ursprünglichen Bestandes angewachsen ist (vgl. Haborth 1991, S. 98).
Es wäre jedoch problematisch, den Umgang mit erneuerbaren Ressourcen
ausschließlich an der Nutzungsintensität zu orientieren. Auch eine
strikte Befolgung der Maxime, nicht mehr zu entnehmen als nachwächst,
könnte nicht ausschließen, daß z.B. infolge unsachgemäßer
Bodenbearbeitung (Monokultur, Bodenverdichtung etc.) die
Leistungsfähigkeit des betreffenden Ökosystems kontinuierlich abnimmt
und damit die natürliche Regenerationsrate sinkt (vgl. dazu u.a.
Unnerstall 1996, S. 248). Schon die erste Enquete-Kommission äSchutz des
Menschen und der Umwelt? hat daher nachdrücklich darauf hingewiesen, daß
die Frage der Nutzungsintensität nicht unabhängig von der Frage der
Nutzungsart zu beantworten sei. Es gehe letztlich darum, die
Voraussetzungen der Produktivkraft Natur in ihrem raum-zeitlichen
Verhältnis zu beachten (Enquete-Kommission 1994, S. 46). Die hier
vorgeschlagene Formulierung der Regel 1 versucht, diesem Zusammenhang
Rechnung zu tragen.
Das Gebot einer nachhaltigen Bewirtschaftung erneuerbarer Ressourcen ist
unserer Ansicht nach in einem weiten Sinne zu interpretieren. Es bezieht
sich somit nicht nur auf nachwachsende Rohstoffe im engeren Sinne,
sondern schließt den Bestandsschutz der biologischen Arten und ihrer
Vielfalt mit ein. Auch die biologische Vielfalt kann als eine
prinzipiell erneuerbare Ressource betrachtet werden, deren
verschiedenartige nutzenstiftende Funktionen es durch eine entsprechend
schonende Bewirtschaftung zu erhalten gilt (vgl. Suplie 1996). Die
Formulierung einer eigenen Regel zum Schutz der Biodiversität, wie sie
Rochlitz als Mitglied der zweiten Enquete-Kommission äSchutz des
Menschen und der Umwelt? in seinem Sondervotum vorgeschlagen hat (vgl.
Enquete-Kommission 1998, S. 224), ist daher unseres Erachtens nicht
erforderlich.
Zwar könnte man den Standpunkt vertreten, daß die Regel nur auf solche
Arten anzuwenden sei, die für den Menschen von direktem Nutzen sind,
während änicht nützliche? Arten ausgerottet werden dürften. Diese
Sichtweise wäre jedoch auch aus rein utilitaristischen Überlegungen
nicht haltbar, schon weil die Frage, welche Arten heute und in Zukunft
änützlich? und welche Arten änicht nützlich? sind, nach dem jetzigen
Stand des Wissens kaum entscheidbar ist. Der 1995 im Auftrag der UNEP
erstellte Bericht äGlobal Biodiversity Assessment? macht deutlich, daß
das Forschungsfeld Biodiversität nach wie vor durch große
Wissensdefizite geprägt ist. So bleibt vor allem unsicher, wieviele
4.4 Erläuterungen zu den Regeln 71
Arten tatsächlich auf der Erde existieren. Als vorläufigen Ausgangswert
nimmt der Bericht eine Artenzahl von 13-14 Millionen an, von denen
bisher nur rund 1,75 Millionen wissenschaftlich erfaßt sind (vgl. dazu
Suplie 1996). Der Bericht des World Watch Institute von 1999 weist
darauf hin, daß von den Pflanzenarten tropischer Regenwälder gegenwärtig
weniger als ein Prozent im Hinblick auf die möglicherweise in ihnen
enthaltenen Wirkstoffe chemisch untersucht worden sind (vgl. Tuxill
1999).
Vor diesem Hintergrund stellt jede Lebensform potentiell einen
zukünftigen, noch unbekannten Nutzen dar, vor allem im Hinblick auf die
Bereitstellung genetischer Ressourcen für den Agrar- und Pharmabereich.
Das (unwiederbringliche) Verschwinden einer Art bedeutet den Verlust
eines tatsächlichen oder potentiellen Nutzens, mit dem zugleich auch die
Möglichkeit evolutionärer Entwicklung verloren geht. Alle nachfolgenden
Generationen werden direkt oder indirekt davon betroffen sein (vgl. dazu
Arts 1994; Suplie 1996; Wood 1997; Birnbacher 1998; Becker-Soest 1998).
In Anbetracht der Ungewißheit über die mögliche künftige Nachfrage nach
biologischer Vielfalt und der Irreversibilität ihres Verlustes ergibt
sich die Notwendigkeit des Artenschutzes somit aus dem Wert, den das
Offenhalten zukünftiger Verfügbarkeit über diese natürlichen Ressourcen
darstellt. Dies wird in der aktuellen Debatte als äoptionaler Wert?
bezeichnet (vgl. Döring 1998).
Neben dem direkten und optionalen Wert biologischer Vielfalt rückt
zunehmend der indirekte Wert der Biodiversität zur Stabilisierung
ökosystemarer Prozesse in den Mittelpunkt des Interesses. Die Frage,
welche Bedeutung die organismische Vielfalt für die Aufrechterhaltung
der Biosphäre hat, kann zwar bis heute nicht eindeutig beantwortet
werden. Vorliegende Forschungsergebnisse lassen aber darauf schließen,
daß die Biodiversität einen signifikanten Einfluß auf verschiedene
Ökosystemprozesse hat, so z .B. auf die Pflanzenproduktivität, die
Bodenchemie, den Wasserhaushalt und den Abbau von Schadstoffen (vgl.
Schmid 1996). Aus welcher Anzahl von Organismen, welcher Variabilität
und welchen Interaktionen die Diversität zusammengesetzt sein muß, damit
Ökosysteme langfristig funktionieren, ist dagegen in den seltensten
Fällen bekannt (vgl. Seidl/Gowdy 1999). Unbestritten ist jedoch, daß die
abnehmende Vielfalt zu einer Störung der Ökosysteme führen kann, welche
die anthropogene Veränderung des Klimas und des Bodens noch
beschleunigt. Daraus haben führende Ökologen die Schlußfolgerung
gezogen, daß nach dem jetzigen Stand des Wissens noch keine andere
Empfehlung gegeben werden kann, als daß möglichst viele Rassen und Arten
als äVersicherungskapital? für die Zukunft erhalten bleiben sollten
(vgl. Schmid 1996).
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
72
Auch wenn man die prinzipielle Notwendigkeit, die Biodiversität zu
schützen, aufgrund der dargestellten Überlegungen29 akzeptiert, bleiben
Güterabwä- gungen unvermeidlich (vgl. Wolters 1995). So kann z.B. die
Pflicht zur Erhaltung der Artenvielfalt mit anderen Pflichten, wie der
Pflicht zur Erhaltung der menschlichen Gesundheit oder zur Abwehr von
Krankheiten, kollidieren. Eine Abwägung zwischen artenschützerischen und
anderen Interessen wird durch die beschriebenen ökologischen
Erkenntnisdefizite erschwert. Zwar mögen Ökologen und Ökonomen darin
übereinstimmen, daß der Gesamtwert allen nicht-menschlichen Lebens auf
der Erde unendlich ist, dies beantwortet aber nicht die Frage, welcher
Wertverlust durch die konkrete Vernichtung einer Art oder eines ganz
bestimmten Biotops entsteht.
Ein pragmatisches Verfahren zur Entscheidung unter den hier gegebenen
Bedingungen großer Unsicherheit und begrenzter wissenschaftlicher
Information wird in der schon erwähnten Methode des äsafe minimum
standard? (SMS) gesehen. Der sichere Mindeststandard beschreibt das Maß
an Naturschutz, welches das Überleben einer Art sichert (vgl. Randall
1997). Während traditionelle ökonomische Bewertungsverfahren versuchen,
den Nutzen einer Schutzmaßnahme im Einzelfall zu ermitteln, geht die
SMS-Methode von der Annahme aus, daß die Erhaltung der biologischen
Vielfalt a priori einen positiven Wert darstellt. Der sichere
Mindeststandard ist daher aufrechtzuerhalten, solange die
Alternativkosten (gemessen an dem entgangenen Nutzen in anderen
gesellschaftlich relevanten Bereichen) nicht unvertretbar hoch werden.
Die Beweispflicht wird dabei der Seite zugeschrieben, die gegen die
Einhaltung des sicherenen Mindeststandards votiert. Das Besondere des
Verfahrens liegt also vor allem in dieser Umkehr der Beweislast (vgl.
dazu ausführlich Randall 1997; Berrens/Brookshire/McKee/Schmidt 1998).
Unabhängig von den konkreten Bewertungsproblemen wird der Verlust an
biologischer Vielfalt, der sich weltweit rasant beschleunigt,
übereinstimmend als eines der gravierendsten globalen Umweltprobleme
eingeschätzt (vgl. Wilson 1988; Vitousek 1994; Heywood/Watson 1995;
Gowdy 1997). Der Begriff äBiodiversität? umfaßt gemäß der Definition in
Art. 2 der Biodiversitätskonvention ädie Vielfalt innerhalb der Arten
und zwischen den Arten sowie die Vielfalt der Ökosysteme?. Ausgehend von
dieser Definition läßt sich der Verlust an biologischer Vielfalt in drei
verschiedene Kategorien einteilen:
29 Neben den hier genannten anthropozentrisch begründeten Argumenten für
den Schutz der Biodiversität werden in der aktuellen Debatte noch
zahlreiche andere angeführt, die biozentrisch begründet sind. Aus
biozentrischer Sicht kommt der bio logischen Vielfalt ein intr insischer
Wert zu, aus der eine moralische Pflicht des Menschen zu ihrem Schutz
abgeleitet wird (vgl. dazu kritisch Wolters 1995).
4.4 Erläuterungen zu den Regeln 73
In der ersten Kategorien geht es um den Artenschwund, der u.a. auch auf
die gezielte Ausrottung bestimmter Arten durch den Menschen
zurückzuführen ist. Zwar ist das Aussterben von Arten eine natürliche
Begleiterscheinung der Evolution, in diesem Jahrhundert hat sich aber
die Aussterberate, die natürlicherweise bei etwa ein bis zehn Arten pro
Jahr liegt, nach wissenschaftlichen Schätzungen auf mindestens 1000
Arten pro Jahr erhöht. Es sterben sehr viel mehr Arten aus als neue
entstehen, und diese Entwicklung wird sich nach dem heutigen W
issensstand in den kommenden Jahren noch beschleunigen (vgl. Suplie
1996; Tuxill 1999).
Die zweite Kategorie betrifft die Abnahme der genetischen Vielfalt
innerhalb einer Art. Die Vielfalt der Genotypen wird als Voraussetzung
für Evolutionsfähigkeit und vielfach auch für Resilienz betrachtet: Eine
Art mit großer genetischer Vielfalt ist in der Regel robuster und
anpassungsfähiger als eine Art mit homogenem Genmaterial (vgl. Suplie
1996; Seidl/Gowdy 1999). Aufgrund der steigenden genetischen Konformität
innerhalb bestimmter Arten nimmt deren Reaktionsfähigkeit auf veränderte
klimatische und sonstige Umweltbedingungen dramatisch ab. Eine wichtige
Ursache für die Ausdünnung des Genpools wird, soweit es um die Nutztier-
und -pflanzenproduktion geht, in züchterischen Bemühungen gesehen, durch
die jeweils nur gewisse Eigenschaften einer Art optimiert werden sollen
(vgl. Suplie 1996; Tuxill 1999). äWildwachsende Verwandte? von
Nutztieren und -pflanzen werden daher auch weiterhin gebraucht werden
als Lieferant von Resistenz gegen Schädlinge, zur Erhöhung der
Widerstandsfähigkeit und für andere Merkmale. Daraus wird die
Schlußfolgerung gezogen, daß die globale Sicherheit der Welternährung
auch heute noch entscheidend von der Artenvielfalt naturbelassener
Regionen und traditioneller Landbautechniken abhängt (vgl. Wood 1997;
Tuxill 1999).
Die dritte Kategorie bezieht sich auf die weiträumige Vernichtung
natürlicher Habitate. Das Überleben vieler Arten hängt von der
Unversehrtheit ihrer Lebensräume ab, in denen verschiedene Organismen
nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten miteinander verbunden und voneinander
abhängig sind. Zentren der Artenvielfalt und somit wichtige Habitattypen
sind die tropischen Regenwälder, Savannen, Feuchtgebiete, Korallenriffe
und Mangrovenwälder. Habitatzerstörungen entstehen direkt durch
Urbanisierung, Industrialisierung und Landbewirtschaftung sowie indirekt
durch Übernutzung der natürlichen Ressourcen und Verschmutzung von
Wasser, Luft und Boden. Auch die globale Klimaveränderung und die
Zerstörung der stratosphärischen Ozonschicht beeinträchtigen die
Habitate vieler Arten (vgl. Suplie 1996; Schmid 1996; Tuxill 1999).
Während das Artensterben in bestimmten Habitattypen, insbesondere in
abgeschlossenen kleineren Lebensräumen wie Seen, Bächen und Flüssen be-
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
74
reits weit fortgeschritten ist, besteht über die Entwicklung der großen
Ökosysteme wie der tropischen Regenwälder und der Ozeane noch
Ungewißheit. Denn je größer ein bestimmtes Ökosystem ist, um so eher
können die darin lebenden Arten anthropogenen Umweltveränderungen
ausweichen. Wenn jedoch die Ausweichmöglichkeiten erschöpft sind und die
Belastung weiter zunimmt, kann es zu einem plötzlichen Massensterben
kommen (vgl. dazu Suplie 1996). Die Verschmutzung, Ausbeutung und
Fragmentierung von Habitaten wird daher als eine der größten Gefahren
für die Biodiversität betrachtet.
Angesichts dieser Entwicklung werden die traditionellen Strategien des
Natur- und Artenschutzes als unzureichend betrachtet. Frühere
Schutzabkommen bezogen sich auf einzelne Gefährdungsfaktoren, auf
spezielle akut bedrohte Arten oder auf bestimmte Gebiete; das Fundament
der biologischen Vielfalt blieb dabei ungeschützt (vgl. Suplie 1996).
Nach überwiegender Auffassung der Experten wird die Ausweisung von
Schutzgebieten zwar auch weiterhin sinnvoll und notwendig bleiben, der
großräumige Erfolg wird aber immer mehr davon abhängen, inwieweit es
gelingt, die Anstrengungen zur Erhaltung der Biodiversität in die
Landnutzung einzubeziehen. Gefordert wird, die Natur auf der gesamten
Fläche so gut wie möglich zu schützen. Dies impliziert vor allem eine
Agrarentwicklung, bei der die Vielfalt gestärkt und nicht geschwächt
wird (vgl. Schmid 1996; Suter et al. 1998; Schink 1998; Tuxill 1999).
Die Problematik eines reinen Schutzgebietskonzepts läßt sich am Beispiel
des äÜbereinkommens über Feuchtgebiete mit internationaler Bedeutung,
insbesondere für Wasser- und Wattvögel? (Ramsar-Konvention)
verdeutlichen. Die 1975 in Kraft getretene Konvention stellt
Feuchtgebiete wie Marschen, Moore, Sümpfe, Überschwemmungsgebiete,
Lagunen, Wattenmeere etc., die globale Bedeutung für den Erhalt der
Biodiversität besitzen, unter einen international geregelten Schutz. Das
Übereinkommen, das mittlerweile von 101 Staaten ratifiziert wurde, war
der erste multilaterale Vertrag, der den Schutz von Lebensräumen als
solchen zum Ziel hatte. Die wesentliche Schwäche der Konvention wird
darin gesehen, daß sie keine Handhabe bietet, schädliche Einflüsse, die
von außen auf die Feuchtgebiete einwirken, zu verhindern. Daraus zieht
der WBGU den Schluß, daß ein wirksamer Schutz der biologischen Vielfalt
nur gewährleistet werden kann, wenn Erhaltung und nachhaltige Nutzung
der Biodiversität nicht länger als Spezialproblem der Naturschutzpolitik
betrachtet, sondern als Querschnittsaufgabe in die Umwelt- und
Entwicklungspolitik integriert werden (vgl. WBGU 1997, S. 29).
Das Übereinkommen über die biologische Vielfalt
(Biodiversitätskonvention), das allgemein als ein entscheidender Schritt
auf dem Weg zu einer wirk-
4.4 Erläuterungen zu den Regeln 75
samen Artenschutzpolitik betrachtet wird, trägt dieser Einsicht
Rechnung. Während der traditionelle Artenschutz von einem begrenzten
lokalen oder sektoralen Ansatz ausging, liegt der
Biodiversitätskonvention erstmals ein umfassender und globaler Ansatz
zugrunde (vgl. Suplie 1996). Es handelt sich um eine
Querschnittskonvention, die einen allgemeinen Rahmen für die Erhaltungs-
und Schutzmaßnahmen der Staatengemeinschaft festlegt. Die
Biodiversitätspolitik der Einzelstaaten soll sich fortan an den drei in
Art.1 formulierten übergeordneten Prinzipien orientieren: (1) Erhaltung
der biologischen Vielfalt, (2) nachhaltige Nutzung ihrer Bestandteile
und (3) gerechte Teilhabe an den sich aus der Nutzung der genetischen
Ressourcen ergebenden Vorteile. Der Konvention, die 1992 in Rio
verabschiedet wurde und 1993 in Kraft trat, sind inzwischen mehr als 160
Staaten beigetreten.
Regel 2: Nutzung nicht-erneuerbarer Ressourcen
In Anbetracht des unendlich langen Zeithorizonts des
Nachhaltigkeitskonzepts (alle kommenden Generationen) stellt die Frage,
in welchem Umfang nichterneuerbare Ressourcen verbraucht werden dürfen,
im Grunde ein unlösbares Problem dar: Entscheidet man sich für den
Abbau, gehen die Ressourcen für spätere Generationen verloren,
entscheidet man sich gegen den Abbau, sind sie weder der gegenwärtigen
noch den künftigen Generationen, die dann wieder an das Abbauverbot
gebunden wären, von Nutzen. Entscheidet man sich für einen auch noch so
minimalen Teilabbau, nimmt man auf lange Sicht den künftigen
Generationen doch jede Nutzungsmöglichkeit (vgl. Harborth 1991, S. 97).
Um einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden, werden höchst
unterschiedliche Lösungen vorgeschlagen, je nachdem, ob ihre
Protagonisten eher zur Position der starken oder der schwachen
Nachhaltigkeit tendieren.
Das Wuppertal-Institut bekennt sich explizit zur Position der starken
Nachhaltigkeit: äJede Generation hat die Verpflichtung, kommenden
Generationen ein konstantes Naturkapital zu hinterlassen, unabhängig
davon, wie hoch die produzierten Wohlstandsleistungen sind?
(Wuppertal-Institut 1995, S. 13). Gefordert wird zwar nicht, daß jede
Inanspruchnahme nicht-erneuerbarer Ressourcen unterbleibt, wohl aber,
daß die Umsätze von Energie und Stoffen deutlich abgesenkt werden (vgl.
ebd., S. 18).
Mit dieser äUmsatz-Leitlinie? soll die Ressourcenentnahme als Quelle und
treibende Kraft heutiger und zukünftiger Umweltprobleme auf ein
verträgliches Maß beschränkt werden. Für den Verbrauch fossiler
Energieträger wird bis zur Mitte des nächsten Jahrhunderts eine
Reduktion um 80?90 Prozent angestrebt (vgl. ebd., S. 49). Die Nutzung
nicht-erneuerbarer abiotischer Primärrohstoffe
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
76
soll bis zur Mitte des nächsten Jahrhunderts global um 50 Prozent
gesenkt werden. Aufgrund des Kriteriums gleicher Nutzungsrechte für alle
Menschen (siehe oben Kap. 3.2) ergibt sich für Deutschland ein deutlich
höheres Reduktionserfordernis von 80 bis 90 Prozent, was einer Reduktion
um den Faktor fünf bis zehn entspricht (vgl. ebd., S. 52). Im Hinblick
auf die Substitution nichterneuerbarer Ressourcen durch erneuerbare
vertritt das Wuppertal-Institut den Standpunkt, daß dies allenfalls zu
einer geringfügigen Entlastung der Ökospäre führen würde, da auch der
An- und Abbau erneuerbarer Ressourcen mit Naturund Umweltbelastungen
einhergeht (vgl. ebd., S. 17, 51). Unter diesem Aspekt soll auch der
Lebenszyklus erneuerbarer Ressourcen in die Betrachtung einbezogen
werden.
Die Anhänger einer mittleren Position zwischen den Extremen der starken
und schwachen Nachhaltigkeit akzeptieren, daß auf die Nutzung
nichterneuerbarer Ressourcen nicht verzichtet werden kann, fordern aber
gleichzeitig, daß deren Verbrauch ausgeglichen wird. Das
Nutzungspotential des verringerten Bestandes muß dabei mindestens ebenso
groß sein wie das Nutzungspotential des ursprünglichen Bestandes. Dies
soll erreicht werden durch eine entsprechende Effizienzsteigerung bei
der Nutzung nicht-erneuerbarer Ressourcen und/oder durch eine
entsprechende Zunahme erneuerbarer Ressourcen bzw. eine entsprechende
Verbesserung der Technologien zu ihrer Nutzung. Mit der Perspektive
eines Zeitgewinns für den Übergang zu regenerierbaren Ressourcen wird
auch der Ersatz knapper, erschöpfbarer durch reichlich vorhandene, aber
ebenfalls nicht erneuerbare, Ressourcen als zumindest temporäre
Ausgleichsmaßnahme zugelassen (vgl. Lerch/Nutzinger 1996).
Die TA-Akademie Baden-Württemberg fordert im Hinblick auf
nichterneuerbare Energieressourcen dasselbe, stellt aber noch eine
zusätzliche Regel für den Umgang mit erschöpfbaren Ressourcen, die nicht
zur Energieumwandlung eingesetzt werden, auf: solche Rohstoffe können so
lange genutzt werden, wie es gelingt, sie in einen zumindest teilweise
geschlossenen Nutzungskreislauf zu überführen, d.h. solange sie mit
vertretbarem wirtschaftlichen Aufwand recycelbar sind (vgl.
Renn/Kastenholz 1996; Knaus/Renn 1998; S. 85f.).
In Ergänzung der Nutzungsregeln wird von manchen noch eine
Finanzierungsregel vorgeschlagen, die sich mit der Beschaffung der für
eine nachhaltigkeitsorientierte Politik notwendigen Mittel befaßt.
Danach müssen die Erträ- ge aus dem Einsatz nicht-erneuerbarer
Ressourcen dazu verwendet werden, alternative Technologien auszubauen,
die ausschließlich oder vorrangig auf erneuerbare Ressourcen
zurückgreifen (vgl. Hartwick 1978).
4.4 Erläuterungen zu den Regeln 77
Mit der von uns vorgeschlagenen Regel 2 wird ebenfalls eine mittlere
Position vertreten: gefordert wird nicht, daß das Naturkapital, sondern
daß die Reichweite der Ressourcen konstant bleibt. Um diese Regel in die
Praxis umzusetzen, müßte, bezogen auf einen Stichtag, für alle
relevanten nichterneuerbaren Ressourcen, ausgehend von der heutigen
Nutzungsrate und den heute nachgewiesenen Reserven, ihre Reichweite
bestimmt werden. Der so ermittelte Wert soll über die Zeit konstant
bleiben, was nur zu erreichen ist, wenn entweder
? auf den Verbrauch von Ressourcen teilweise verzichtet wird
(Suffizienz) oder
? die Ressourcenproduktivität erhöht wird (Effizienz) oder
? nicht-erneuerbare Ressourcen durch erneuerbare substituiert werden
(Konsistenz) oder ? neue Reserven erschlossen werden.
Da die Abbaurate vieler Rohstoffe heute noch durch die Erkundung neuer
erschließbarer Vorkommen ausgeglichen oder sogar überkompensiert wird,
erscheint die Regel auf den ersten Blick leicht erfüllbar, auch ohne daß
die Industrieländer ihren verschwenderischen Umgang mit
nicht-erneuerbaren Ressourcen ändern. Dazu ist jedoch anzumerken, daß
erstens aufgrund des Postulats der intragenerativen Gerechtigkeit eine
andere Verteilung der bisherigen Ressourcennutzung anzustreben ist
(siehe dazu Regel 7) und zweitens, daß die Erkundung neuer Ressourcen an
absolute Grenzen stößt. Die Erfüllung der Forderung wird daher über die
Zeit gesehen immer schwieriger werden. Die Reichweitenregel weist somit
nachdrücklich auf die Notwendigkeit einer sparsamen Inanspruchnahme der
nicht-erneuerbaren Ressourcen hin und eröffnet zugleich einen äsanften?
Weg, die Wirtschaftsweisen kontinuierlich an künftig knapper werdende
Reserven anzupassen.
Regel 3: Nutzung der Umwelt als Senke
Die dritte Regel bezieht sich auf die Erhaltung der reproduktiven
Funktion der Umwelt. Um die für den Menschen unentbehrlichen Regelungs-
und Trägerfunktionen dauerhaft zu gewährleisten, wird gefordert, daß die
anthropogenen Stoffeinträge die Aufnahmefähigkeit der Umweltmedien und
Ökosysteme nicht überschreiten dürfen.
Als absolute Höchstgrenze vertretbar wäre demnach ein Emissionsniveau,
bei dem keine irreversiblen Schäden, wo, wann und bei wem auch immer,
auftreten (vgl. Harborth 1991, S. 98). Zur Bestimmung dieses Niveaus
müßten die
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
78
Trage- und Regenerationskapazitäten der Ökosysteme für alle Arten von
Stoffeinträgen ermittelt werden. Fraglich ist jedoch, ob es nach dem
derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand überhaupt möglich ist, die
tolerierbaren Emissionsraten für alle erdenklichen Schadstoffe exakt zu
benennen. Wie der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen hervorhebt,
finden sich quantitative Ziele heute vor allem in den Bereichen Klima
und Versauerung, einige wenige auch im Bereich der Abfallwirtschaft, für
die meisten anderen Problembereiche liegen dagegen nur qualitative
Zielformulierungen vor (vgl. SRU 1998, Tz. 106).
Dazu kommt eine zweite Überlegung: Selbst wenn es möglich wäre, die
Trage- und Regenerationskapazitäten aller Ökosysteme bezüglich aller
relevanten Schadstoffe zu bestimmen, würde dies vermutlich zu einer
völligen Ausschöpfung der maximal zulässigen Emissionsraten führen.
Dadurch könnten nicht vorhersehbare synergistische oder
Kumulationseffekte auftreten, die wiederum genau die irreversiblen
Schäden zur Folge hätten, die durch das Konzept der
Höchstbelastungsraten gerade vermieden werden sollten. Aus diesen
Überlegungen werden wiederum höchst unterschiedliche Konsequenzen
gezogen.
Nach Auffassung des Wuppertal-Instituts sind die Grenzen, die eine
nachhaltige Entwicklung nicht überschreiten darf, auf der Grundlage des
Vorsorgeprinzips zu bestimmen. Schutzziele dürfen daher nicht so
formuliert werden, daß das Gesamtsystem gerade noch überleben kann,
sondern sollten sich im Sinne einer Risikominimierung an den
empfindlichsten Teilen des Systems orientieren: an ozonempfindlichen
Asthmatikern und Kindern ebenso wie an säureempfindlichen Waldböden
(vgl. Wuppertal-Institut 1995, S. 40). Ausgehend von der Überlegung, daß
der akute Druck auf die Umwelt zwar durch bestimmte Stoffemissionen
(Outputseite) ausgelöst wird, der eigentliche Grund der Umweltbelastung
aber in der Ressourcenentnahme (Inputseite) liegt, werden zwei
Zielkategorien unterschieden (vgl. ebd., S. 29f.). Auf der einen Seite
werden unter dem Aspekt der Gefahrenabwehr Ziele zur Reduktion
gesundheits- und umweltrelevanter Stoffemissionen (wie CO2, SO2, NOX,
NH3, VOC) aufgestellt, auf der anderen Seite wird unter dem Aspekt der
Vorsorge eine deutliche Verringerung der Stoff- und Energieumsätze
gefordert (äUmsatz- Leitlinie?). Als Schwellenwert für die Reduktion der
Stoff- und Energieumsätze wird ein ärisikoarmes Niveau? postuliert. Zur
Begründung wird zum einen angeführt, daß sich das Vorsorgeprinzip kaum
mit einem hohen Risiko für kommende Generationen vereinbaren ließe und
zum anderen, daß auf diese Weise auch die jeweils sensibelsten Bereiche
zuverlässig geschützt werden könnten (vgl. ebd., S. 18f.). Auf dieser
Basis werden konkrete Reduktionsziele
4.4 Erläuterungen zu den Regeln 79
für Energieträger und nicht-erneuerbare Rohstoffe festgelegt (siehe oben
die Erläuterung zu Regel 2)
Hintergrund für diese Orientierung an der Inputseite des
Wirtschaftsprozesses ist die These, daß unabhängig von der spezifischen
Belastung durch einzelne Stoffe allein die Mengen verwendeter Energie
und bewegter Stoffe das zentrale Problem darstellen. Der Lebensweg jedes
Produkts und jeder Dienstleistung sei mit Energie- und Stoffumsätzen
verknüpft, die Eingriffe in Natur und Landschaft erfordern und zu
entsprechenden Schäden führen (äökologische Rucksäcke?). Die bisherige,
vorwiegend auf Schadstoffkontrolle ausgerichtete Umweltpolitik habe,
trotz unbestreitbarer Teilerfolge, nicht verhindern können, daß sich die
Umweltsituation insgesamt eher verschlechtert hat. Selbst eine
schadstofffreie Wirtschaft würde nicht verhindern, daß Umweltprobleme
wie Zersiedlung, Landschafts- und Rohstoffverbrauch, Verlust der
biologischen Vielfalt, Bodenerosion, Wasserknappheit und wachsende
Abfallberge weiter zunehmen. Aus der Sicht des Wuppertal-Instituts wird
eine Politik der Schadstoffkontrolle dadurch nicht überflüssig, sie
müßte aber durch eine mengenorientierte Politik ergänzt werden (vgl.
ebd., S. 16f.).
Von den Kritikern dieses Ansatzes wird angeführt, daß eine solche, auf
pauschale Reduktion des Stoff- und Energieflußvolumens ausgerichtete
Nachhaltigkeitspolitik zu einer Lähmung aller wirtschaftlichen
Aktivitäten führen würde und daher nicht ökonomieverträglich sei (vgl.
Klemmer 1995; Pfister/Renn 1997). Als Hauptproblem dieses Ansatzes wird
die fehlende Möglichkeit betrachtet, Prioritäten nach Maßgabe der
potentiellen Wohlfahrtsverluste festzulegen. Die reine Mengenbetrachtung
lasse keine Differenzierung zu, obwohl die eingesparte Menge eines
Stoffes u.U. ganz anders zu beurteilen sei als die eingesparte Menge
eines anderen Stoffes. Der Ansatz des Wuppertal-Instituts liefere somit
keine Antwort auf die Frage, wie eine Gesellschaft ihre begrenzten
Mittel zur Reduktion von Umweltbelastungen einsetzen soll, um eine
bestmögliche Wirksamkeit zu erreichen (vgl. Pfister/Renn 1997, S. 20).
Das Konzept der TA-Akademie Baden-Württemberg fordert daher, die
Entscheidung über die Notwendigkeit einer Reduktion von den (sicheren
und unsicheren) Wirkungen abhängig zu machen (vgl. Renn/Kastenholz 1996;
Knaus/Renn 1998, S. 85ff.). Nach Ansicht der Akademie sind Belastungen
dort kategorisch zu vermeiden, wo sie entweder mit Sicherheit
menschliche Gesundheit schädigen oder den Erhalt von natürlichen
Regelsystemen (Kontinuität der lebenswichtigen Kreisläufe wie Wasser,
Kohlenstoff, Stickstoff u.ä.) gefährden.
Um der Politik Anhaltspunkte für die Grenzziehung zwischen akzeptablen
und nicht mehr akzeptablen Risiken zu geben, wird eine wirkungsbezogene
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
80
Prioritätenskala erstellt. Oberste Priorität hat dabei die Minimierung
humantoxikologischer Substanzen, vor allem dann, wenn sie biologisch gar
nicht oder nur über längere Zeiten abbaubar und in der Umwelt weit
verbreitet sind. In zweiter Priorität ist die Menge der Stoffe zu
begrenzen, die einen signifikanten Einfluß auf das globale Klima bzw.
die globalen Stoffströme haben. Dritte Priorität kommt der Reduktion
ökotoxikologischer Substanzen zu. In vierter Priorität soll der Einsatz
von Stoffen vermindert werden, die sich in der Umwelt anreichern, ohne
daß sie biologisch abgebaut werden, auch wenn toxische Wirkungen nicht
vermutet werden. Die reine Menge der Stoffströme wird im Konzept der
Akademie als wenig problematisch angesehen. Sie könne bestenfalls nach
Verwirklichung aller anderen Zielsetzungen als Indikator für nicht
vorhergesehene unwillkommene Wirkungen dienen. In letzter Priorität
sollen daher alle verbleibenden anthropogen ausgelösten Stoffströme so
weit wie möglich reduziert werden. Diese Prioritätenskala gibt keine
genaue Grenze an, von der ab Belastungen intolerabel sind, sondern
versteht sich lediglich als Basis für eine Prioritätensetzung im Rahmen
einer nachhaltigkeitsorientierten Umweltpolitik (vgl. Pfister/Renn 1997,
S. 20f.; Knaus/Renn 1998, S. 88).
Die Frage, ob die Operationalisierung der Managementregeln die
Aufstellung quantitativer Reduktionsziele erfordert oder ob qualitative
Richtungsvorgaben ausreichen, ist in der aktuellen Debatte höchst
umstritten. Nach Ansicht der TA-Akademie Baden-Württemberg ist es
äußerst fraglich, ob eine konkrete Grenze zwischen akzeptablen und nicht
akzeptablen Risiken festgelegt werden könne, auch wenn der Anspruch der
Gesellschaft, solche Grenzen zu ziehen, unangefochten bleibe. Das
Konzept der Akademie folgt daher der Maxime, daß diejenigen Stoffströme,
die nachweislich oder vermutlich zu negativen Auswirkungen auf die
Umwelt führen, über den Zeitablauf stetig verringert werden sollten.
Eine Grenze der Belastbarkeit wird dabei nicht postuliert, sondern
lediglich die Notwendigkeit der Reduktion (vgl. Pfister/Renn 1997, S.
22).
Auch andere Ökonomen plädieren für rein qualitative Richtungsvorgaben
mit dem Argument, daß es in Anbetracht des derzeitigen ökologischen
Kenntnisstandes gar nicht möglich sei, die notwendigen Reduktionsziele
für alle erdenklichen Schadstoffemissionen und Ressourcenverbräuche
exakt zu beziffern. Zum jetzigen Zeitpunkt sei es zudem wichtiger,
überhaupt Einsicht in die Notwendigkeit solcher Reduktionen zu wecken
und sich auf die ersten Schritte zu einigen, als über die Frage zu
streiten, ob der Verbrauch von Aluminium um 70, 80 oder 90% reduziert
werden müßte (vgl. Lerch/Nutzinger 1996; ähnlich auch Busch-Lüty 1995).
4.4 Erläuterungen zu den Regeln 81
Demgegenüber setzt sich das Umweltbundesamt mit Nachdruck für die
Formulierung möglichst konkreter Umweltqualitäts- und handlungsziele
ein. Ohne präzise, quantifizierte und meßbare Ziele sei der Versuch, das
Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung in die gesellschaftliche
Realität der Bundesrepublik Deutschland umzusetzen, zum Scheitern
verurteilt (vgl. UBA 1997, S. 32ff.). Umweltqualitätsziele sollen den
anzustrebenden Zustand der Umwelt charakterisieren (z.B. langfristige
Stabilisierung des Klimas) und sind an der Regenerationsrate wichtiger
Ressourcen, an der ökologischen Tragefähigkeit oder am Schutz der
menschlichen Gesundheit orientiert. Sie verbinden einen
naturwissenschaftlichen Kenntnisstand mit gesellschaftlichen Wertungen
über Schutzgüter und Schutzniveaus. Umwelthandlungsziele sollen dagegen
die zur Erreichung des angestrebten Umweltzustandes erforderlichen
Schritte angeben. Sie formulieren quantifizierte und meßbare oder
anderweitig überprüfbare Ziele, die sich an verschiedenen
Belastungsfaktoren orientieren und Vorgaben für die jeweils notwendige
Umweltentlastung enthalten (z.B. Reduktion der CO2-Emission bis zum
Jahre 2005 um 25% gegenüber 1990).
Auch der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen fordert die
Aufstellung konkreter Umweltqualitäts- und handlungsz iele. Da das
Nachhaltigkeitskonzept die globale Erhaltung und Verbesserung der
natürlichen Lebensgrundlagen anstrebt, wäre es aus seiner Sicht
grundsätzlich erforderlich, für alle Umweltbereiche Qualitätsziele zu
formulieren, nicht nur, um unerwünschte Belastungsverschiebungen
zwischen den verschiedenen Medien auszuschlie- ßen, sondern auch, um
eine systematische und transparente Prioritätensetzung zu gewährleisten.
In Anbetracht der notwendigen Komplexität eines solchen Systems, dem
sich daraus ergebenden, nicht zu bewältigenden Informationsbedarf und
der mangelnden Kenntnisse über Wirkungszusammenhänge, plädiert der Rat
jedoch aus pragmatischen Gründen zunächst für die Erarbeitung einer
überschaubaren Anzahl von Umweltqualitäts- und -handlungsz ielen. Diese
sollten sich auf die aus dem Blickwinkel der Nachhaltigkeit zentralen
Belastungssituationen konzentrieren (vgl. SRU 1998, Tz. 86ff.).
Der für das HGF-Verbundvorhaben favorisierte problemorientierte Ansatz
(siehe oben Kap. 4.5) folgt der vom SRU empfohlenen pragmatischen
Vorgehensweise. Die spezifischen Probleme bei der Operationalisierung
der Senkenregel werden allerdings erst auf der zweiten (kontextualen)
Ebene relevant werden, wenn es darum geht, konkrete ökologische
Qualitäts- und Handlungsziele für die Bundesrepublik Deutschland zu
formulieren.
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
82
Regel 4: Technische Großrisiken
In Anlehnung an die in Kap. 4.3 zitierte Regel des Umweltbundesamtes
wird hier explizit der Begriff des äRisikos? im Hinblick auf die Umwelt
eingeführt. Wir halten eine solche Heraushebung der Risikokomponente
menschlicher Eingriffe in die Natur in einer eigenen Regel für
erforderlich, weil diese in den drei ökologischen Managementregeln nur
unzureichend erfaßt ist. Zwar erfordert auch die Festlegung von
Grenzwerten für die Schadstoffbelastung der Umweltmedien und Ökosysteme
Risikoabwägungen. Diese orientieren sich jedoch in der Regel an einem
ästörungsfreien Normalbetrieb? und lassen die Möglichkeit einer
plötzlichen katastrophalen Freisetzung von Stoffen in großer Menge
weitgehend unberücksichtigt.
Schon der Bericht der Brundtland-Kommission hat dem Umgang mit Risiken
große Bedeutung für die Realisierung einer Politik der Nachhaltigkeit
zugemessen und die Einrichtung eines äglobalen Risikoprüfprogramms?
empfohlen. Nach Ansicht der Kommission wird die Zukunft (sogar eine
dauerhafte Zukunft) durch zunehmende Risiken gekennzeichnet sein. Dabei
versteht die Kommission unter Risiken nicht nur technologische Risiken,
sondern ebenso Naturkatastrophen und vom Menschen verursachte
Katastrophen sowie anthropogene Eingriffe, die zu irreparablen Schäden
an natürlichen Systemen führen, entweder regional (Wüstenbildung,
Entwaldung, Versauerung) oder global (Schädigung der Ozonschicht,
Klimaveränderungen). Im Interesse eines vorsorgenden Risikomanagements
fordert die Kommission eine kontinuierliche und systematische
Beobachtung, Datensammlung und Dokumentation von Erdveränderungen. Auf
dieser Basis sollten frühzeitige, objektive und qualifizierte Prüfungen
vorgenommen sowie Berichte über kritische Bedrohungen und Risiken für
die Weltgemeinschaft veröffentlicht werden (vgl. Hauff 1987, S. 317ff.).
Auch Edith Brown-Weiss betrachtet die Pflicht zur Minimierung von
Umweltrisiken als zentrales Element einer Nachhaltigkeitspolitik. Im
Gegensatz zur Brundtland-Kommission geht sie jedoch von einem engeren
Risikobegriff aus, der sich in erster Linie auf technologische Risiken
und Störfälle wie nukleare Katastrophen, Chemieunfälle, Ölunfälle etc.
konzentriert. Vorrangig bezieht sich die Pflicht zur Vermeidung auf
solche Unfälle, die signifikante grenzüberschreitende Auswirkungen auf
die Umwelt haben oder global zugängliche Umweltgüter bzw. wesentliche
Elemente des gemeinsamen natürlichen und kulturellen Erbes der
Menschheit schädigen könnten. Während im internationalen Umweltrecht
bisher die Vermeidung grenzüberschreitender Umweltbelastungen im
Vordergrund stand, muß nach Ansicht von Brown-
4.4 Erläuterungen zu den Regeln 83
Weiss der Schwerpunkt im Rahmen einer Nachhaltigkeitspolitik auf den
Schutz der wesentlichen Elemente des gemeinsamen natürlichen und
kulturellen Erbes der Menschheit gelegt werden, auch wenn sich diese
innerhalb nationaler Grenzen befinden. Die generelle Pflicht,
Umweltrisiken zu vermeiden, beinhaltet ihrer Auffassung nach drei
Aspekte: zum ersten ist die Eintrittswahrscheinlichkeit solcher Risiken
zu minimieren, zum zweiten ist das Ausmaß der potentiellen Schäden zu
minimieren und zum dritten ist für entsprechende internationale
Notfallmaßnahmen und -einrichtungen zu sorgen. Darüber hinaus besteht
die Verpflichtung zur finanziellen Kompensation eingetretener Schä- den,
wobei jedoch der Vorsorge eindeutig Priorität einzuräumen ist (vgl.
Brown-Weiss 1989, S. 70ff.).
Der WBGU hat sich in seinem Jahresgutachten 1998 ebenfalls mit der
Bewältigung globaler Umweltrisiken im Rahmen einer
Nachhaltigkeitspolitik befaßt. Darin werden die global relevanten
Risiken typisiert sowie Prioritäten für das Riskomanagement festgelegt.
Ähnlich wie die Brundtland-Kommission geht der WBGU von einem
weitgefaßten Risikobegriff aus, der sowohl Risiken, die aus natürlichen
Abläufen und Ereignissen resultieren, als auch solche, die durch
menschliche Aktivitäten entstehen oder verstärkt werden, umfaßt (vgl.
WBGU 1998, S. 6ff.). Diese Risiken werden nach folgenden Kriterien
klassifiz iert:
? Ungewißheit im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeitsverteilung von
Schä- den,
? Schadenspotential,
? Eintrittswahrscheinlichkeit,
? Persistenz und Ubiquität (räumliche und zeitliche Ausdehnung), ?
Reversibilität der potentiellen Schäden,
? Schwankungsbreite von Schadenspotential und
Eintrittswahrscheinlichkeit, ? soziales Konflikt- und
Mobilisierungspotential.
Je nach Risikotyp sollen angemessene und gleichzeitig praktikable
Vorgehensweisen und Begrenzungsinstrumente entwickelt werden. Wie in
früheren Gutachten des Bei r ats werden auch in Bezug auf Risiken
spezifische äLeitplanken? angegeben, bei deren Überschreitung
unverhältnismäßige Schäden für Mensch und Umwelt nicht auszuschließen
sind. Bei bestimmten Risiken erweitern sich diese Leitplanken zu einem
Grenzbereich im Sinne einer kritischen Zone. Fällt ein Risiko in diesen
Grenzbereich, dann sind spezielle Vorsorgemaßnahmen angebracht. Je
weitreichender die möglichen Folgen sind und je weniger
Kompensationsmöglichkeiten bestehen, desto wichtiger ist eine an
Vorsorgemaßnahmen orientierte Risikopolitik, um globale Katastrophen zu
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
84
vermeiden. Risiken, bei denen international hochbewertete Schutzgüter
betroffen oder bei denen globale Auswirkungen zu erwarten sind,
erfordern aus der Sicht des WBGU ein Management auf globaler Ebene.
Ausgehend von dem Umstand, daß eine Auseinandersetzung mit den Risiken
des globalen Wandels zu einem großen Teil schon bei der
Operationalisierung der ökologischen Managementregeln erfolgen muß,
gehen wir in Anlehnung an Brown-Weiss von einem enger gefaßten
Risikobegriff aus, der sich auf technische Großrisiken beschränkt. Die
hier formulierte Regel gebietet insbesondere im Hinblick auf
Technologien, die Risiken mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit und
hohem Schadenspotential bergen, nach behutsameren, weniger
tiefgreifenden, fehlertoleranten und möglichst rückholbaren Alternativen
zu suchen.
Regel 5: Kulturelle Funktion der Natur
Die bisher aufgestellten Nachhaltigkeitsregeln ergeben sich aus dem
Prinzip praktischer Vernunft, so zu sagen als ein selbstverständliches
Gebot der Klugheit: Ausgehend von dem Gedanken einer universalen
Menschheit (unter Einschluß kommender Generationen) werden
Handlungsmaximen für den Umgang mit der Natur formuliert, deren
Befolgung sicherstellen soll, daß die essentiellen ökologischen
Voraussetzungen künftigen menschlichen Lebens und Wirtschaftens erhalten
bleiben (vgl. Lerch/Nutzinger 1996; Jelden 1994).
Ein ausschließlich auf die ä lebenserhaltende Bedeutung? der Natur
ausgerichtetes Nachhaltigkeitskonzept würde jedoch die
älebensbereichernde Bedeutung? der Natur außer Acht lassen. Das
normative Postulat, kommenden Generationen vergleichbare Möglichkeiten
der Bedürfnisbefriedigung einzuräumen wie der heutigen, kann sich daher
nicht nur auf die direkte Inanspruchnahme der Natur als
Rohstofflieferant und Senke für Schadstoffe (instrumenteller Wert)
beschränken, sondern muß die Natur als Gegenstand kontemplativer,
spiritueller, religiöser und ästhetischer Erfahrung (inhärenter Wert)
mit einschließen (vgl. dazu Birnbacher/Schicha 1996; Knaus/Renn 1998).
Mit der Formulierung einer Regel zur kulturellen Funktion der Natur wird
also keineswegs der anthropozentrische Ansatz des
Nachhaltigkeitskonzepts in Frage gestellt, sondern lediglich die vielen
Arbeiten zugrundeliegende rein instrumentelle Sichtweise verlassen.
Der Eigenwert der Natur leitet sich ab aus dem Wert, den die
Naturerfahrung für den jeweiligen Betrachter hat. Die Verpflichtung zum
Schutz der Natur ist somit den Betrachtern der Natur geschuldet, nicht
der Natur selbst. Gegenstand einer solchen Wertzuschreibung kann nicht
die äNatur an sich? sein,
4.4 Erläuterungen zu den Regeln 85
sondern immer nur bestimmte Objekte, Bereiche oder Zustände der Natur
(vgl. dazu Birnbacher 1998; Seel 1997; Krebs 1997).
Ausgehend von der in Kap. 3 dargestellten Grundstruktur des HGF-
Ansatzes wird hier wiederum nur eine Mindestbedingung für den Erhalt der
kulturellen Funktion der Natur formuliert. Gefordert wird, daß
Landschaften bzw. Landschaftsteile von besonders ächarakteristischer
Eigenart und Schönheit? erhalten bleiben müssen. Da eine Beantwortung
der Frage, welche Natur als besonders äschön? oder ächarakteristisch?
empfunden wird, an die Subjektivität der Betrachter gebunden ist, kann
die Auswahl der zu schützenden Objekte nur in diskursiven Prozessen
vorgenommen werden. Hierbei sind verschiedene Vorgehensweisen denkbar.
In Anlehnung an die Ramsar-Konvention von 1975 oder an das Übereinkommen
der UNESCO zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Menschheit von 1972
könnte man sich zunächst eine internationale Vereinbarung vorstellen,
die Natur- und Kulturlandschaften von globalem Rang unter Schutz stellt.
Die Unterzeichnerstaaten würden sich in diesem Fall verpfl ichten, die
in der Konvention festgelegten Ziele und Anforderungen zu befolgen.
In Anlehnung an Birnbacher könnten z.B. folgende Kriterien für die
Schutzwürdigkeit von Landschaften oder Landschaftsteilen herangezogen
werden:
? die Zerstörung würde einen irreversiblen Verlust für kommende
Generationen darstellen, ? eine Zerstörung könnte nur mit erheblichem
Aufwand wieder rückgängig gemacht werden,
? es handelt sich um besonders seltene Naturphänomene,
? eine Landschaft wurde in ihrer ursprünglichen oder historisch
gewachsenen Form von vielen vorhergehenden Generationen als wertvoll
angesehen (vgl. Birnbacher 1998).
Im Gegensatz zu diesem von der internationalen Ebene, quasi ävon oben?
ausgehenden Naturschutz schlägt die TA-Akademie Baden-Württemberg, die
bisher als einzige eine Regel zum Umgang mit der Natur jenseits
wirtschaftlicher Notwendigkeit formuliert hat, einen anderen Weg vor.
Sie fordert, daß jede Gesellschaft die Möglichkeit haben soll, äim
Konsens der Beteiligten? Gegenständen aus der Natur einen immanenten
Wert zuzuschreiben. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, daß die
Naturwahrnehmung und -bewertung in hohem Maße durch den kulturellen
Kontext geprägt wird. Aus der jeweiligen Tradition entwickelte
symbolische Zuordnungen, Sitten, Bräuche und Assoziationen, die mit
bestimmten Lebewesen oder Landschaftsmerkmalen verbunden sind,
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
86
bestimmen die Entscheidung über deren Schutzwürdigkeit. Die Akademie
spricht sich deshalb für einen Naturschutz ävon unten? aus (vgl.
Knaus/Renn 1998, S. 89).
Aus unserer Sicht müßten sich beide Optionen ergänzen. Einerseits sollte
das änaturhistorische Erbe? der Menschheit im Interesse der kommenden
Generationen unter einen internationalen Schutz gestellt werden,
andererseits sollte jeder lokalen Gesellschaft die rechtlich
abgesicherte Möglichkeit eingeräumt werden, aus ihrer Sicht
schutzwürdige Objekte zu erhalten.
Regel 6: Verteilung der Umweltnutzung
Die bisher formulierten Regeln für den Umgang mit der Natur sind in
erster Linie an dem Postulat der intergenerativen Gerechtigkeit
orientiert: Kommende Generationen sollen vergleichbare Möglichkeiten der
Naturnutzung haben, wie sie der heutigen Generation zur Verfügung
stehen. Die Regeln schränken also die Freiheit der heute lebenden
Menschen, sich die Natur anzueignen, im Interesse der Nachwelt ein,
sagen aber nichts darüber aus, wie die verbleibenden
Nutzungsmöglichkeiten innerhalb der heutigen Generation verteilt werden
sollen (intragenerative Gerechtigkeit).
Für die Frage einer gerechten Verteilung ist zunächst zwischen globalen
öffentlichen Umweltgütern (z.B. Erdatmosphäre, Wasser) und solchen
natürlichen Ressourcen zu unterscheiden, an denen bereits in großem
Umfang private Eigentums- oder Verfügungsrechte bestehen (z.B. Kohle,
Öl, genetische Ressourcen). Was die zweite Gruppe anbetrifft, ist ein
weltweiter politischer Konsens über eine Neuverteilung oder Umverteilung
schwer vorstellbar (vgl. Rennings 1999). Zu fordern wäre aber, daß die
Besitzer solcher Ressourcen, seien es nun private Personen, soziale
Gruppen oder große gesellschaftliche Verbände, niemand vom Zugang zu
diesen Ressourcen ausschließen und daß sie diese ? im Interesse
kommender Generationen ? nachhaltig bewirtschaften (vgl. Koller 1995).
Im Hinblick auf die globalen öffentlichen Güter, an denen keine privaten
Besitz- oder Verfügungsrechte bestehen, ergeben sich andere
Konsequenzen. Das Wuppertal-Institut ist mit seiner Forderung, daß
innerhalb einer Generation die gleichen Pro-Kopf-Nutzungsrechte an den
globalen Umweltgütern gewährleistet sein sollen, auf heftige Kritik
gestoßen. Bemängelt wurde, daß bei einer Verteilung nach dem
Egalitätsprinzip klimatische, naturräumliche und landschaftliche, aber
auch kulturell bedingte Unterschiede in den Verbrauchsgewohnheiten nicht
berücksichtigt würden.
4.4 Erläuterungen zu den Regeln 87
Dennoch besteht heute weitgehend Konsens darüber, daß die
Gleichverteilung der Nutzungsrechte zumindest den Ausgangspunkt der
Überlegungen darstellen müßte. Danach wäre zu fragen, aufgrund welcher
Umstände im Einzelfall eine Abweichung von der Gleichverteilung
gerechtfertigt sein könnte. Der Philosoph Peytong Young (1995) hat drei
Formen legitimer Ungleichverteilung identifiziert:
? Verteilung nach Bedürfnissen (jeder erhält, was er braucht),
? Verteilung nach Leistung (jeder erhält, was er verdient),
? Verteilung nach Zuschreibung (jeder erhält, was die Gesamtheit der
Nutznießer als angemessen ansieht).
Der Aushandlungsprozeß kann also, ausgehend von dem Prinzip der
Gleichverteilung, im Ergebnis auf eine Kombination unterschiedlicher
Gerechtigkeitsvorstellungen hinauslaufen (vgl. dazu ausführlich
Knaus/Renn 1998, S. 64ff.).
Je weniger es möglich ist, ein generelles Prinzip für eine gerechte
Verteilung der Umweltnutzung aufzustellen, um so mehr rücken die
prozeduralen Garantien, die auf einen ausgewogenen Prozeß der
Entscheidungsfindung zielen, in den Vordergrund. Eine unverzichtbare
Voraussetzung für das Zustandekommen eines von allen akzeptierbaren
Resultats bildet daher die Gewährleistung prozeduraler Gerechtigkeit,
insbesondere, was die pluralistische Besetzung der Entscheidungsgremien,
die faire Repräsentation der unterschiedlichen Parteien sowie die
Transparenz der Verfahren anbetrifft.
Regel 7: Schutz der menschlichen Gesundheit
Die bisher aufgestellten Regeln beziehen sich auf die Inanspruchnahme
der Natur durch den Menschen. Sie sollen sicherstellen, daß die
wesentlichen Funktionen der Umwelt dauerhaft gewahrt bleiben, unter
Zugrundelegung fairer Nutzungsmöglichkeiten für alle Menschen.
Methodisch unberücksichtigt bleibt dabei ein anderer, im Konzept der
nachhaltigen Entwicklung mit angelegter und nicht minder wichtiger
Aspekt, nämlich der Schutz der Gesundheit und des Lebens jedes einzelnen
(vgl. SRU 1994, Tz. 12).
Schon im Brundtland-Bericht wird für alle Menschen ein äGrundrecht auf
eine Umwelt, die ihrer Gesundheit und ihrem Wohlergehen angemessen? ist,
postuliert (Hauff 1987; S. 387). Ebenso ist in den meisten Verfassungen
der westlichen Welt ein Grundrecht auf äkörperliche Unversehrtheit?
enthalten. Im deutschen Umweltrecht wird diesem Aspekt vor allem durch
das Vorsorgegebot Rechnung getragen, bei dem der Schutz des Menschen vor
stoffbezogenen
4 Operationalisierung der ökologischen Dimension
88
Risiken im Vorfeld der Gefahrenabwehr im Mittelpunkt steht. Das
Vorsorgegebot erweist sich somit nach Ansicht des Rates von
Sachverständigen für Umweltfragen als geeigneter Ansatz, das Leitbild
der nachhaltigen Entwicklung im Hinblick auf den Schutz der menschlichen
Gesundheit zu konkretisieren (vgl. SRU 1994, Tz 12). Die hier
aufgestellte Regel übernimmt die vom SRU vorgeschlagene Formulierung.
Im Gegensatz zu der vom Umweltbundesamt vorgeschlagenen Fassung, die das
Gebot der Vermeidung von Gefahren und unvertretbaren Risiken bezüglich
der menschlichen Gesundheit und bezüglich der Umwelt in einer Regel
zusammenfaßt, halten wir es für sinnvoll, zwei getrennte Regeln zu
formulieren. Dem liegt die Überlegung zugrunde, daß Gefahren und Risiken
für die menschliche Gesundheit u.U. durch andere Stoffe hervorgerufen
werden (z.B. durch Stoffe mit teratogener, mutagener oder endokriner
Wirkung), die zu ihrer weiteren Operationalisierung auch anderer
Indikatoren bedürfen, als dies im Hinblick auf die Umwelt der Fall ist.
5 Operationalisierung der sozialen Dimension
Während in der ökologischen Dimension Handlungsleitlinien (äRegeln?)
abgeleitet werden können, indem man das Postulat der intergenerativen
Gerechtigkeit mit der Endlichkeit der Quellen- bzw. Senkenfunktion der
natürlichen Umwelt in Beziehung setzt, ist ein analoges Vorgehen in der
sozialen Dimension nicht möglich. Einerseits ist es ? wissenschaftlich,
gesellschaftlich und politisch ? schwierig, wenn nicht unmöglich, sich
darauf zu verständigen, worin die wesentlichen Funktionen soz ialer
Systeme bestehen und worin generell erhaltenswerte soziale Ressourcen zu
sehen sind. Andererseits weisen soziale Strukturen und Prozesse
wesentliche Charakteristika auf, die sie von denen der ökologischen
Dimension gravierend unterscheiden und die als Schlüsselelemente einer
Konzeption sozialer Nachhaltigkeit berücksichtigt werden müssen.
5.1 Charakteristika sozialer Strukturen und Prozesse30
So wie basale Begriffe der Gesellschaftswissenschaften im allgemeinen
alles andere als eindeutig, selbstevident und konsensfähig sind, kann
auch für die Begriffe des äSozialen? und der äGesellschaft? nicht von
unumstrittenen Bedeutungen ausgegangen werden. Im Gegenteil, es gibt
einander widersprechende und kaum vereinbare theoretische Konzeptionen.
Für die vorliegende Nachhaltigkeitskonzeption wird daraus die Konsequenz
gezogen, eine Begrifflichkeit zugrunde zu legen, die nicht auf allzu
starken theoretischen Vorannahmen beruht bzw. sich auf Positionen zu
stützen, die einerseits der Vielschichtigkeit von Nachhaltigkeit gerecht
werden und sich andererseits nicht nur im Rahmen einer Theorie begründen
und explizieren lassen.
In dieser Perspektive beziehen wir uns im folgenden auf Grundgedanken
der äTheorie der Strukturierung? oder der äDualität von Struktur? von
Giddens (vgl. Giddens 1988). Diese Theorie geht davon aus, daß
Strukturen sozialer Systeme nur insofern existieren, als Formen sozialen
Verhaltens über Raum und Zeit hinweg permanent reproduziert werden (vgl.
ebd., S. 34) und daß die Konstitution der Handelnden und der Strukturen
nicht unabhängig voneinander verlaufen. Sie bedingen sich vielmehr
wechselseitig, sie sind demgemäß so-
30 Dieser Abschnitt stützt sich in wesentlichen Teilen auf ein ? im
Rahmen des HGF-Projekts ? an das Institut für sozial-ökologische
Forschung (ISOE ) vergebenes Gutach ten (vgl. Empacher/Wehling 1998, S.
36ff.).
5 Operationalisierung der sozialen Dimension
90
wohl Medium als auch Ergebnis der Praktiken handelnder Individuen, sie
schränken Handeln nicht nur ein, sondern ermöglichen es auch. Gleichwohl
greifen die strukturellen Momente sozialer Systeme in Raum und Zeit
soweit aus, daß sie sich der Kontrolle eines jeden einzelnen Akteurs
entziehen. Charakteristika sozialer Strukturen und Prozesse können
darauf fußend wie folgt beschrieben werden:
Die Bipolarität des Sozialen
Wesentlich für die Beschreibung sozialer Strukturen und Prozesse ist die
Berücksichtigung zweier Ebenen: der Ebene des sozialen Systems oder der
Gesellschaft und der Ebene, auf der die individuellen Belange der
Gesellschaftsmitglieder erfaßt werden. Zwischen beiden Polen besteht ein
Abhängigkeitsaber vielfach auch ein Spannungsverhältnis. Die Erwartungen
von Individuen (z.B. hinsichtlich Selbstverwirklichung und Autonomie)
harmonieren nicht notwendigerweise mit den Anforderungen der
Gesellschaft (Integration, Stabilität, Konformität). Im Sinne von
Nachhaltigkeit muß diese Spannung ausbalanciert werden: weder wird man
eine Gesellschaft als nachhaltig bezeichnen können, die ? u.a. durch
Individualisierungs- und Differenzierungsprozesse verursacht ? starke
Desintegrationstendenzen aufweist, noch eine Gesellschaft, die zwar
hochgradig integriert, dabei aber von starkem Konformitätsdruck und
Intoleranz gegenüber Individuen und Gruppen gekennzeichnet ist.
Die Normativität des Sozialen
Um der Beurteilung oder Gestaltung sozialer Phänomene und Prozesse
gerecht zu werden, dürfen nicht allein instrumentell-funktionale
Kriterien zugrundegelegt werden, vielmehr müssen auch grundlegende
normative Prinzipien wie Menschenwürde, Autonomie und Gerechtigkeit
berücksichtigt werden. Dies entspricht sowohl Grundtendenzen des
politikphilosophischen Diskurses (vgl. Reese-Schäfer 1997) als auch der
weltweit akzeptierten Menschenrechtstradition. Hinter deren Standards
dürfen Nachhaltigkeitkonzeptionen nicht zurückfallen; dies wird in
internationalen Vereinbarungen des Nach-Rio-Prozesses weltweit
anerkannt: äSustainable development is thus directed towards the
promotion of human dignity and the realization of all human rights,
economic, social, cultural, civil and politicalö (UNDP 1998).
5.1 Charakteristika soz ialer Strukturen und Prozesse 91
Die Reflexivität des Sozia len
Beschreibungen sozialer Phänomene, Strukturen und Prozesse enthalten
i.a. in hohem Maß reflexive Momente, d.h. sie werden nicht nur durch
objektive Gegebenheiten, sondern immer auch durch die Rückwirkung von
Elementen der subjektiven individuellen und kollektiven Wahrnehmung und
Bewertung bestimmt, die von kulturellen Umständen und historischen
Entwicklungen mitgeprägt sind und sowohl zwischen verschiedenen
Gesellschaften als auch innerhalb einer Gesellschaft von einander
abweichen. Alle Versuche, z.B. allgemeingültige Grenz- und
Schwellenwerte der Belastbarkeit von Sozialsystemen anzugeben, müssen
mit dieser Problematik rechnen.
Die Immaterialität des Sozialen
Soziale Prozesse und Phänomene gründen auf materiellen, in einem hohen
Maße aber auch auf symbolisch vermittelten immateriellen Komponenten.
Dies gilt zum Beispiel für die Qualität, Verbindlichkeit und Offenheit
sozialer Beziehungen. Diese Komponenten sind einerseits für nachhaltige
Entwicklungsprozesse oder Entwicklungsblockaden von zentraler Bedeutung,
andererseits sind sie nur schwer zu erfassen und zu objektivieren.
Die analytische Komplexität und Ambivalenz sozialer Prozesse
Für die Beschreibung sozialer Prozesse und Entwicklungen sind komplexe
Wechselwirkungen zwischen heterogenen analytischen Kategorien
konstitutiv (vgl. Heitmeyer 1997a, 1997b). So müssen Wechselwirkungen
zwischen den folgenden Komponenten zugrundegelegt werden: zwischen
äSozialstrukturen? (sozialer Status, soz iale Schichtung,
gesellschaftliche Austauschbeziehungen), gruppenspezifischen
äInteressen? (materiellen und nicht materiellen Wünschen und
Bestrebungen in bezug auf das persönliche Leben, auf soziale, politische
und ökonomische Verhältnisse), äWerten? und äNormen? sowie gruppen- und
schichtspezifischen Formen äsozialer Bindungen? ( soziale Netze,
Milieus usw.). Des weiteren müssen unterschiedliche
kollektiv-institutionelle bzw. individuelle äReaktionen? auf
Entwicklungstendenzen berücksichtigt werden (z.B. politische Maßnahmen,
Innovationen; Rückzug, Protest; Orientierungslosigkeit; Entfremdung,
Isolation).
Im Zusammenhang mit äNachhaltigkeit? hat diese Komplexität zwei wichtige
Implikationen. Zum einen können gesellschaftliche Entwicklungen meist
5 Operationalisierung der sozialen Dimension
92
weder nach linearen Mustern noch auf Grund einfacher
Kausalitätsbeziehungen beschrieben oder prognostiziert werden. Zum
anderen sind bestimmte gesellschaftliche Entwicklungstendenzen
hinsichtlich der einzelnen analytischen Kategorien in aller Regel
ambivalent zu beurteilen. So können z.B. Veränderungen von Sozial-,
Werte- und Normenstrukturen sowie von traditionellen Gemeinschaftsformen
die Integration der Gesellschaft einerseits bedrohen, anderseits gelten
sie aber auch als wichtige Ursache gesellschaftlicher Innovationen.
Diese komplexen und dynamischen Ambivalenzen korrespondieren u.a. auch
mit der Tatsache, daß gesellschaftswissenschaftliche Antworten auf die
Frage, äwas die Gesellschaft zusammenhält?, ebenfalls ambivalent,
umstritten und hinsichtlich allgemeingültiger Aussagen eher
pessimistisch ausfallen (vgl. Hei tmeyer 1997b).31
5.2 Zum Stand der Debatte32
Wiederholt und durchaus zu Recht ist festgestellt worden, ädaß der
soziale Aspekt der Nachhaltigkeit in der Debatte bisher vernachlässigt
wurde? (Heins 1998, S. 15). Dennoch sind in den letzten Jahren erste
Vorschläge zur Konkretisierung und Operationalisierung der sozialen
Dimension von Nachhaltigkeit formuliert worden. Die Kerngedanken wicht
iger Beiträge dazu sollen im folgenden kurz zusammengefaßt werden.
Zunächst eine Vorbemerkung: Wie in Kap. 2.1 ausgeführt, betrachtet der
HGF-Ansatz ? im Unterschied zu anderen Positionen ? inter- und
intragenerative Gerechtigkeit als gleichrangig und zusammengehörig. Hier
sei darauf hingewiesen, daß dies nach der Konferenz von Rio auch mit
Hinblick auf die soziale Dimension vielfältige völkerrechtliche
Anerkennung und Bestätigung erfahren hat. In einer Fülle internationaler
Deklarationen, Abkommen und Vereinbarungen wurde rechtlich verbindlich
festgeschrieben, daß es zu den inhaltlichen Essentials von
Nachhaltigkeit gehört, die Bedürfnisse der Ärmsten zu befriedigen, Armut
zu bekämpfen und soziale Gerechtigkeit anzustreben (vgl.
31 Siehe dazu insbesondere die Einleitungs- und Zusammenfassungskapitel
des Herausgebers. 32 Dieses Unterkapitel ist ? mit Ausnahme der
zusammenhängenden größeren Passage zur Kommentierung der Regeln der
zweiten Enquete-Kommission äSchutz des Menschen und der Umwelt? ?
beinahe wörtlich dem erwähnten Gutachten (Empacher/Wehling 1998)
entnommen.
5.2 Zum Stand der Debatte 93
Bartholomäi 1998, S. 251ff.).33 Kurz gesagt, intragenerative soziale
Gerechtigkeit muß als völkerrechtlich anerkannte Norm der Nachhaltigkeit
gelten.34 Im einzelnen wird dieser Norm freilich von unterschiedlichen
Autoren unterschiedlich interpretiert bzw. operationalisiert, dies
betrifft den Umfang der ? unterschiedliche Gegenstandsbereiche
berührende ? Subnormen sowie ihre relativen Gewichte.
Einen ziemlich weitreichenden und umfassenden
Operationalisierungsvorschlag hat bereits 1994 die Enquete-Kommission
äSchutz des Menschen und der Umwelt? des 12. Deutschen Bundestages
vorgelegt. Unter dem Titel äSoziale Schutz- und Gestaltungsziele? hat
sie zunächst drei Zielebenen unterschieden:
? Sicherung der Gesundheit,
? Sicherung der sozialen Stabilität,
? Sicherung der Entwicklungs- und Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft.
Dabei wird der Zielebene der Sicherung der Gesundheit die höchste
Priorität gegeben: äDenn die Sicherung der Gesundheit in der Definition
der (...) WHO als Zustand des vollständigen physischen, geistigen und
sozialen Wohlbefindens (...) ist eine wesentliche Voraussetzung für die
weiteren Zielebenen.? (Enquete-Kommission 1994, S. 493) Jede dieser
Zielebenen wird dann weiter differenziert in verschiedene Teilbereiche
und Elemente, denen Bewertungskriterien bzw. Indikatoren zugeordnet
werden. Bemerkenswert ist dabei nicht nur die hohe Priorität, sondern
auch der sehr weite Begriff von Gesundheit, in den neben physischer und
psychischer Gesundheit auch soziale Anerkennung sowie die Befriedigung
der Grundbedürfnisse aufgenommen wurden.
Demgegenüber hat die gleichnamige Enquete-Kommission des 13. Deutschen
Bundestages ihre Überlegungen zur sozialen Nachhaltigkeitsdimension
näher an aktuellen gesellschaftspolitischen Problemlagen der
Bundesrepublik Deutschland zu orientieren versucht; ihre Aussagen zu den
Zielen sozialer Nachhaltigkeit sind aber weniger stark systematisch
gegliedert und haben eher
33 Die Kopenhager Erklärung über soziale Entwicklung von 1995 z.B.
deklariert: äWe are deeply convinced that economic development, social
development and environmental protection are interdependent and mutually
reinforcing components of sustainable development, which is t he
framework for our efforts to achieve a higher quality of life for all
people. Equitable social development that recognises empowering the poor
to utilise environmental resources sustainably is a necessary foundation
for sustainable development? (ebd. S. 276).
34 Gerechtigkeitstheoretisch wird diese Norm z.B. durch das Prinzip
äConservation of Access? erfaßt ? siehe Kap. 3.2 ?, das den Mitgliedern
jeder Generation gerechten Zugang zu den gemeinsamen Ressourcen
einräumt.
5 Operationalisierung der sozialen Dimension
94
aufzählenden Charakter (vgl. Enquete-Kommission 1998, S. 39ff.). Genannt
werden (teilweise in Anlehnung an die frühere Enquete-Kommission) als
prioritäre und unverzichtbare Ziele: soziale Stabilität, individuelle
Freiheit, Solidarität, soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit mit
dem Ziel, äallen Mitgliedern der Gesellschaft menschenwürdige
Lebensbedingungen zu ermöglichen und zu erhalten? (ebd., S. 40). Daraus
könnten dann detailliertere soziale Qualitätsziele abgeleitet werden:
über die Sicherung eines gesellschaftlich anerkannten und
verfassungsrechtlich garantierten Grundbedarfs hinaus gehe es dabei ä
insbesondere um die Herstellung und Sicherung von Gesundheit,
Erwerbsfähigkeit und -möglichkeit, Bildungs- und Ausbildungschancen,
Altersversorgung und um die Einkommens- und Vermögensverteilung? (ebd.,
S. 40f.).35
Fischer-Kowalski et al. sehen innerhalb eines ämagischen Dreiecks? der
Nachhaltigkeit das wesentliche Ziel der sozialen Dimension in der
äErhaltung des sozialen Friedens?. Darunter wird nicht nur eine
äakzeptable Lösung der Verteilungsprobleme zwischen Regionen, zwischen
sozialen Schichten, Geschlechtern und Altersgruppen? verstanden, sondern
auch äLösungen des Problems kultureller Integration, von Zugehörigkeiten
und Identitäten ? man könnte auch sagen, es geht um ein Klima der
Freundlichkeit und Kooperation? (Fischer-Kowalski 1995, S. 9).
Realistischerweise wird eingeräumt, daß dies durch Indikatoren schwer zu
operationalisieren sei.
Auch Huber geht von einem ämagischen Dreieck? der nachhaltigen
Entwicklung aus, das durch die drei Ziele äSchutz der Ökosphäre?,
ästabile wirtschaftliche Entwicklung? sowie ägerechte Verteilung der
Lebenschancen? gebildet werde (vgl. Huber 1995, S. 43). Dieses letztere
Ziel umfasse die Chancengerechtigkeit zwischen Individuen, zwischen
äNord? und äSüd? zwischen äOst? und äWest? sowie zwischen den
Generationen. Unter dem Aspekt der äBedürfnisgerechtigkeitö36 sei das
Problem der angemessenen Verteilung äim Prinzip längst gelöstö, nämlich
dahingehend, daß sie sich auf den Bereich der Grundbedürfnisse
erstrecken ? aber auch auf diesen beschränken müsse (vgl. ebd., S. 103).
35 Ausgehend von diesen Überlegungen hat die Enquete-Kommission auch
Regeln zur Konkretisierung de r sozialen Nachhaltigkei tsdimension
vorgeschlagen; darauf wird unten genauer eingegangen. 36 Huber (1995,
S. 87ff.) hat in Anlehnung an Zacher (1983) die Unterscheidung zwischen
äBedürfnisgerechtigkeit ?, äLeistungsgerechtigkeit? und äBes itz
standsgerechtigkeit? in die Nachhaltigkei tsdiskuss ion einge führt.
5.2 Zum Stand der Debatte 95
Im Blick auf Prozesse der Lokalen Agenda 21 und
Nachhaltigkeitsstrategien auf kommunaler Ebene hat Dangschat (1997, S.
178ff.) drei äsoziale Zielsetzungenö unterschieden:
? sozialer Ausgleich/soziale Integration,
? soz iale Gerechtigkeit,
? Sozialverträglichkeit.
Allerdings werden die Unterschiede zwischen diesen Zielen in dem Beitrag
nicht besonders klar herausgearbeitet.
In einer neueren Studie zur sozialen Nachhaltigkeit betrachtet Heins
(1998, S. 25ff.) die folgenden fünf Aspekte als wesentlich für die
soziale Dimension von Nachhaltigkeit:
? soziale Akzeptanz (für einen Transformationsprozeß zur
Nachhaltigkeit), ? soziale Schutz- und Gestaltungsziele, wobei er hier
weitgehend auf den oben skizzierten Vorschlag der Enquete-Kommission
(1994) zurückgreift, ? Elemente einer äsustainable society?, wozu
Bedürfnisbefriedigung, Wohlstand und gerechte Verteilung gerechnet
werden, ? Gerechtigkeitsaspekte und Soz ialverträglichkeit,
? Organisation einer äsustainable society?, wozu vor allem neue Formen
der Partizipation der Bürgerinnen und Bürger zu rechnen seien.
Sachs (1998) schließlich unterscheidet, abweichend vom gängigen
Nachhaltigkeitsdiskurs, insgesamt acht verschiedene Dimensionen von
Nachhaltigkeit, die alle gleichzeitig berücksichtigt werden müßten.37
Soziale Nachhaltigkeit stehe dabei an erster Stelle, weil sie sich mit
der grundlegenden Zweckbestimmung des Entwicklungsprozesses decke. Als
Kriterien für soziale Nachhaltigkeit führt Sachs auf:
? einen angemessenen Grad an sozialer Homogenität,
? gerechte Einkommensverteilung,
? Vollbeschäftigung und/oder eigene Tätigkeit (self employment), welche
die Erwirtschaftung eines angemessenen Lebensstandards erlaubt,
? gerechte Zugangschancen hinsichtlich Ressourcen und sozialen
Dienstleistungen.
37 Neben der sozialen und der ökonomischen Nachhaltigkeit nennt Sachs:
cultural sustainability, ecological sustainability, environmental
sustainability, territorial sustainability sowie political
sustainability, unterschieden nach nationalen und internationalen
Handlungsniveaus.
5 Operationalisierung der sozialen Dimension
96
Wie oben schon angedeutet, war es die zweite Enquete-Kommission äSchutz
des Menschen und der Umwelt?, die erstmals den ? nach eigenem Bekunden
noch nicht zu Ende diskutierten ? Versuch unternommen hat, konkrete
Regeln für soziale Nachhaltigkeit zu formulieren. Sie sind in ihrem
Wortlaut im Anhang dieses Berichts aufgeführt. Die zentralen Begriffe
sind dort: Menschenwürde und freie Entfaltungsmöglichkeiten (Regel 1),
Solidarität und soziale Sicherheit (Regel 2 und 3) sowie
gesellschaftliches Leistungspotential (Regel 4). Die Kommission hat mit
ihrem auf Deutschland fokussierten Ansatz eine andere Vorgehensweise
gewählt als wir dies für das HGF-Projekt mit der Prämisse global
gültiger Nachhaltigkeitsregeln beabsichtigen. So wird etwa der
äBewahrungs?-Begriff im Zusammenhang mit sozialem Frieden oder sozialem
Rechtsstaat verwendet, was zwar für Staaten wie Deutschland Sinn macht,
jedoch all jene Länder ausschließt, in denen noch die Frage des Weges
dorthin im Mittelpunkt steht. Über die Feststellung dieses
grundsätzlichen Unterschieds hinaus seien noch einige Bemerkungen zu den
Regeln im einzelnen angefügt. Beispielsweise fällt auf, daß für die
internationale Entwicklungsdebatte zentrale und operationalisierte
Begriffe wie Grundbedürfnisse (basic needs) oder Grundversorgung nicht
verwendet werden. Ebenso spielt der Begriff der Arbeit weder in den
sozialen noch den ökonomischen Regeln eine Rolle. Einzig das
Kommissionsmitglied Rochlitz stellt in seinem Sondervotum die Arbeit
neben der individuellen Grundsicherung in den Mittelpunkt seiner Regel
zu sozialer Nachhaltigkeit (vgl. Enquete-Kommission 1998, S. 226).
Des weiteren ist Regel 3 mit ihrer geforderten Bindung des Wachstums
sozialer Sicherungssysteme an ein entsprechendes Wachstum des
wirtschaftlichen Leistungspotentials aus unserer Sicht nicht zwingend
für soziale Nachhaltigkeit. Es könnte durchaus mit Nachhaltigkeit
vereinbar sein, wenn im gesellschaftlichen Konsens eine Entscheidung
getroffen würde, auch bei nicht steigender Wirtschaftsleistung den
Umfang sozialer Sicherung ? durch entsprechende
Mittelumverteilungsmaßnahmen ? zu erhöhen.
Ferner wird der in Regel 4 verwendete Begriff des ägesellschaftlichen
Leistungspotentials? in der von der Kommission angefügten Erläuterung
nach unserer Auffassung unangemessen stark auf den Solidaritätsaspekt
verengt, der auf der individuellen Ebene (Bereitschaft dazu in Ehe,
Nachbarschaft usw.) sowie auf der Gruppen- und kollektiven Ebene
(Organisation und Sicherung von sozialen Diensten und
Sicherungssystemen) definiert wird.
Diese knappe Übersicht über wichtige Diskussionsbeiträge ergibt ein
zwiespältiges Bild: Auf der einen Seite zeichnet sich in den erwähnten
Texten eine Reihe wichtiger Gemeinsamkeiten, Überschneidungen und
Verdichtungen hinsichtlich der Kriterien und Ziele von sozialer
Nachhaltigkeit ab. Durchgängig
5.3 Regeln für die soziale Dimension 97
genannt wird vor allem die soziale Gerechtigkeit als Leitprinzip,
insbesondere eine gerechte Verteilung der Einkommen und des Zugangs zu
Ressourcen und Handlungsoptionen. Auch (Grund-)Bedürfnisbefriedigung,
Beschäftigung, Bildung, Wohlstand und Sicherung der Gesundheit werden
häufig genannt, ebenso Sozialverträglichkeit und soziale Akzeptanz für
Nachhaltigkeitspolitiken.
Andererseits wird aber auch deutlich, daß bisher keine überzeugende,
theoretisch fundierte und verallgemeinerbare Begründung von Kriterien
und Zielen sozialer Nachhaltigkeit existiert. Ziele, die sich auf die
Ebene der Gesellschaft (oder des äsozialen Systems?) richten, wie z.B.
äsozialer Frieden?, äsoziale Homogenität? oder äSicherung der sozialen
Stabilität?, stehen mehr oder weniger unverbunden neben solchen, die
sich direkt auf die Lebensbedingungen der Individuen beziehen
(Bedürfnisbefriedigung, Gesundheit, Chancengleichheit etc.).
Außerdem werden die unterschiedlichen Begriffe (etwa soziale
Gerechtigkeit, sozialer Ausgleich, Sozialverträglichkeit, soz iale
Akzeptanz etc.) häufig nur unzureichend voneinander abgegrenzt. Dabei
bleibt schließlich auch unklar, inwieweit es um eigenständige und
unabhängige Ziele sozialer Nachhaltigkeit geht oder änur" um die
Sicherung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (Akzeptanz und
Sozialverträglichkeit) für einen Transformationsprozeß zur ökologischen
Nachhaltigkeit. In diesem Zusammenhang wird das äSoziale" häufig eher
als restriktive bzw. fördernde Bedingung für ökologische
Nachhaltigkeitsstrategien angesehen und nicht so sehr als eigenständige
Dimension.
5.3 Regeln für die soziale Dimension
Ausgehend von den Ergebnissen der vorangegangenen Überlegungen wird im
folgenden der Versuch unternommen, Grundelemente einer Konzeption
sozialer Nachhaltigkeit zu benennen, die sowohl wichtige
Struktureigenschaften des Soz ialen als auch in der Debatte
diagnostizierte Defizite berücksichtigen.
Als grundlegender Aspekt von sozialer Nachhaltigkeit läßt sich zunächst
die Forderung nach der Sicherung der menschlichen Existenz anführen
(gemäß dem ersten generellen Nachhaltigkeitsziel im Kap. 3.3). Im Sinne
der erwähnten Bipolarität des Sozialen ist dies jedoch hinsichtlich
zweierlei Aspekte auszugestalten: betrachtet werden muß das Soziale
einerseits im Sinn einer humanen Gestaltung der Lebensbedingungen der
Individuen, andererseits im Sinn des übergreifenden Zusammenhalts einer
Gesellschaft.
Hinsichtlich des ersten Punktes, der Gestaltung der Lebensbedingungen
der Individuen, wird davon ausgegangen, daß die physische und psychische
5 Operationalisierung der sozialen Dimension
98
Reproduktion der Bevölkerung eine grundlegende Bedingung für die
Aufrechterhaltung einer Gesellschaft darstellt. Die Forderung nach
Erfüllung von Grundbedürfnissen wurde bzw. wird in unterschiedlichen
Kontexten erhoben und nach unterschiedlichen Konzepten konkretisiert und
operationalisiert: so schon in den 60er und 70er Jahren im Zusammenhang
mit Problemen der Entwicklungspolitik, dann auch über das Konzept der
Grundbedürfnisbefriedigung, und schließlich auch über Konzeptionen
distributiver Gerechtigkeit (s.u.).38
In Sinne von Nachhaltigkeit kann es dabei allerdings nicht allein um die
Sicherung des nackten Überlebens gehen, sondern die Individuen müssen
befä- higt werden, aktiv und produktiv am gesellschaftlichen,
wirtschaftlichen und politischen Prozeß teilzunehmen. Unter dem
normativen Aspekt von inter- und intragenerativer Gerechtigkeit muß dies
auf der Basis von Partizipation an gesellschaftlichen
Entscheidungsprozessen sowie auf der Basis von Chancengleichheit im
Zugang zu Ressourcen geschehen. Über diesen normativen Bezug hinaus kann
dies auch analytisch-funktional begründet werden: Entwicklung muß durch
die Menschen erfolgen und nicht nur für sie. Denn nur wenn alle
Gesellschaftsmitglieder gleichberechtigt und umfassend einbezogen
werden, kann der Prozeß einer nachhaltigen Entwicklung die notwendige
Breite, Qualität und Stabilität gewinnen.
Zum zweiten Punkt, zur nachhaltigen Entwicklung gesellschaftlicher
(Teil-)Systeme, können ? inspiriert durch das Parsonsche AGIL-Schema39 ?
die folgenden Bedingungen einer dauerhaften Existenz einer Gesellschaft
angegeben werden: Gesellschaften müssen für die Integration,40
Sozialisation und Motivation ihrer Mitglieder Sorge tragen und
angemessen auf veränderte Umweltbedingungen reagieren können. Dies kann
allerdings nicht bedeuten, daß einmal gefundene Formen und Institutionen
dauerhaft stabilisiert werden sollen
38 Die beiden letzteren Konzeptionen werden oft miteinander vermixt zu
äBedürfnisgerechtigkeit?, obwohl sie in der Begründungsdimension wenig
miteinander zu tun haben (s.u.). 39 Abkürzung für eine Vierfeldertafel,
worin die Begriffe adoption, goal-attainment, integration und latency
die vier Systemprobleme bezeichnen, die als Grundfunktion sozialer
Systeme gelten (vgl. Fuchs et al. 1978, Parsons 1972, 1975). 40 Es wird
unterschieden zwischen äSozialintegration? und äSystemintegration?.
Sozialintegration kann unter schieden werden nach kulturell-expressiver
Soz ial integration (Gruppenzugehörigkeiten, Anerkennung ihrer
Traditionen usw.) sowie kommunikativ-interaktiver Sozialintegration
(Teilhabe an Verständigungsprozessen über Bestand und Veränderung
vorgegebener bzw. neuer Werte- und Normenstruk turen). Systemintegration
hingegen bezieht sich auf individuelle und kollektive Zugänge und
Teilhabe an Teilsystemen wie Arbeit, Politik, Recht, Bildung usw. (vgl.
Heitmeyer 1997c, S. 24).
5.3 Regeln für die soziale Dimension 99
oder können, sondern daß diese Formen lern- und entwicklungsfähig
gehalten werden ? was ihre Reflexivität voraussetzt.
In diesem Zusammenhang wird oft gefordert, daß äsoziale Ressourcen?
(soziale Bez iehungsnetze, gesellschaftliches Wissen sowie kulturelle
Traditionen, Erfahrungen und Kompetenzen) ? sozusagen als äKitt? der
Gesellschaften ? erhalten bzw. angemessen entwickelt werden. In
Anbetracht der für soziale Nachhaltigkeit elementaren Bedeutung des
Zusammenenhalts einer Gesellschaft wird diesen Erwägungen im folgenden
durch eine Regel zu äsozialen Ressourcen? Rechnung getragen. Auf Grund
der oben erwähnten profunden analytischen Ambivalenzen und Komplexitäten
sozialer Prozesse ist es freilich schwierig, soziale Ressourcen
eindeutig und einfach zu bestimmen, und es ist erst recht eine diffizile
Aufgabe, sie durch Angabe konkreter Handlungsziele (auf der kontextualen
Ebene) zu operationalisieren.
Vor diesem Hintergrund werden für die soziale Dimension folgende Regeln
vorgeschlagen:
Regel 1: Partizipation
Allen Mitgliedern einer Gesellschaft muß die Teilhabe an den
gesellschaftlich relevanten Entscheidungsprozessen möglich sein.
Regel 2: Grundversorgung
Für alle Mitglieder der Gesellschaft muß ein Mindestmaß an
Grundversorgung (Wohnung, Ernährung, Kleidung, Gesundheit) sowie die
Absicherung gegen zentrale Lebensrisiken (Krankheit, Invalidität)
gewährleistet sein.
Regel 3: Chancengleichheit
Alle Mitglieder einer Gesellschaft müssen gleichwertige Chancen in bezug
auf den Zugang zu Bildung, beruflicher Tätigkeit, Information haben.
Regel 4: Selbständige Existenzsicherung
Für alle Gesellschaftsmitglieder ist die Möglichkeit einer
Existenzsicherung (einschließlich Kindererziehung und Altersversorgung)
durch frei übernommene Tätigkeit zu gewährleisten.
Regel 5: Sozialressourcen
Um den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu gewährleisten, sind
Toleranz, Solidarität, Integrationsfähigkeit, Gemeinwohlorientierung
sowie Potentiale der gewaltfreien Konfliktregelung zu stärken.
5 Operationalisierung der sozialen Dimension
100
Regel 6: Kulturelle Vielfalt
Das kulturelle Erbe der Menschheit und die kulturelle Vielfalt sind zu
erhalten.
5.4 Erläuterungen zu den Regeln
Die hier formulierten Regeln können kurz wie folgt charakterisie rt
werden: Im Sinne der Bipolarität des Sozialen beschreiben sie einerseits
notwendige funktionale Bedingungen der Existenz und Weiterentwicklung
einer Gesellschaft, indem sie die individuenbezogene Grundbedingungen
dafür nennen (Regel 1-4). Weil diese Regeln grundlegend auch von
normativen moralischen Prinzipien, wie Menschenwürde, Gerechtigkeit und
Freiheit, impliziert werden, kann man sie auch als sogenannte
ämoralische Rechte?41 auffassen, wie sie u.a. auch in
Menschenrechtsdeklarationen und -vereinbarungen postuliert werden.42
Andererseits werden ? in Regel 5 und 6 ? für Gesellschaften bzw. die
Weltgesellschaft insgesamt Bedingungen einer nachhaltigen sozialen
Entwicklung erläutert.
Regel 1: Partizipation
Hinter der Regel 1 steht die Überzeugung, daß eine Gesellschaft ? sowohl
unter normativen als auch unter funktionalen Aspekten ? nur dann als
nachhaltig angesehen werden kann, wenn ihre Mitglieder an politischer
Willensbildung und an pol itischen Entscheidungen teilhaben können. (So
wird dies auch im dritten generellen Nachhaltigkeitsziel postuliert,
vgl. Kap. 3.3) Dies impliziert die Forderung, Möglichkeiten der Teilhabe
zu erhalten, zu erweitern und zu verbessern, eine Notwendigkeit vor
allem in Anbetracht neuer Problem- und Konfliktlagen.
Ihre Legitimation speist die Regel 1 aus den zwei für die soziale
Dimension der Nachhaltigkeit konstitutiven Quellen: erstens dem
Nachhaltigkeitsdiskurs in der Nachfolge der Konferenz von Rio, und
zweitens sozialwissenschaftlichen und politikphilosophischen
Thematisierungen. Der Stellenwert, der Parti-
41 Sofern regelanaloge Forderungen in Grundgesetze von Staaten bzw. in
internationale Vereinbarungen inkorporiert wurden, handelt es sich sogar
um älegale Rechte?. 42 So in der äAllgemeinen Erklärung der
Menschenrechte? von 1948, der äEuropäischen Menschenrechtskonvention?,
der äEuropäischen Sozia lchar ta? und im äInternationalen Pakt über
wirtscha ftlic he, soziale, und kulturelle Rechte?.
5.4 Erläuterungen zu den Regeln 101
zipation in diesen Quellen zugewiesen wird, rechtfertigt es, auf
Partizipation beruhende ägleiche Mitgliedschaft? ? in Abwandlung eines
dictums von Walzer (vgl. Walzer 1992) ? als das äMeisterprinzip? der
Sphären sowohl sozialer Gerechtigkeit als auch sozialer Nachhaltigkeit
zu bezeichnen.
So wird breite Partizipation schon in der AGENDA 21 der Konferenz von
Rio (Teil III äStärkung der Rolle wichtiger Gruppen?) gefordert:43
ä1. Ein wesentlicher Faktor für die wirksame Umsetzung der Ziele,
Maßnahmen und Mechanismen, die von den Regierungen in allen
Programmbereichen der Agenda 21 gemeinsam beschlossen worden sind, ist
das Engagement und die echte Beteiligung aller gesellschaftlichen
Gruppen.
2. Eine der Grundvoraussetzungen für die E rzielung einer nachhaltigen
Entwicklung ist die umfassende Beteiligung der Öffentlichkeit an der
Entscheidungsfindung. Darüber hinaus hat sich im spezifischeren umwelt-
und entwicklungspolitischen Zusammenhang die Notwendigkeit neuer Formen
der Partizipation ergeben. Dazu gehören die Mitwirkung von
Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen an
Umweltverträglichkeitsprüfungen sowie ihre Unterrichtung und ihre
Beteiligung an Entscheidungen, insbesondere solchen, die eventuell die
Gemeinschaft betreffen, in der sie leben und arbeiten.? (AGENDA 21 1992,
Kap. 23, Prä- ambel)
Auch in den Dokumenten der UNO Konferenz äWorld Summit for Social
Development? des Jahres 1995 in Kopenhagen, die sich explizit in der
Nachfolge von Rio und des darauffolgenden Prozesses sieht, wird
Partizipation als umfassender gesellschaftlicher Prozeß verstanden:
äRecognise that empowering people, particularly women, to strengthen
their own capacities is a main objective of development and its
principal resource. Empowerment requires the full participation of
people in the formulation, implementation and evaluation of decisions
determining the functioning and well-being of our societies.ö (WORLD
SUMMIT 1995)
Im einzelnen wird dies in den Konferenzdokumenten in vielen
Detailaspekten soz ialer Entwicklung erläutert.
Die zweite Quelle, die in Anspruch genommen werden kann, um
Partizipationsansprüche zu klären bzw. zu legitimieren, ist der Diskurs
der politischen Philosophie. Von Platon über Locke, Rousseau, Kant,
Montesquieu, Tocqeville bis Habermas wird ? immer auch als Reflex auf
Probleme politischer Tendenzen der jeweiligen Zeit ? Teilnahme und
Teilhabe der Bürger an Prozessen und Institutionen, die für die polis,
den Staat, die Demokratie konstitutiv
43 Hinweise auf die AGENDA 21 in diesem Zusammenhang verdanken wir A.
Poppenborg, Mitarbeiterin am äInstitut für Autonome intelligente
Systeme? des äGMD -Forschungszentrums Informationstechnik GmbH?.
5 Operationalisierung der sozialen Dimension
102
sind, auf je unterschiedliche Weise konzeptualisiert und diskutiert.
Auch heute wird darüber nachgedacht, wie politische Partizipation zu
gestalten und zu begründen sei und welche Funktion man ihr in modernen
Weltgesellschaften zuschreiben könne (vgl. Forst 1996).
Juristisch gesehen sind Staatsbürger ? in einer auf Grundrechte
bezogenen Bedeutung ? Träger sowohl subjektiver Abwehrrechte als auch
politischer und sozialer Teilhaberechte; Partipationsrechte im engeren
Sinn ? wie z.B. die Staatsbürgerrechte des aktiven und passiven
Wahlrechts, Zugang zu öffentlichen Ämtern, Kommunikationsrechte wie
Meinungs- und Versammlungsfreiheit usw. ? gehören der zweiten Gruppe,
den politischen Teilhaberechten an.
Für ein umfassenderes Verständnis der Problematik ist es freilich
nützlich, Partizipation im weiteren Kontext der allgemeineren Frage nach
dem äEthos der Demokratie?44 zu diskutieren. Gegenwartsnah war dies ein
herausragendes Thema in der Kontroverse zwischen Kommunitarismus und
Liberalismus, die den politik-philosophischen Diskurs der vergangenen
drei Jahrzehnte stark bestimmt hat. Die Kontroverse ist allerdings
inzwischen abgeebbt, die gegnerischen Positionen haben sich in manchen
Punkten angenähert, und es sind neuere Konzeptionen der
Demokratietheorie ? Theorien der äZivilgesellschaft? und der
ädeliberativen Demokratie? ? entstanden, die die Momente beider Seiten
aufnehmen und die Schwächen älterer Theorien vermeiden45 (vgl. ebd., S.
178). In diesen Theorien ist Partizipation ein Kernelement, für sie
werden i.a. voraussetzungsreiche Prämissen postuliert: so die liberalen
politischen Tugenden, wie Toleranz und Fairneß, dialogische Tugenden,
wie Kooperations- und Argumenationsbereitschaft und die
ägemeinschaftliche? Tugend, für die Gemeinschaft aller Mitbürger
Verantwortung zu übernehmen. Diese Tugenden und Fähigkeiten des
äcitoyen? sollen in Prozessen der Teilnahme und Teilhabe zur Geltung
kommen in einer Pluralität demokratischer Formen und Assoziationen, in
institutionalisierten und nichtinstitutionalisierten politisch-
öffentlichen Diskursen, in denen die regelungsbedürftigen
Legitimationsfragen der Gesellschaft behandelt werden (vgl. ebd., S.
179f.).
Wichtige Ziele dieser Diskurse sind erstens, die Bürger zur Präferenz-,
Urteils- und Willensbildung zu befähigen und entsprechende
Entscheidungen zu legitimieren; zweitens, Ansprüche ausgeschlossener
Gruppen zuzulassen und gegebenenfalls anzuerkennen; sowie drittens,
Risse in der politischen Community zu beseitigen und die Anerkennung
voller Mitgliedschaft in der Gesell-
44 Es geht dabei darum, wie sich Bürger als M itglieder einer
politischen Gemeinschaft vers tehen, welche Geme insamkeiten, we lche
Verantwortungen sie haben. 45 Diesbezügliche Stichworte sind äEnthegel
ianisierung? und äEntrousseauisierung?.
5.4 Erläuterungen zu den Regeln 103
schaft solidarisch zu verwirklichen.46 Auf diese Weise soll eine
Integration der Gesellschaft zuwege gebracht werden, die nicht so stark
ist, daß am Rande der Gesellschaft situierte Identitäten marginalisiert
werden und andererseits nicht zu schwach ist, um soziale Stabilität und
Solidarität zu ermöglichen (vgl. ebd., S. 193, 214).47 Dies bedeutet
insbesondere, Partizipation auszubalancieren zwischen kultureller
Vielfalt und demokratischer Gleichheit, eine Aufgabe, der heute, sowohl
theoretisch-konzeptionell als auch realpolitisch, eine eminente,
zunehmend wachsende Bedeutung zukommt (vgl. Benhabib 1999).48
Angesprochen werden damit auch die Grundbedingungen der Befriedung
weltweit schwelender oder heftig brennender ethnischer Konflikte.
Partizipation so konzipiert sieht sich heute allerdings auch mit schwerw
iegenden Einwänden bzw. neuartigen Problemen konfrontiert. So wird
darauf hingewiesen, daß äVolkssouveränität?49 in unserem Jahrhundert
weltweit stark zurückgedrängt werde zugunsten anderer Formen von
Gewaltteilungsmodellen und der Ermächtigung von Justiz und Exekutive
(vgl. Maus 1994, 1999). Weiterhin wird konstatiert: Phänomene der
funktionalen Differenzierung der Gesellschaft widerstehen der durch
Partizipation angestrebten gesellschaftlichen Einheit, und
Globalisierungsfolgen lassen die klassischen Partizipationskonzepte ins
Leere laufen (vgl. zu diesen Problemen die grundlegenden Ausführungen im
Kap. 2.3) .
Zum ersten Problem wird festgestellt: Zwar könne man Konzeptionen der
Zivilgesellschaft die Funktion zuschreiben, die eingeschränkte
Perspektivität der differenzierten gesellschaftlichen Funktionssysteme
zu kritisieren und zu überwinden. So haben zivilgesellschaftliche
Bewegungen erfolgreich an tiefgehenden Transformationen der
Gesellschaften Anteil gehabt ? Beispiele sind die Veränderungen des
politischen Systems in Osteuropa nach 1989 oder die ökologischer
Alarmierung von Industriegesellschaften in den jüngsten Jahrzehnten. Mit
Blick auf die Ebene der Strukturbeschreibung moderner Gesellschaften sei
allerdings generell Skepsis angebracht, denn die Möglichkeit einer
einheitlichen Beobachtung der Gesellschaft sei mit der Moderne
unwiederbringlich verloren, deshalb ist es fraglich, ob Einheit der
Gesellschaft ? selbst
46 Mit letzterem ist im Gegensa tz zur formalen politischen Inklusion
eine materiale Inklusion intendiert ? i m Sinne eines substanziellen
Verständnisses von politischer Gemeinschaft: Es geht um soziale Rechte,
die Bürger erst befähigen, ihre formal-politischen Rechte wahrzunehmen
(siehe dazu Regel 2). 47 Letzteres wird ausführlicher in Regel 6
erörtert.
48 Siehe dazu auch Regel 7.
49 Der Begriff der Volkssouveränität besagt, daß die Gesetzgebung
ausschließlich dem äVolk?, den Nichtfunktionären im Gegensatz zu den
Amtsträgern des Gewa ltmonopols zukommt.
5 Operationalisierung der sozialen Dimension
104
in Überlebensfragen ? hergestellt werden könne (vgl. Richter 1996;
Willke 1998).
Zur Problematik der Globalisierungsfolgen wird ausgeführt: Die
klassische Referenz von Partizipation ist die Gesellschaft als Staat,
angesprochen ist somit die Teilhabe des Staatsbürgers. Gravierenden
neuen Problemen im Gefolge der Globalisierung ist damit allerdings kaum
beizukommen. Denn die gegenwärtig anschwellende Dynamik von
Globalisierung, Vernetzung und Digitalisierung zwinge Kapital und Arbeit
äauszuwandern?, sich somit dem Einfluß der angestammten
Einzelgesellschaften zu entziehen. Dies könne sich verheerend auf die
territorial und zeitlich eingebundenen Einrichtungen und Strukturen
einer Gesellschaft auswirken (vgl. Willke 1998, S. 29). Analoges gilt
auch für die Globalisierung von Risikofolgen. Klima- und
Schadstoffkatastrophen z.B. sind heute in vielen Fällen
grenzüberschreitend (räumlich, aber auch zeitlich mit Hinblick auf
zukünftige Generationen). Verursacher und Betroffene sind somit nicht
mehr Bürger eines identischen Staates. Damit wird ebenfalls das Problem
einer zunehmenden Unfähigkeit angesprochen, auf Angelegenheiten, die
Gesellschaften fundamental betreffen, Einfluß zu nehmen. Schließlich
machen auch Flüchtlings- und Asylantenströme ? als Folge von Krieg,
Bürgerkrieg, Unterdrückung, Not und Armut weltweit ? nicht halt vor den
Grenzen der Staaten, die freilich auch in diesen Fragen i.a. nur
geringen, indirekten Einfluß auf diese Ereignisse nehmen können.
Die Konsequenz auch dieser Einwände muß es sein, die klassischen Formen
der Partizipation zu erweitern bzw. zu transformieren, und zwar in der
räumlichen, der zeitlichen50 und der sozialen Dimension. Diese
Erweiterungen müssen mit dem primären Ziel geschehen, den von Problemen
und Entscheidungen Betroffenen Mitsprache und Mitentscheidung (wieder)
zu ermöglichen. Im Menschenrechtskontext gesehen bedeutet dies auch: die
westlichen Demokratien müssen darauf hinwirken, daß Menschenrechte
weltweit zu Bürgerrechten werden (vgl. Wellmer 1998). Solche
Erweiterungen von Partizpation über die nationalen Grenzen hinaus werden
im Nachhaltigkeitsdiskurs gefordert (s.o.) und finden übrigens seit
geraumer Zeit statt, z.B. in den internationalen Verhandlungen zur
Klima- und Entwicklungsproblematik des Rio- Nachfolgeprozesses. Dabei
wird sowohl der Teilnahme informeller, oft advokatorisch tätiger
Gruppierungen, wie der NGO's, als vor allem auch der Einbeziehung aller
direkt Betroffenen für das Zustandekommen akzeptabler Lö- sungen eine
herausragende Funktion zugeschrieben (vgl. Biermann 1998).
50 Hinsichtlich der Folgen für zukünftige Generationen ge schieht dies
advokatorisch.
5.4 Erläuterungen zu den Regeln 105
Erste konkrete Reformschritte im nationalen Rahmen könnten sich in
vielen Ländern auf eine Erwei terung bereits etablierter demokratischer
Formen und Verfahren beziehen. So wäre z.B. auch für die Bundesrepublik
Deutschland zu klären, ob neue Formen der direkten Demokratie, wie
Volksbegehren und Volksentscheide, aber auch Bürger- und Mediationsforen
und Runde Tische von Nutzen wären ? dies nicht zuletzt in Fragen der
gesellschaftlichen Zukunftsentwicklung.
Regel 2: Grundversorgung
Regel 2 soll die Befriedigung der elementarsten Überlebensbedürfnisse
des Individuums gewährleisten. Im Sinne der Bipolarität des Sozialen
bezieht sie sich unmittelbar auf einen Pol, das Individuum. Freilich ist
die Sicherung der Existenz der Individuen auch eine notwendige
elementare Bedingung des Überlebens der Gesellschaft insgesamt.
Legitimation erhält diese Regel durch den Menschenrechts-, den
Nachhaltigkeits- und den Gerechtigkeitsdiskurs.51
So wurde auf dem Kopenhagener äWorld Summit for Social Development? 1995
deklariert (und in den Konferenzdokumenten im einzelnen erläutert und
spezifiziert):
äFocus our efforts and policies to address the root causes of poverty
and to provide for the basic needs of all. These efforts should include
the elimination of hunger and malnutrition; the provision of food
security, education, employment and livelihood, primary health-care
services including reproductive health care, safe drinking water and
sanitation, and adequate shelter; and participation in social and
cultural life. Special priority w ill be given to the needs and rights o
f women and children, who often bear the greatest burden of poverty, and
to the needs of vulnerable and disadvantaged groups and persons? (WORLD
SUMMIT 1995, Declaration).
Für die theoretisch-argumentative Begründung der Regel können zwei
differente Begründungsstränge des Moral- bzw. Gerechtigkeitsdiskurses
herangezogen werden: Bedürfnisbefriedigungskonzeptionen einerseits und
Konzeptionen der Verteilungsgerechtigkeit andererseits.
Das Bedürfnisbefriedigungskonzept geht von mehr oder minder schwachen
anthropologischen Annahmen über die Natur des Menschen aus. Die
anthropologisch als universal gültig vorausgesetzte Grundlage der
Konzeption ist der äMensch? als verletzliches, bedürftiges Wesen. Ihre
moralische Prämisse
51 Wobei der Menschenrechtsdiskurs ebenfalls als Bestandteil des
Gerechtigkeitsdiskurs gesehen werden kann. Sinn macht es dennoch, ihn
hervorzuheben, weil die Staatengemeinschaft bezüglich der Menschenrechte
v ielfältige rechtliche Verpflichtungen eingegangen ist.
5 Operationalisierung der sozialen Dimension
106
ist die Vermeidung von Leid (vgl. Gosepath 1998). Ein allgemein
anerkannter Katalog von Grundbedürfnissen konnte zwar weder im
sozialwissenschaftlichen noch im moralphilosophischen Diskurs formuliert
werden, dennoch sind Grundbedürfnisse wie Gesundheit, Ernährung,
Wohnung, Kleidung und Absicherung in soz ialen Notlagen unumstritten.
Umstritten ist allerdings die Frage, inwieweit auch immaterielle,
kulturelle und soziale Bedürfnisse anerkannt werden sollen.
Ein Beispiel für Ansätze dieser Art ist der Vorschlag von Martha
Nussbaum, die u.a. auch in der UNO-Entwicklungshilfe tätig ist. Sie hat
zwei viel beachtete Listen von Grundgütern vorgelegt, die jedem Menschen
qua Menschsein zukommen müssen. Bei ihrer Konzeption gehe es ihr um die
Gesamtgestalt und den Inhalt der menschlichen Lebensform. Ihre Listen
seien ävage", weil sie Platz lassen möchten für vielfältige
Spezifizierungen, je nach den verschiedenen örtlichen und persönlichen
Kontexten. Die Listen sollen so allgemein wie möglich und in ihrer
leitenden Intuition so ausgerichtet sein, daß sie religiöse und
kulturelle Spaltungen überbrücken. Dabei geht Nussbaum von folgendem
aus: Erstens sei es evident, daß wir uns über viele Unterschiede der
Zeit und des Ortes hinweg gegenseitig als Menschen anerkennen. Die
Grundlagen für diese Anerkennung will sie in ihren Listen beschreiben,
indem sie jene Eigenschaften aufführt, von denen man annimmt, daß sie an
jedem beliebigen Ort ein Leben zu einem menschlichen Leben machen.
Zweitens behauptet sie, daß es einen weithin akzeptierten Konsens über
jene Eigenschaften gebe, deren Fehlen das Ende einer menschlichen
Lebensform bedeute (vgl. Nussbaum 1998, S. 196).
Konzepte hingegen, die Grundbedürfnisse primär nach Prinzipien der
Verteilungsgerechtigkeit berücksichtigen, messen dem Individuum Mittel
zu, die es substanziell mindestens dazu befähigen, vollwertiger Bürger
zu sein. In etlichen bedeutenden zeitgenössischen
Gerechtigkeitskonzeptionen wird gemäß dieses Ansatzes argumentiert (vgl.
Forst 1996, S. 215f.; Rawls 1975; Walzer 1992).52
Als gleichberechtigter Staatsbürger anerkannt zu sein bedeutet demgemäß,
auch soziale Rechte auf Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen
Leben zu haben und insbesondere auch über die Mittel zur Verwirklichung
der subjektiven Freiheitsrechte und der demokratischen
Partizipationsrechte zu verfü- gen (vgl. Regel 1). Soziale Rechte sind
demgemäß Rechte zur Verwirklichung von Rechten und nicht von ihnen zu
trennen. Sie sollen auch verhindern, daß
52 Die nachfolgenden Ausführungen zu Regel 2 stützen sich vor allem auf
Forst.
5.4 Erläuterungen zu den Regeln 107
ökonomische Macht als politische Macht mißbraucht wird, daß soziale
Ungleichheit politische Exklusion zur Folge hat.
In den erwähnten Theorien werden freilich i.a. nur die allgemeinen
Prinzipien sozialer Gerechtigkeit ausformuliert. Die konkrete
Realisierung dieser Prinzipien hingegen wird demokratischen
gesellschaftlichen Diskursen zugewiesen, in denen Gerechtigkeitsfragen
kontextuell und partizipativ zu entscheiden sind. Das Raffinement
solcher Ansätze besteht darin: explizit modellieren sie Gerechtigkeit
universell, implizit verweisen sie jedoch auf partikulare Kontexte.
Diese Struktur der Gerechtigkeitstheorien äpaßt? zur Struktur der
vorliegenden Konzeption: Erst auf der kontextualen Ebene (siehe Kap. 1)
soll ja bestimmt werden, wie im Kontext Bundesrepublik Deutschland
soziale Rechte konkret auszugestalten seien.
Zuletzt sei noch auf ein Problem auf der erwähnten Stufe der konkreten
Realisierung hingewiesen: Die betrachteten Ansätze überlassen es dem
Diskurs der Bürger, soz iale Gerechtigkeit konkret auszugestalten. Die
Problematik: In vielen Staaten dieser Erde werden sowohl politische als
auch soziale Bürgerrechte oft sogar der Mehrzahl der Bürger nicht
gewährt. Oft wurde und wird dies auch beeinflußt oder verursacht von
komplexen externen Einwirkungen, sprich sozialem Unrecht in
internationalem Maßstab, wie Prozessen und Strukturen der Ausbeutung und
Gewalt. Damit wird das oben erwähnte Problem erneut angesprochen, daß
die Bezugsrahmen von Partizipation heute oft nicht (mehr) gegeben sind,
daß Partizipation ins Leere läuft. Antworten zur Lö- sung dieses
Problems können nur in Konzeptionen internationaler Gerechtigkeit
gefunden werden.
Diesbezüglichen Konzeptionen werden in der politischen Philosophie
allerdings erst seit kurzem diskutiert und sind heftig umstritten (vgl.
Kersting 1997a, S. 243f.). So wird einerseits dafür plädiert,
Gerechtigkeitsprinzipien vom Ansatz her umstandslos auf die gesam te
Weltgesellschaft zu beziehen. Demgemäß müßte die Erste Welt direkte
aktive Verantwortung auch für die sozialen Mißstände der Dritten Welt
übernehmen und kompensierend sozialrelevante Umverteilungsmaßnahmen in
Gang setzen. Andererseits wird aber auch bestritten, daß
Gerechtigkeitskonzeptionen in dieser Art anzuwenden seien. Vielmehr gehe
es um die gerechte Gestaltung von Institutionen. Deshalb müßte, bevor
Güter weltweit gerecht verteilt würden, ein äWeltstaat? mit
entsprechenden konstitutionellen Institutionen geschaffen werden.
Solange dies nicht geschehen sei, müsse Unrecht ? vor allem in der
Dritten Welt ? auf herkömmliche Weise bekämpft werden, nämlich durch
Maßnahmen der UNO oder mittels Entwicklungshilfe.
5 Operationalisierung der sozialen Dimension
108
Im Augenblick ist zwar nicht sichtbar, wie dieser theoretische Streit
entschieden werden könnte. Einigkeit herrscht allerdings weithin, daß in
der globalen Kooperation von Staaten Vorteile und Lasten so verteilt
werden müssen, daß sich Zusammenarbeit auch für den ärmeren Partner
lohne und daß beträchtliche Phantasie erforderlich sei, um diese
Probleme ? einschließlich der äAltlasten? ? institutionell und
strukturell zu lösen (vgl. Kersting 1997b).53
Regel 3: Chancengleichheit
Der Grundgedanke der Regel 3 ist es, Individuem derart mit bestimmten
äGrundgütern? zu versehen, daß sie die gleichen Chancen haben, zu Voll-
Bürgern zu werden (vgl. Forst 1996, S. 215 sowie das dritte generelle
Nachhaltigkeitsz iel, Kap. 3.3). Das bedeutet: sowohl die gleichen
subjektiven Freiheitsrechte und politischen Rechte wahrnehmen, als auch
die gleichen Chancen zu haben, die eigenen Talente und Lebenspläne
verwirklichen zu können. Beide Faktoren gelten als essentiell für den
Erhalt von äSelbstvertrauen? und äSelbstachtung?, die im betrachteten
Zusammenhang ebenfalls zu den wichtigsten gesellschaftlichen Grundgütern
gezählt werden.
In der Regel 3 handelt es sich ? im Unterschied zu Regel 2 ? nicht um
elementare Überlebensgüter, sondern um äGrundgüter? in einem weiteren
Sinn. Insbesondere zählen zu diesen Gütern gleicher Zugang zu Bildung,
Information, im Gemeinbesitz befindlichen Ressourcen,
Arbeitsmöglichkeiten, Entlohnung sowie Ämtern und Positionen.54
Chancengleichheit zur Erlangung dieser Güter muß gewährleistet sein vor
allem hinsichtlich der Differenz der Geschlechter sowie hinsichtlich
ethnischer, rassischer und kultureller Unterschiede. Auch hier ist vor
allem für die gesellschaftlich besonders benachteiligten Gruppe zu
sorgen. Diese Forderungen werden vielfältig im Nachhaltigkeitsdiskurs
erhoben (vgl. AGENDA 21, WORLD SUMMIT), gerechtigkeitstheoretisch zu
begründen sind sie ganz analog wie die Forderungen der Regel 2 (vgl.
Forst 1996).
Explizit und detailliert seien in diesem Zusammenhang zwei Themenkreise
angesprochen: erstens soziale Mobilität und zweitens systemische soziale
Exklusion. Mit Mobilität wird die Möglichkeit der individuellen
Veränderung des sozialen Status bezeichnet, d.h. die Durchlässigkeit
zwischen den gesellschaftlichen Schichten (vgl. Hall 1997). Soziale
Mobilität, meist gemessen als
53 Vgl. dazu auch Regel 6 der ökologischen bzw. Regel 6 der ökonomischen
Dimension. 54 Zur Verteilung der natürlichen Ressourcen siehe die
ökologische Regel 6, Kap. 4.3.
5.4 Erläuterungen zu den Regeln 109
Differenz zwischen sozialer Herkunft und erreichter (Berufs)Position,
wird wesentlich durch Chancengleichheit ermöglicht.
Verhindert werden ? im Sinne von Chancengleichheit ? muß hingegen eine
spezielle Form sozialer Diskriminierung. Zu Diskriminierungsformen
zählen nämlich nicht nur die erwähnten traditionellen Formen nach
Geschlecht und ethnischer Herkunft, sondern es müssen hier auch neuere
Formen systemischer sozialer Exklusion beachtet werden. Damit sind
Ausschließungen aus Funktionssystemen der Gesellschaft gemeint, z.B.
Dauerarbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit, oft als Folgen schlechter
Ausbildung und/oder schlechten Gesundheitszustands. Luhmann schreibt
diesbezüglich zur Situation in Entwicklungsländern: äDenn die faktische
Ausschließung aus einem Funktionssystem ? keine Arbeit, kein
Geldeinkommen, kein Ausweis, keine stabilen Intimbeziehungen, kein
Zugang zu Verträgen und zu gerichtlichem Rechtsschutz, keine
Möglichkeit, politische Wahlkampagnen von Karnevalsveranstaltungen zu
unterscheiden, Analphabetentum und medizinische wie auch
ernährungsmäßige Unterversorgung ? beschränkt das, was in anderen
Systemen erreichbar ist und definiert mehr oder weniger große Teile der
Bevölkerung" (Luhmann 1997, S. 630f.). Kritisch merkt Nassehi in diesem
Zusammenhang an, daß analoge Phä- nomene durchaus auch in den
entwickelten Ländern zu beobachten wären (vgl. Nassehi 1997).
Regel 4: Selbständige Existenzsicherung
äArbeit? wird im Sinne der Regel 4 als frei übernommene Tätigkeit zur
Existenzsicherung verstanden. Keinesfalls ist mit diesem Begriff nur
Erwerbsarbeit (erst recht nicht das in Industrieländern noch weithin
übliche lebenslange Angestelltenverhältnis) verstanden. Sondern er
umfaßt jede Tätigkeit, die die Existenz sichert, so z.B. selbständige
Tätigkeit oder Kombinationen von Erwerbsarbeit und gesellschaftlich
anerkannter, aber nicht oder nur gering bezahlter Bürgerarbeit (s. u.).
äArbeit? kommt deshalb besondere Bedeutung zu, weil sie zwei eminent
wichtige gesellschaftliche Funktionen erfüllt. Erstens ist sie für die
meisten Menschen das Mittel, um ihre und die Existenz ihrer Familien auf
einer elementaren Ebene zu sichern.55 Und zweitens ist Arbeit in
wichtigen Hinsichten ein Bindeglied: Einerseits zwischen der
gesellschaftlichen Strukturebene und der individuellen Handlungsebene
(s.o.). Arbeit ist nämlich i.a. nur möglich als
55 Siehe dazu auch die Gedanken von A. Sen, der es als besonders wichtig
ansieht, Menschen in die Lage zu versetzen, für ihren Lebensunterhalt
selbst zu sorgen (siehe Kap. 3.3).
5 Operationalisierung der sozialen Dimension
110
ein Prozeß, der in vielfältige gesellschaftliche Prozesse und Strukturen
eingebettet ist. Andererseits verbindet Arbeit auch die ökologische,
soziale und ökonomische Dimension: im Arbeitsprozeß werden ökonomische,
ökologische und soziale Ressourcen auf zweckhaft-sinnvolle Weise
miteinander verflochten. Individuelle Arbeit, die somit immer auch
gesellschaftliche Arbeit ist, stellt deshalb auch einen wesentlichen
Integrationsfaktor der Gesellschaft dar.
Dieser Bedeutung angemessen, wird Arbeit auch im Nachhaltigkeitsdiskurs
ein hoher Stellenwert eingeräumt. So wurde auf dem äWorld Summit for
Social Development? 1995 folgendes ausgesprochen bzw. bekräftigt:
äWe know that poverty, lack of productive employment and social
integration are an offence to human dignity. (...) that they are
negatively reinforcing and represent a waste of human resources and a
manifestation of ineffectiveness in the functioning of markets and
economic and social institutions and processes? (WORLD SUMMIT 1995,
Declaration).
äProductive work and employment are central elements of development as
wel l as decisive elements of human identity? (WORLD SUMMIT 1995,
Programme of Action).
äWe commit ourselves to promoting the goal of full employment as a basic
priority of our economic and social policies, and to enabling all men
and women to attain secure and sustainable livelihoods through freely
chosen productive employment and work? (WORLD SUMMIT 1995, Commitments).
Auch diese Verpflichtung wird in den Dokumenten der Konferenz in vielen
Details erläutert und spezifiziert. Demnach soll Arbeit durch
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf unterschiedlichsten Ebenen ermöglicht
werden, insbesondere auch für Frauen, die ? auch was
Arbeitsmöglichkeiten betrifft ? weltweit diskriminiert werden, obwohl
sie die Hauptlast des sozialen Lebens tragen. Es soll mit Hinblick auf
Arbeit das Augenmerk auch auf die anderen benachteiligte Gruppen wie
Jugend, Behinderte, Alte, indigene Gruppen gerichtet werden. Arbeit soll
weiterhin durch Kooperation von Staat und all den anderen Partnern der
Zivilgesellschaft verfügbar gemacht werden. Schließlich sollen
Erweiterungen produktiver Arbeitsmöglichkeiten das Zentrum von
Strategien für nachhaltige Entwicklung bilden.
Die gesellschaftliche Bedeutung von Arbeit und die Forderung nach Arbeit
wird andererseits auch durch den philosophischen und
sozialwissenschaftlichen Diskurs begründet (vgl. z .B. Orsi et al.
1996). So gibt es nach Steinvorth eine milde und eine strenge Deutung
eines äRechts auf Arbeit? (vgl. Steinvorth 1996).56 Nach der milden
Deutung kann das Recht auf Arbeit abgegolten wer-
56 Das Recht auf Arbeit wird auch in diversen Staatsverfassungen
festgeschrieben, es ist auch Bestandteil des äInternationalen Pakts über
wirtschaftliche, soziale, und kulturelle Rechte?.
5.4 Erläuterungen zu den Regeln 111
den durch finanzielle Zuwendungen im Falle der Arbeitslosigkeit, die
strengen Deutung hingegen postuliert eine Pflicht des Staates, jedem
Arbeitswilligen eine Arbeitsgelegenheit zu sichern.
Obwohl die milde Deutung heute für marktwirtschaftlich organisierte
(Sozial-)Staaten als überwiegende Praxis gelten kann, können starke
Argumente gegen sie geltend gemacht werden: Sie verträgt sich erstens
nicht mit dem bestehenden Bedürfnis nach Arbeit; sie läßt zu, daß
menschliche Fähigkeiten brach liegen, daß das Selbstwertgefühl von
Arbeitslosen ramponiert wird und daß die Einheit der Gesellschaft
brüchig wird; sie impliziert eine Politik, die in der dritten Welt nicht
anwendbar ist; und sie würde auf lange Sicht Westeuropa zwingen, sich
gegen den Rest der Welt abzuschotten. Schon aus dieser pragmatischen
Sicht ? und durchaus im Einklang mit den oben referierten Forderungen
des Nachhaltigkeitsdiskurses ?, wäre somit zu fragen, ob nicht eher die
strenge Deutung zur Handlungsgrundlage gemacht werden sollte.
Für die strenge Deutung eines Rechts auf Arbeit werden von Steinvorth
gerechtigkeitstheoretische Argumente ins Feld geführt: Eine
Grundintention der Menschenrechte ist demnach der Gedanke, daß jeder
Mensch ein Recht darauf hat, seine Fähigkeiten zu entwickeln, solange
dies nicht mit analogen Rechten anderer Menschen kollidiert.57 Somit
wird die Ausübung von Arbeit ? als i.a. nicht-destruktiver Fähigkeit ?
in strengem Sinn von den Menschenrechten impliziert: Das Recht auf
Arbeit muß demnach als Recht verstanden werden, sich seine eigenen
Fähigkeiten und die materiellen Bedingungen ihrer Betätigung, die
natürlichen Ressourcen, anzueignen. Die damit verknüpfte Prämisse, daß
natürliche Ressourcen Gemeineigentum sind, zu dem prinzipiell jedem
Mensch Zugang gewährt werden muß, geht auf Locke zurück, durch die
aktuellen internationalen Rechtsverhältnisse wird sie freilich nur
teilweise ? so bezüglich der Schätze des Meeresbodens, der Antarktis,
des Mondes ? bestätigt.58 Eine weitere indirekte Bekräftigung erhält
diese Prämisse allerdings durch das Nachhaltigkeitsprinzip, das die
heutige Generation verpflichtet, zukünftigen Generationen den
produktiven Gebrauch der natürlichen Ressourcen zu ermöglichen ?
andernfalls geschähe ihnen Unrecht. Wenn man dies anerkennt, so ist die
folgende Argumentation nachvollziehbar: Im Falle der Arbeitslosigkeit
könnten einige ? nämlich die davon betroffenen ? Individuen im Gebrauch
57 Solch eine Kolli sion ist heute u.U. indirekt durch
Ressourcenknappheit gegeben. Die Arbeit jedes einzelnen müß te deshalb
heute gegebenenfalls den durch die Ressourcenknappheit bedingten
Beschränkungen unterliegen, und der Staat wäre in seiner Rechtspflicht
auf Arbeitsplatzsicherung diesen Beschränkungen ebenfalls unterwo rfen.
58 Allerdings gab es noch in den 70er Jahren Intentionen, alle natür lic
hen Ressourcen zum gemeinsamen Erbe der Menschheit zu erklären (vgl.
Bartholomäi 1998).
5 Operationalisierung der sozialen Dimension
112
natürlicher Ressourcen durch andere Individuen ebenso benachteiligt
sein, wie einige zukünftige Generationen durch den Gebrauch der
Ressourcen durch andere Generationen. Aus der ? heute weithin
völkerrechtlichen anerkannten ? Verpflichtung der Staaten zur
Nachhaltigkeit kann dann auch die Rechtspflicht des Staates zur
Arbeitsbeschaffung gefolgert werden. Damit wäre ein Recht auf Arbeit in
seiner starken Deutung begründet. Dieses Recht wäre zwar u.U. gewissen,
durch Ressourcenknappheit bedingten Beschränkungen unterworfen, aber aus
diesen Beschränkungen folgte keinesfalls die Verpflichtung, sich mit
Arbeitslosenunterstützung zufrieden zu geben. Denn nach der hier
referierten Auffassung hat der Staat vor al lem die Aufgabe, subjektive
Rechte, hier insbesondere das Recht auf Arbeit als ädemiurgischer
Fähigkeit?,59 zu schützen und nicht statt dessen den Verlust von
Konsummitteln mildtätig zu kompensieren. Diese Argumentation
demonstriert, daß das äRecht auf Arbeit? als ein
gerechtigkeitstheoretisches Postulat gelten kann, mit dem man sich
übrigens schon im Sinne einer wünschenswerten Kohärenz einer umfassenden
Nachhaltigkeitskonzeptionen auseinandersetzen muß.
Die Frage, ob und wie sich dieses streng gedeutete Recht auf Arbeit
verwirklichen ließe, ist freilich ? auch für Steinvorth ? eine ganz
andere Frage, auf die es keine einfachen Antworten gibt.
Lösungsvorschläge für dieses Problem gehören freilich auch nicht mehr zu
den Zielsetzungen des vorliegenden Berichts, sondern sind der
kontextuellen bzw. strategischen Ebene vorbehalten. Trotzdem sei
angemerkt: Zu operationalisieren ist Regel 4 nach unserer Auffassung in
drei Hauptpunkten. Erstens muß geprüft werden, wie die am Markt
nachgefragte (und derzeit in der Tendenz stetig sinkende) Arbeitsmenge
gerechter verteilt werden kann; zweitens muß nachgedacht werden, ob und
wie diese Arbeitsmenge vergrößert werden kann; und drittens sollte
untersucht werden, ob nicht neue zukunftsfähige Kombinationen von
formeller Erwerbsarbeit und ebenfalls gesellschaftlich honorierter
informeller Tätigkeit gefunden werden können (zu detaillierteren
Erörterungen siehe z.B. Wehner 1997).
59 Gemäß diesem Begriff ermöglicht Arbeit dem Menschen, schöpferi sche
Fähigkeiten auszu- üben, die die Welt und die Gesell schaften
transformieren. Ohne diese Fähigkeiten würde er zum Spielball na
türlicher und sozialer Kontingenzen.
5.4 Erläuterungen zu den Regeln 113
Regel 5: Sozialressourcen
Diese Regel zielt darauf ab, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu
erhalten bzw. zu stärken. Damit soll äanomischen? gesellschaftlichen
Tendenzen60 entgegengewirkt werden. Als Inbegriff integrationsfördernder
Tugenden und Institutionen (im weitesten Sinne) wird von Wehling und
Empacher der Begriff äSozialressource? vorgeschlagen (vgl.
Empacher/Wehling 1998). Dieser Terminus integriert drei Begriffe:
unterschiedliche Konzepte von äSozialkapital?, äKulturkapital? und
äWissenskapital?, die alle drei nicht rein ökonomisch verstanden werden
dürfen.
Sozialkapital wird konzeptualisiert als die Gesamtheit der in sozialen
Beziehungen und anerkannten sozialen Normen enthaltenen sozialen
Handlungspotentiale. Sozialkapital trägt ? durch die Aufrechterhaltung
sozialer Beziehungsnetze und die Bildung von Vertrauen etc. ? einerseits
bei zu gewaltfreiem gesellschaftlichen Zusammenleben und zur
Reproduktion von Gesellschaften, andererseits ist es auch von zentraler
Bedeutung für die Entwicklungsfähigkeit von Gesellschaften. Unter
letzterem Aspekt gesehen, liegt der Schwerpunkt auf der qualitativen
Weiterentwicklung von vorhandenen Formen, zum Beispiel im Sinne
zunehmender Offenheit für neue und andere Lebensformen. Beide Aspekte
sind jedoch eng miteinander verknüpft: die Reproduktion sozialer
Beziehungen muß Spielräume für neue Entwicklungen schaffen, die
Entwicklungsdynamik darf umgekehrt nicht zur gesellschaftlichen
Desintegration führen.
Die zweite Komponente des Begriffes Sozialressource, das Kulturkapital,
umfaßt nach Bourdieu einerseits individuell angeeignete Fertigkeiten und
Fä- higkeiten zur äHerstellung? und zum Verständnis von Kultur sowie
auch Erfahrungen und gelernte Traditionen, andererseits die
Materialisierungen solcher Fertigkeiten als objektiviertes
Kulturkapital61 (vgl. Bourdieu 1983). (Dem Erhalt und der
Weiterentwickling des Kulturkapitals, insbesondere auch dem Er-
60 Dies sind Tendenzen, die u.U. die Funktions- und
Entwicklungsfähigkeit der Gesellschaft, ihre Integration oder sogar
ihren Bestand gefährden können. Stichworte dazu sind: die soziale
Ungleichheit wird verschärft, die Kluft zwischen arm und reich
vergrößert sich; soziale Gruppen und Milieus werden vom Zugang zu
materiellen und kulturellen Gütern ausgegrenzt; soziale
Sicherungssysteme und Infrast ruktureinrichtungen werden eingeschränkt
bzw. eingespart; ethnisch-kulturelle Spannungen nehmen zu; kulturelle,
religiöse und familiale Orientierungsmaßstäbe geraten ins Schwanken; das
Mißtrauen in die Funktionsfähigkeit der Demokratie wächst; Zukunftsangst
macht sich immer stärker breit; es findet Rückzug aus den Institutionen
statt; Lebenszusammenhänge werden fragmentiert usw. 61 Z.B.
Kunstgegenstände.
5 Operationalisierung der sozialen Dimension
114
halt der Vielfalt der Kultur wird im folgenden ? entsprechend dem
Stellenwert der Thematik im weltweiten Diskurs ? eine eigene Regel
gewidmet.)
Schließlich bezieht sich Wissenskapital, im nicht ökonomischen Sinn
verstanden, auf soziale oder kulturelle Sachverhalte. Bildung zum
Beispiel ist nicht nur ? im Produktionsprozeß ? ökonomisch von
Bedeutung, sondern sie kann auch als Quelle von Lebensqualität erfahren
werden und kollektiv nützlich für die Entwicklung von sozialem Kapital
sein, etwa indem sie Toleranz fördert.
In der Literatur werden vielfältige konkrete soziale Integrationsmodi
und -ressourcen diskutiert. Der Rekurs auf Traditionen z.B. soll über
die Geltung unbefragter kultureller Selbstverständlichkeiten integrieren
(vgl. Heitmeyer 1987c, S. 52). Gesellschaftlich konservative Positionen
fordern ? nach Rohrmoser ?, daß Religionen angesichts der Erfahrung
totaler Kontingenz gesellschaftlicher Prozesse eine äStabilisierung des
Daseins" übernehmen (vgl. ebd., S. 56). Das Konzept des kommunikativen
Handelns baut nach Habermas angesichts gesellschaftlicher Konflikte auf
den äDiskurs?, um rational fundierte Übereinstimmungen zu erzielen (vgl.
ebd., S. 55). Fairer gesellschaftlicher Interessenausgleich und
Gerechtigkeit werden von Nunner-Winkler als universelle, substanzielle
und Solidarität generierende Wertebasis moderner Gesellschaften
angesehen (vgl. Sander/Heitmeyer 1987, S. 466). Die Erneuerung
intermediärer Assoz iationen und sozialer Milieus (Parteien,
Gewerkschaften, Jugendverbände) soll nach Offe freischwebende
Wertorientierungen unterstützen, z.B. indem sie das Vertrauen schaffen,
daß regelgebundenes Handeln nicht ausgebeutet wird und daß Regeln auch
in Zukunft Geltung haben werden (vgl. ebd., S. 451). Anspruchsvollen
Formen von Konfliktregulierung schließlich ? Konfliktregulierung als
gesellschaftlicher Dauerzustand verstanden ? sind gemäß Dubiel als neuer
Integrationsmodus moderner Gesellschaften anzusehen (vgl. ebd., S. 448,
454) usw.
Die generelle und ausschließliche Wirksamkeit jeder dieser Vorschläge
ist hinsichtlich unterschiedlicher sozialer Kontexte hochgradig
umstritten ? auf Grund der Ambivalenzen sozialer Prozesse und Strukturen
ist dies auch plausibel (siehe Kap. 5.1). Keineswegs können diese
Konzepte deshalb in die Form allgemeingültiger Rezepte gebracht werden.
Aus diesem Sachverhalt wäre für die Operationalisierung der Konzepte die
folgende Konsequenz zu ziehen: Unterschiedliche Integrationsmodi und
-ressourcen müssen ? je nach sozialem Kontext ? auf ihre jeweiligen
Wirksamkeitsreichweiten, sozialstrukturellen Gültigkeiten und
Wechselwirkungen überprüft werden (vgl. Heitmeyer 1987c, S. 53).
5.4 Erläuterungen zu den Regeln 115
Dies gilt übrigens auch für die in der hier vorgeschlagenen Regel
gewählte Konkretisierung sozialer Ressourcen. Diese Regel zeichnet
Solidarität, Toleranz,62 Selbstorganisation und die Fähigkeit zur
gewaltfreien Konfliktregulierung als für die Integration einer
Gesellschaft von zentraler Relevanz aus. Diese Ziele erscheinen
plausibel vor allem mit Hinblick auf drei Themen, die heute zu den
weltweit gravierendsten Nachhaltigkeitsproblemen gezählt werden. Das
sind erstens die mit der Globalisierung einhergehenden rasanten
desintegrierenden Veränderungen sozialer Strukturen; zweitens
ethnisch-kulturelle Konflikte, die übrigens auch für die Bundesrepublik
Deutschland als (zukünftiges) Nachhaltigkeitsproblem diskutiert werden;
und drittens weltweit geführte (Bürger-)Kriege, die soziale
Nachhaltigkeit in vielen Regionen der Erde bedrohen oder zerstören.
Regel 6: Kulturelle Vielfalt
In Anlehnung an Prinzipien des äWorld Report of Culture and Development?
der von der UNESCO 1991 eingesetzten unabhängigen äWorld Commission on
Culture and Development? wird bezüglich der Regel 6 von zwei
unterschiedlichen Aspekten von Kultur63 ausgegangen (vgl. Bernecker
1998; UNESCO 1997). Erstens von ihrem instrumentellen Charakter:
Kulturelle Fä- higkeiten und Kapazitäten können wichtige Instrumente der
sozio- ökonomischen Entwicklung von Gesellschaften sein. Zweitens wird
Kultur aber auch ein Eigenwert zugeschrieben: Sie dient nicht nur dazu,
ökonomische und soziale Ziele zu verwirklichen, sondern sie ist selbst
die äsoziale Basis" dieser Ziele. In diesem Sinne bestimmt Kultur unter
anderem, wie Menschen zusammenleben und zusammenarbeiten und wie sich
Menschen auf ihre physische Umwelt, die Natur, die Erde und den Kosmos
beziehen. In dieser Sichtweise ist es sinnlos, von Kultur und
Entwicklung als zwei getrennten Aspekten zu sprechen, weil Entwicklung
einen Teil der menschlichen Kultur darstellt (vgl. auch Gerstenberg
1998).
62 Zur Problematik von Solidarität und Toleranz siehe Heitmeyer 1987c,
S. 58, bzw. Sander/Heitmeyer 1987, S. 459. 63 In der berühmten
äErklärung von Mexico City? der zweiten UNESCO-Weltkonferenz über
Kulturpolitik von 1982 stimmten die Konferenzteilnehmer darin überein,
ädaß die Kultur in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der
einzigartigen geistigen, materiellen und emotiona len Aspekte angesehen
we rden kann, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe
kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern
auch Lebensformen, die Grundrechte der Menschen, Wertesysteme, Trad
itionen und Glaubensrichtungen? (van Hasselt 1998).
5 Operationalisierung der sozialen Dimension
116
Solch eine Auffassung impliziert freilich auch, daß Kultur nicht als
statisches Konzept begriffen wird. Vielmehr muß Kultur als ein
dynamischer Zustand gesehen werden, von anderen Kulturen beeinflußt und
andere Kulturen beeinflussend sowohl durch friedlichen Austausch als
auch durch Konflikt. Die Kultur eines Landes spiegelt also einerseits
seine Geschichte, Sitten, Institutionen, sozialen Bewegungen, Konflikte
und Kämpfe nach innen und nach außen wider ? dabei darf nicht übersehen
werden, daß wahrscheinlich alle Gesellschaften selbst multikulturelle
Gebilde sind. Die Kultur eines Landes ist andererseits ausgesetz t dem
Spannungsfeld von Tradition und Modernität ? beide ambivalent bewertet
und zu bewerten. So werden einerseits repressive Tendenzen der Tradition
wahrgenommen: Unterdrückung, Privilegienstrukturen und grausame
Kulturpraktiken (Initiationsriten); andererseits trägt Modernität bei zu
Entfremdung, Anomie, Exklusion und dem Verlust von Identität und
Gemeinschaftssinn.
In dieser umfassenden Sicht ist Kultur die wichtigste Quelle von
Kreativität und muß deshalb in ihrer Vielfalt erhalten bleiben. Die
Bedingung dafür ist der wechselseitige Respekt zwischen allen Kulturen.
Er beruht darauf, daß die Differenzen zwischen Kulturen nicht verachtet
werden, sondern als eine Quelle gegenseitiger Belehrung und Belebung
erfahren werden. äEthnische Säuberungen?, religiöser Fanatismus, soziale
und rassische Vorteile haben in einem solchen Konzept keinen Platz.
Kulturelle Freiheit muß aus diesem Grund auf den Säulen der von der
internationalen Gemeinschaft anerkannten Menschenrechte und des
Völkerrechts gelebt werden ? sowohl innerhalb von als auch zwischen
Staaten. Kulturelle Freiheit ist ein kollektives Recht, möglicherweise
auftretende W idersprüche zu den individuellen Freiheiten der
Menschenrechte müssen ausbalanciert werden (vgl. Münch 1998, S. 231).
Die Vielfalt der Kultur ist heute bedroht auch durch
wirtschaftlichtechnische Prozesse der Globalisierung in Handel, Finanzen
und Kommunikation. (vgl. Pronk 1998). Sie werden begleitet von Tendenzen
einer internationalen kulturellen Uniformierung. Sichtbar wird dies z.B.
an der Vereinheitlichung städtischer Kulturen. So können zum einen
selbst in unseren Städten kulturelle Assimilationsprozesse wahrgenommen
werden; im Sinne kultureller Nachhaltigkeit erwünscht wären hingegen
Integrationsprozesse, die kulturelle Vielfalt bewahrten und entfalteten.
Zum anderen gehen Uniformierungstendenzen oft auch Hand in Hand mit
Prozessen der Verwüstung städtischer Kulturen (Slumbildung,
Drogenmißbrauch, Gewaltverbrechen). Vor allem betreffen diese Bed
rohungen die Kulturen der Ärmsten und Schwächsten, in diesem
Zusammenhang werden die weltweite Benachteiligung von Frauen, die
Ausbeutung von Kindern und die Auslöschung indigener Völker genannt.
5.4 Erläuterungen zu den Regeln 117
Vor dem Hintergrund dieser Erläuterungen ist von einer Erweiterung des
herkömmliche Konzepts von Kultur und des kulturellen Erbes auszugehen.
Mit Kultur sind demgemäß nicht nur spektakuläre kulturelle Monumente
gemeint, sondern auch kulturelle Fähigkeiten und Fertigkeiten des
Alltags sowie das immaterielle, in Traditionen enthaltene kulturelle
Gedächtnis, vor allem auch die Vielfalt der Sprachen.64
Im Rahmen einer Nachhaltigkeitskonzeption kommt der hier angesprochenen
Konzeption von kultureller Vielfalt besondere Bedeutung zu. Wenn man
nämlich den Menschen im erläuterten Sinn als Kulturwesen ansieht, so
bedeutet dies u.a.: Die mit Nachhaltigkeit implizierte weitgehende
Umstellung unserer Lebens-, Produktions- und Konsumgewohnheiten ist als
eine kulturelle Transformation der Gesellschaften anzusehen. Nachhaltige
Entwicklung wirkt also nicht von außen auf die Kultur, sondern ist so
gesehen selbst Teil der Kultur der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang
ist zu fragen, was unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen mit ihren
speziellen (Sub)Kulturen, was Instanzen des kulturellen Lebens wie
Kunst, W issenschaft und Erziehungswesen zu diesem Prozeß beitragen und
wie solche Prozesse zwischen den unterschiedlichen Kulturen der Welt
vermittelt werden können (vgl. Bleicher- Nagelsmann 1998).65
Widergespiegelt wird dieser Nachhaltigkeitsaspekt von kultureller
Vielfalt von einem äAktionsplan? der Stockholmer Weltkulturkonferenz der
UNESCO des Jahres 1998, insbesondere durch das erste äPrinzip? sowie die
erste äZielvorgabe? dieses Plans (vgl. Aktionsplan 1998).66 Um Kultur in
ihrer Vielfalt zu erhalten und kreativ weiterzuentwickeln, fordert der
Aktionsplan angemessene Strategien und Politiken. Kulturelle Entfaltung
wird dabei als mit nachhaltiger Entwicklung untrennbar verknüpft
konzipiert. Kulturpolitik wird als Querschnittsaufgabe angesehen, wobei
insbesondere für Soz ial- und Wirtschaftspolitik kultursensible
Entscheidungskriterien gefordert werden. Kulturelle Ent-
64 Man befürchtet, daß 90 Prozent der Sprachen im kommenden Jahrhund ert
aussterben werden (vgl. Bernecker 1998). 65 Über das Wirken dieser
Instanzen hinaus kommt freilich in diesen P rozessen auch internationa
len Institut ionen, wie z.B. der Weltbank, große Bedeutung zu (vgl.
Serageldin 1998). 66 Als äpolitische Zielvorgaben? an die
UNO-Mitgliedstaaten emp fiehlt der Aktionsplan: 1. Kulturpolitik zu
einem der Schlüsselelemente einer Entwicklungstrategie zu machen. 2. Die
Kreativität und die Te ilnahme am kulturellen Leben zu fördern. 3.
Politikplanung und politische Praxis im Sinne verstärkter Maßnahmen für
die Wahrung und Aufwertung des materiellen und immateriellen sowie des
beweglichen und unbeweglichen Kulturerbes zu gestalten und Kulturindus
trien zu fördern. 4. Die kulturelle und sprachliche Vielfalt in der und
für die Informationsgesellschaft zu fö rdern. 5. Mehr personelle
Kapazitäten und finanzielle Mittel für die kulturelle Entwicklung
verfügbar zu machen.
5 Operationalisierung der sozialen Dimension
118
wicklung soll demgemäß in den Vordergrund der nächsten
UN-Entwicklungsdekade gestellt werden, der Auseinandersetzung mit dem
Leitbild der nachhaltigen Entwicklung wird dabei ein besonderer
Stellenwert zugewiesen (vgl. van Hasselt 1998).
Abschließend sei auf folgendes hingewiesen: Der optimistische Tenor der
hier referierten Ideen und Absichten darf nicht darüber hinwegtäuschen,
daß sie mannigfaltige, auch prinzipiell ungelöste Probleme und
Schwierigkeiten in sich bergen, die im Zuge der weiteren
Operationalisierung der hier vorgeschlagenen Regel berücksichtigt werden
müssen. Als Probleme werden beispielsweise genannt (vgl. Kramer 1998):
1. Das oben erwähnte revolutionäre neue Verständnis von äKultur auch als
Selbstzweck?, verknüpft mit einem von Levi- Strauss propagierten und in
UNESCO-Dokumenten beifällig aufgenommenen kulturellen
Differenzparadigma, könnte ? gedacht als Abkehr von einem weltweiten l
inearen Entwicklungsprozeß auf das gleiche Ziel hin ? zu einer Welt-
Ständegesellschaft führen, in der die Angehörigen der reichen
Industrienationen besondere materielle Privilegien innehaben. 2.
Kulturelle Vielfalt hat auch ihre Risiken. Unter bestimmten
sozialstrukturellen Bedingungen könnten sich z.B. ethnische Spannungen
verstärken. Zusammenhängend damit wird die Frage nach den Grenzen
kultureller Toleranz aufgeworfen (siehe dazu auch die Erläuterungen zu
Regel 1). 3. Auch profunde konzeptionelle Probleme werden
diagnostiziert: Es sei fragwürdig Kultur, gemäß eines unterstellten
Subjektcharakters von Völkern oder kulturellen Gruppen zu modellieren,
wie es z.B. in der Formulierung äJedes Volk kann seinen eigenen Weg der
Modernisierung gehen? zum Ausdruck komme. Kulturen seien in sich nämlich
weder kompakt noch homogen, angemessener sei das Bild von einem
dynamischen und sich ständig wandelnden Kraftfeld der Kultur. Zu
Berücksichtigen sei in diesem Zusammenhang auch, daß Identitäten,
ägezimmert? aus Kultur, Ethnizität und Religion, immer auch Instrumente
von Interessenpolitik und Macht seien. Dies könnte erstens ? als Folge
zeitlich variabler Interessenlagen ? diese Identitäten der Stabilität
berauben, und zweitens könnten diese Instrumente auf Kosten von
Individuen genutzt werden. Viele naive Kampagnen für die Rechte der
Völker berücksichtigten dies nicht. ? Diese prinz ipiellen Probleme
weisen auf eine Schwäche der UNESCO-Konzeption hin: Sie ist eher ein
Produkt pragmatisch-politischer Verhandlungen als eine stringente
Konzeption auf anspruchsvollen kulturtheoretischen Grundlagen (zu
letzteren vgl. Schnädelbach 1994; Geyer 1994).
6 Operationalisierung der ökonomischen Dimension
Um die Funktion und Konkretisierung der ökonomischen Dimension in dem
integrativen Untersuchungsansatz des HGF-Vorhabens beschreiben und
begründen zu können, wird im folgenden ein etwas grundsätzlicherer Blick
auf die zentrale Bedeutung des ökonomischen Systems, seine konstitutiven
Elemente und die dazu bestehenden verschiedenen Positionen gerichtet.
6.1 Was bedeutet äWirtschaften??
Das ökonomische System stellt ein Teilsystem des Gesellschaftssystems
dar, ebenso wie etwa das politische oder das wissenschaftliche System.
Es setzt sich im wesentlichen aus den Akteursgruppen private Haushalte,
Unternehmen und Staat zusammen. In einer ganz allgemeinen Definition
besteht der Handlungszweck bzw. die Funktion dieses Systems, oder anders
ausgedrückt des W irtschaftens, in der Produktion von Gütern und
Dienstleistungen (vgl. Gabler Wirtschaftslexikon 1988, S. 2791). Diese
Güter und Dienstleistungen sowie die daraus erzielten Einkommen dienen
der Befriedigung materieller Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder
bzw. der Sicherung der materiellen Existenz einer Gesellschaft. Sie
tragen damit zum Nutzen bzw. zur Wohlfahrt der Individuen bzw. der
Gesellschaft bei.
Der Prozeß des Wirtschaftens wird dabei im wesentlichen durch drei
Elemente bestimmt: durch die Rahmenbedingungen einer spezifischen
Wirtschaftsverfassung bzw. -ordnung, durch den Einsatz der
Produktionsfaktoren (menschliche Arbeit, von Menschen hergestelltes
Sachkapital, natürliche Ressourcen, Wissen) in bestimmter Kombination
sowie durch spezifische Daten zu Bevölkerungszahl und -struktur, zu
geographischen oder klimatischen Gegebenheiten usw.
Gegenstand wirtschaftswissenschaftlicher Betrachtungen ist die Analyse
dieses Wirtschaftsprozesses. Der Fokus ist hier zum einen auf die
wirtschaftlichen Aspekte der Verteilung knapper Güter bzw. Ressourcen
auf Individuen und Gruppen (Distribution) sowie auf Verwendungszwecke
(Allokation) gerichtet, zum anderen auf die Ziele und Mittel zur
Gestaltung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Dabei lag den Analysen
der klassischen und der ? nach wie vor dominierenden ? neoklassischen
Wirtschaftstheorie lange Zeit ausschließlich das Menschenbild des
sogenannten ähomo oeconomicus? zugrunde. Dessen wesentliches
Charakteristikum besteht in seiner Fähigkeit zu uneinge-
6 Operationalisierung der ökonomischen Dimension
120
schränkt rationalem Verhalten. Handlungsbestimmend sind demnach für ihn
vor allem das Streben nach Nutzenmaximierung (bei Konsumenten) bzw. nach
Gewinnmaximierung (bei Produzenten). Weitere Annahmen in diesem
Verhaltensmodell sind die zu jeder Zeit vorhandene vollständige
Information über sämtliche Entscheidungsalternativen und deren
Konsequenzen sowie die vollkommene Markttransparenz.
In neueren entscheidungs- und verhaltenstheoretischen Ansätzen wird
versucht, diese unrealistischen Annahmen durch ein realistischeres Bild
des wirtschaftenden Menschen zu ersetzen, das von beschränkt rationalen
Entscheidungsprozessen und -grundlagen ausgeht. Gleichwohl können die
Bedürfnisbefriedigung bzw. die genannten Maximierungsziele nach wie vor
als die generellen Zielsetzungen der Akteure in der ökonomischen
Dimension bezeichnet werden. Unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten sind
an diese inhärent ökonomischen Zielsetzungen weitergehende Kriterien
anzulegen, anhand derer ihre Aufrechterhaltbarkeit zu prüfen ist.
Vor dem Hintergrund dieser Ziele bildet die Frage, wie die Produktion
von Gütern und Dienstleistungen erfolgen soll, ein Kernelement
wirtschaftswissenschaftlicher Analysen. Betrachtungsebenen sind hierbei
zum einen die mikroökonomische Ebene, die sich mit den Handlungen der
verschiedenen Akteure (Produzenten, Konsumenten; Staat, Private;
Anbieter, Nachfrager) vorwiegend auf der Basis
gleichgewichtstheoretischer Überlegungen befaßt; zum anderen die
makroökonomische Ebene, die aggregierte Größen wie Beschäftigung,
Preisniveau, Geldmenge, Soz ialprodukt, Investitions- und Sparquote usw.
im Rahmen kreislaufwirtschaftlicher Betrachtungen einer Volkswirtschaft
zum Gegenstand hat.
Dieses äWie des W irtschaftens? läßt sich in allgemeiner Weise durch die
Maßgabe des ävernünftigen Umgangs mit absolut oder relativ knappen
Gütern? beschreiben. Daraus leitet sich das in der Vorstellung der
Mehrzahl der Ökonomen fundamentale äökonomische Prinzip? ab. Diese auch
als Effizienzprinzip bezeichnete Leitlinie besagt, daß ein bestimmtes
Produktionsergebnis mit dem geringstmöglichen Mitteleinsatz
(Minimalprinzip) bzw. daß mit gegebenem Mitteleinsatz und bei gegebenen
Bedingungen ein größtmögliches Ergebnis (Maximalprinzip) erzielt werden
soll. Auch in der Nachhaltigkeitsdebatte wird diesem Aspekt nicht nur
von Ökonomen erhebliche Bedeutung beigemessen.
Anzumerken ist, daß dieses Effizienzprinzip von der Niveaufrage
abstrahiert. Es beschreibt eine ausschließlich mit Blick auf die
Produktionsseite formulierte Ziel-Mittel-Beziehung und läßt dabei die
wesentlich durch das gesellschaftliche Konsumverhalten bestimmte
Gesamtmenge der produzierten
6.2 Zum Stand der Debatte 121
bzw. konsumierten Güter und Dienstleistungen einer Gesellschaft und den
damit verbundenen Gesamtaufwand bzw. -schaden außer Acht. Ein Beispiel
mag dies verdeutlichen: Inwieweit etwa die Reduzierung des spezifischen
Energieverbrauchs von Produktionsanlagen oder von Konsumgütern wie
Automobilen oder Kühlschränken letztlich zu einer Reduzierung des
Gesamtenergieverbrauchs führt, hängt entscheidend von der Anzahl der
genutzten Güter sowie von der Intensität ihrer Nutzung ab.
Die Fokussierung in der ökonomischen Dimension auf die Wie-Fragen wurde
beispielsweise auch von der Enquete-Kommission äSchutz des Menschen und
der Umwelt? diagnostiziert. Sie mißt ökonomischen Zielen wie
beispielsweise der Effizienz keinen Selbstzweck bei, sondern eine
letztlich nachgeordnete Funktion, bezogen auf bestimmte soziale und
ökologische Ziele (vgl. Enquete-Kommission 1998, S. 27).
6.2 Zum Stand der Debatte
Im Sinne der beschriebenen Ziel-Mittel-Beziehung beschäftigt sich die
äherrschende Lehre? der Wirtschaftswissenschaften vorwiegend mit den
drei schon angesprochenen Themenbereichen. Das Hauptaugenmerk gilt dabei
der Frage einer möglichst effizienten Allokation von Produktionsfaktoren
auf verschiedene Verwendungszwecke sowie den dafür erforderlichen
Rahmenbedingungen. In geringerem, wenn auch im Zusammenhang mit der
Nachhaltigkeitsdebatte zunehmendem Umfang, ist die Frage der
Distribution der Erträge dieser Faktoren auf die verschiedenen
Wirtschaftssubjekte Gegenstand der Analyse. Der dritte Themenbereich
befaßt sich mit der Analyse und Gestaltung der verschiedenen
Rahmenbedingungen des Wirtschaftens auf unterschiedlichen Ebenen.
Entlang dieser drei Themenbereiche lassen sich im Prinzip auch die
wesentlichen Positionen unterscheiden, die in der aus ökonomischer Sicht
geführten Nachhaltigkeitsdebatte von Bedeutung sind bzw. die für die
Frage der Formulierung von Nachhaltigkeitsregeln in der ökonomischen
Dimension eine Rolle spielen.
Distributionsaspekten wurde bislang im Rahmen der dominierenden
neoklassischen Theorie- und Politikansätze weniger eine eigenständige
als eher eine abgeleitete Bedeutung zugemessen. Dies drückt sich
beispielsweise darin aus, daß unterschiedliche Verteilungssituationen
insbesondere im Hinblick auf ihre Wirkung auf andere, als übergeordnet
betrachtete Ziele wie der Förderung
6 Operationalisierung der ökonomischen Dimension
122
von Wirtschaftswachstums- oder Innovationsprozessen analysiert werden.
Solche Verteilungsfragen wurden bislang, wenn überhaupt, überwiegend in
der intragenerativen Perspektive behandelt. Seit Einsetzen der
Nachhaltigkeitsdebatte könnte man den Eindruck gewinnen, als hätten sich
viele Ökonomen angesichts der vielfältigen Kontroversen und Probleme bei
der Behandlung dieses Themas auf das Feld der intergenerativen
Verteilungsaspekte ägeflüchtet?. Unter Bezugnahme auf den
Brundtland-Bericht wird dabei das Postulat der intergenerativen
Gerechtigkeit betont und in einer allgemeinen und unverbindlichen Form
prinzipiell akzeptiert. Allerdings wurde dabei bislang im einzelnen kaum
auf die Frage einer Konkretisierung und Umsetzung dieses Postulats
eingegangen.
Demgegnüber sind im Rahmen der Allokationsthematik solche dynamischen,
intergenerativen Aspekte in verschiedener Weise Gegenstand von Analysen.
Beispielsweise werden anhand mikroökonomischer Modelle langfristige
dynamische Allokationsprobleme behandelt, etwa mit dem Ziel, über die
Zeitachse betrachtet äoptimale? Abbauraten erneuerbarer und vor allem
nichterneuerbarer Ressourcen zu ermitteln. An dieser Stelle wird
insoweit die begrenzte Eigenlogik der ökonomischen Dimension deutlich,
als bestimmte Analyseelemente unmittelbar an Zielkomponenten aus anderen
Dimensionen (hier der ökologischen) ausgerichtet sind.
Im Zusammenhang mit der Suche nach den dynamisch-optimalen
Ressourcenabbauraten kommt auch der Frage der Substituierbarkeit
zwischen natürlichen Ressourcen und menschgemachtem Sachkapital
Bedeutung zu. Hierzu existieren die beiden in der Nachhaltigkeitsdebatte
prononcierten und oben in Kap. 4 ausgeführten Extrempositionen der
äschwachen Nachhaltigkeit? (eingebracht insbesondere von Vertretern der
neoklassischen Umwelt- bzw. Ressourcenökonomik; siehe z.B. Radke 1995a;
Solow 1974; Pezzey 1989; Howarth 1995) und der ästarken Nachhaltigkeit?
(vertreten vor allem von Anhängern der Ökologischen Ökonomik, mit Daly,
Costanza oder Norgaard als Protagonisten) sowie Versuche, mittlere
Positionen dazwischen zu definieren (vgl. z.B. Serageldin/Steer 1994;
Lerch/Nutzinger 1996; Knaus/Renn 1998).
Teilweise implizit, teilweise explizit geht es in diesem Zusammenhang
auch um die Produktionsniveaufrage und damit zugleich um die damit eng
verknüpfte, schon im Kap. 2.2 angesprochene Wachstumsfrage. Initiiert
vor mehr als 25 Jahren (Stichwort äGrenzen des Wachstums?) vor allem vor
dem Hintergrund der damals schon für die 90er Jahre prognostizierten
dramatischen Ressourcenknappheiten, war die Wachstumsdebatte in den 80er
Jahren etwas in den Hintergrund getreten. Im Zuge der
Nachhaltigkeitsdebatte hat sie jedoch
6.2 Zum Stand der Debatte 123
wieder erheblich an Bedeutung in Wissenschaft und Politik gewonnen. Nach
wie vor bestehen hierzu erhebliche Kontroversen.
Die eine Extremposition hält Wirtschaftswachstum aus ökonomischen,
sozialen (Arbeitsmarkt-, Sozial- oder Verteilungspolitik) und auch
umweltpolitischen Gründen für erforderlich und sieht zugleich im
technischen Fortschritt hinreichende Lösungsmöglichkeiten für denkbare
wachstumsverursachte ökologische Folgeprobleme (vgl. u.a.
Renn/Kastenholz 1996; Mohr 1995; Simonis 1991; Mackscheidt 1993; Jaeger
1993; Majer 1984; Schlecht 1980). In diesem Zusammenhang werden häufig
die Schlagworte äEffiz ienzrevolution? oder äWachstum der Grenzen statt
Grenzen des Wachstums? verwendet.
Die Gegenposition dazu schätzt die Möglichkeiten des technischen
Fortschritts zur Lösung negativer Folgewirkungen des Wachstums
wesentlich pessimistischer ein und sieht diesen Ansatz daher als
Problemverstärker und nicht als Problemlösung an (vgl. z .B. Daly 1987,
1992; Goodland 1992; Binswanger 1995; Weßels 1991). Letztlich angestoßen
durch die Nachhaltigkeitsdebatte wird daher von einigen Ökonomen die
Niveaufrage (als äscale?-Begriff eingeführt von Daly Anfang der
neunziger Jahre; vgl. z.B. Daly 1992) zu einem zentralen Thema
wirtschaftswissenschaftlicher und -politischer Überlegungen gemacht.
Auch unter Berufung auf und Fortführung von Ideen der oben schon
erwähnten vor-klassischen ökonomischen Schule der Physiokraten Mitte des
18. Jahrhunderts sowie von einigen neoklassischen Ökonomen Mitte des 19.
Jahrhunderts plädieren prominente Vertreter dieser Position für eine
stationäre, d.h. nicht-wachsende (im Englischen ästeady-state?)
Wirtschaft (siehe vor allem Daly 1973). J. S. Mill, einer der
bekanntesten Neoklassiker Mitte des 19. Jahrhunderts, begründete in
seinen äPrinciples of Political Economy? die Notwendigkeit einer solchen
Stationarität mit der Verantwortung für die Zukunft bzw. für zukünftige
Generationen, die wahrgenommen werden solle, bevor wachsender
Problemdruck dies unwiderruflich erzwinge (vgl. Hueting/Reijnders 1998).
Neben den in ökologischer Hinsicht problematischen Wachstumseffekten
wird zunehmend auch auf mögliche unerwünschte Wachstumsfolgen aufgrund
erheblicher, dadurch induzierter wirtschaftlicher Wandlungsprozesse und
sozialer Verwerfungen hingewiesen (siehe z.B. Olson 1991). Die auch auf
rasche Wirtschaftswachstumsprozesse zurückgeführten, zum Teil
dramatischen sozialen Erosionsprozesse in einigen Entwicklungsländern
wie Indien, China oder Südkorea werden dabei häufig als Beispiele für
diese Position herangezogen .
6 Operationalisierung der ökonomischen Dimension
124
Im Hinblick auf den dritten Themenbereich wirtschaftswissenschaftlicher
Forschung ? die für eine Wirtschaft zu setzenden Rahmenbedingungen, ihr
Einfluß auf funktionale Prozesse und Verfahrensabläufe sowie deren
Steuerung ? existieren ebenfalls sehr unterschiedliche Ansätze. Eine in
der jüngeren Vergangenheit vor allem von Vertretern der (neo)liberalen
Wirtschaftsphilosophie eingebrachte Position basiert auf der
grundsätzlichen Kritik an der Vorstellung, Nachhaltigkeit könne quasi
deduktiv durch die Identifikation von anzustrebenden Entwicklungspfaden
oder Zielgrößen sowie die Implementation bestimmter Handlungsstrategien
zu deren Erreichung realisierbar sein. Begründet wird die Skepsis
gegenüber solchen als ätechnokratisch? kritisierten Managementansätzen
vor allem mit dem in einer stetig komplexer werdenden Welt wachsenden
Wissens- und Steuerungsproblem, d.h. mit der als grundsätzlich begrenzt
angesehenen Lenk- und Steuerbarkeit komplexer Systeme und Prozesse (vgl.
Klemmer et al. 1998; zur Steuerungsthematik siehe auch Kap. 2.3 und Kap.
7 in diesem Bericht).
Als Basiselemente auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung werden
daher Pluralismus, Lernfähigkeit und Koordinationsfähigkeit in den
Vordergrund gestellt. Ziel ist es, die einzelnen Wirtschaftsakteure
durch die Schaffung von Freiräumen und Anreizen in die Lage zu
versetzen, ihre Fähigkeiten bestmöglich zu entwickeln und einzusetzen.
Hierfür werden institutionelle Reformen, die Schaffung größerer
Transparenz in politisch-bürokratischen Entscheidungsprozessen und die
stärkere Nutzung wettbewerblicher Prozesse als gesellschaftliche
Entscheidungsverfahren und Quelle von Entwicklung vorgeschlagen (vgl.
Klemmer et al. 1998). Diese Position kann insbesondere mit den Begriffen
Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung umschrieben werden.
Im Sinne einer den Liberalismusgedanken betonenden äsozial-liberalen?
Marktwirtschaft sehen es die Vertreter dieser Position für die Erhaltung
bzw. Verbesserung der Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit einer
Volkswirtschaft als entscheidend an, die als inhärent ineffizient
eingeschätzte Staatstätigkeit auf ein notwendiges Mindestmaß zu
reduzieren. Vor diesem Hintergrund werden Möglichkeiten und Grenzen
institutioneller Reformen und Innovationen beispielsweise für den
Bereich der Finanzwirtschaft (etwa im Hinblick auf die Eindämmung von
Haushaltsdefiziten) diskutiert.
Im Unterschied zu dieser liberalen, steuerungsskeptischen und auf
Haushaltsdisziplin bedachten Position betonen die Vertreter einer als
äkeynesianisch? (nach dem Ökonomen J . M. Keynes) bezeichneten Position
gerade die Notwendigkeit gezielter staatlicher Eingriffe in das
Wirtschaftsgeschehen. Mit dem in diesem Zusammenhang verwendeten
Stichwort der äGlobalsteuerung?
6.3 Regeln für die ökonomische Dimension 125
sind insbesondere Maßnahmen zur Beeinflussung der Gesamtnachfrage
gemeint, um zyklisch auftretende Marktungleichgewichte und
-instabilitäten, insbesondere auf dem Beschäftigungsmarkt, angemessen
korrigieren zu können.
Eine dazwischen anzusiedelnde ? etwa vom Sachverständigenrat zur
Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vertretene ?
Position betont in stärkerem Maße eine gleichgewichtige bzw. stabile
gesamtwirtschaftliche Entwicklung als oberstes Ziel einer ökonomisch
nachhaltigen Entwicklung. Teilweise ebenfalls in der Tradition
makroökonomischer Globalsteuerung werden hier die im äGesetz zur
Förderung der Stabilität und des Wachstums der W irtschaft? von 1967
festgeschriebenen Elemente des sogenannten äMagischen Vierecks? (d.h.
Preisniveaustabilität, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches
Gleichgewicht und angemessenes Wirtschaftswachstum) sowie Instrumente zu
ihrer Erreichung in den Vordergrund gestellt (vgl. zu diesen Fragen z.B.
Pätzold 1987; Mackscheidt/Steinhausen 1978; Mammen 1978). Ähnlich wie
bei der sozialen Dimension hat die Enquete-Kommission äSchutz des
Menschen und der Umwelt? auch für die ökonomische Dimension erstmals den
Versuch unternommen, in relativ systematischer und umfassender Weise
Nachhaltigkeitsregeln zu formulieren (siehe Anhang). In dem nachfolgend
aufgeführten Regelsatz sind einige der dort angesprochenen Aspekte, in
teilweise veränderter Form, übernommen worden. Zu kritisieren ist jedoch
aus unserer Sicht an den Regeln der Kommission zum einen, daß sie
(insbesondere die erste und dritte) zu sehr auf ein bestimmtes
(Wirtschafts)System hin ? konkret die soz iale Marktwirtschaft ?
formuliert sind und damit nicht von globaler Gültigkeit sein können. Zum
anderen werden mit der Verschuldungsfrage (das Sondervotum des
Kommissionsmitglieds Rochlitz ausgenommen), der Einkommensverteilung
oder den weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen wesentliche Themen
vollständig ausgeklammert, denen im Zusammenhang mit der
Nachhaltigkeitsthematik unter inter- bzw. intragenerativen
Gerechtigkeitsgesichtspunkten erhebliche Bedeutung zukommt. Dem haben
wir versucht, in unseren Regeln Rechnung zu tragen.
6.3 Regeln für die ökonomische Dimension
Vor dem Hintergrund der skizzierten Diskussion sollten aus der Sicht der
Autoren für die Formulierung von Regeln bzw. Handlungsleitlinien neben
den in Kap. 3.4 genannten generellen Anforderungen weitere spezifische
Aspekte beachtet werden, um den Beitrag der ökonomischen Dimension an
der Beschrei-
6 Operationalisierung der ökonomischen Dimension
126
bung bzw. Realisierung einer nachhaltigen Entwicklung adäquat abbilden
zu können.
Die Regeln sollen die Bedingungen beschreiben, die erfüllt sein müssen,
damit die oben genannten generellen Ziele einer nachhaltigen Entwicklung
erreicht werden können. Hier ist also zu fragen, wie das ökonomische
System dazu beitragen kann, daß für die zukünftigen Generationen im
Prinzip vergleichbare Handlungschancen erhalten werden können, wie sie
gegenwärtigen Generationen zur Verfügung stehen. Wesentlicher
Bezugspunkt soll dabei das schon in Kap. 3.3 und 4.2 erwähnte
gesellschaftliche Produktivpotential bzw. -kapital sein (zusammengesetzt
aus Naturkapital, Sachkapital, personengebundenem Humankapital, nicht
personengebundenem Wissenskapital, Sozialkapital sowie den im weiteren
Sinn wirtschaftsrelevanten institutionellen Rahmenbedingungen).
Die Regeln sollten sich aus unserer Sicht auf die zu Beginn schon
angesprochenen wesentlichen Bestimmungsfaktoren des Wirtschaftens ?
Einsatz und Allokation von Produktionsfaktoren, Verteilungsfragen sowie
institutionelle Rahmenbedingungen ? beschränken, ohne explizit auf die
Frage des Produktionsumfangs (d.h. den Niveauaspekt) einzugehen. Die
Niveau- und damit auch die Wachstumsfrage ist zwar in einer
Volkswirtschaft unter verschiedensten Gesichtspunkten von Bedeutung.
Ihre Konkretisierung sollte jedoch nach unseren Vorstellungen nicht auf
der in diesem Papier betrachteten normativen, sondern im Rahmen weiterer
Operationalisierungsschritte auf der kontextualen und strategischen
Ebene erfolgen (siehe die Ausführungen in Kap. 1 zu den drei Ebenen der
Untersuchung). Dort wären dann auch andere wirtschaftspolitische Ziele
wie etwa die genannten des Stabilitätsgesetzes in ihrem Verhältnis zu
anderen Nachhaltigkeitsregeln zu untersuchen.
Gleiches gilt für Formulierungen, die ein spezifisches System, etwa die
soziale Marktwirtschaft, explizit oder implizit zugrundelegen würden.
Für eine Untersuchung Deutschlands ohne Zweifel sinnvoll, würde ein
solches Vorgehen jedoch den globalen Gültigkeitsanspruch der Regeln
einschränken und bleibt deswegen ebenfalls den beiden nachfolgenden
Analyseebenen vorbehalten.
Schließlich ist auch für diese Regeln der Hinweis wichtig, daß sie als
ein Set komplementär geltender und wirksamer Mindestanforderungen zu
verstehen sind. Erst ihre gemeinsame Erfüllung kann die Voraussetzungen
für die Realisierung einer nachhaltigen Entwicklung aus ökonomischer
Sicht schaffen.
6.4 Erläuterungen zu den Regeln 127
Regel 1: Externe Kosten
Die Preisbildung muß die ökologischen und sozialen Folgekosten des
Wirtschaftens berücksichtigen.
Regel 2: Angemessene Diskontierung
Durch Diskontierung dürfen weder künftige noch heutige Generationen
diskriminiert werden.
Regel 3: Verschuldung
Um zukünftige Handlungsspielräume des Staates nicht einzuschränken,
müssen die laufenden konsumtiven Ausgaben des Staates aus den laufenden
Einnahmen finanziert werden.
Regel 4: Sach-, Human- und Wissenskapital
Das Sach-, Human- und Wissenskapital ist so zu entwickeln, daß die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Gesellschaft erhalten bleibt bzw.
verbessert wird.
Regel 5: Einkommens- und Vermögensverteilung
Die Einkommens- und Vermögensverteilung muß nach allgemeinen Prinz ipien
der Gerechtigkeit erfolgen.
Regel 6: Internationale Wirtschaftsbeziehungen
Die internationalen Wirtschaftsbeziehungen sind so zu gestalten, daß
allen Staaten oder Akteuren eine faire Teilnahme am Wirtschaftsgeschehen
möglich ist.
Regel 7: Internationale Zusammenarbeit
Die verschiedenen Akteure (Regierungen, Unternehmen,
Nichtregierungsorganisationen) müssen im Geiste globaler Partnerschaft
mit dem Ziel zusammenarbeiten, die politischen, rechtlichen und
faktischen Voraussetzungen für die Einleitung und Umsetzung einer
nachhaltigen Entwicklung zu schaffen.
6.4 Erläuterungen zu den Regeln
Grundsätzlich anzumerken ist vorab, daß sich bei diesen so formulierten
Regeln für die ökonomische Dimension besonders deutlich zeigt, daß eine
vollständige und eindeutige Abgrenzung der Dimensionen untereinander,
hier insbesondere zwischen der ökonomischen und der sozialen, sehr
schwierig ist
6 Operationalisierung der ökonomischen Dimension
128
bzw. daß die ökonomischen Regeln zumindest sehr eng mit Regeln aus
anderen Dimensionen verknüpft zu sehen sind. Wie in Kap. 3 ausgeführt,
betrachten wir diese dimensionale Trennung als eine im ersten
Analyseschritt notwendige, jedoch im weiteren Verlauf nicht mehr weiter
zu verfolgende Herangehensweise.
Regel 1: Externe Kosten
Im Hinblick auf die Frage, wie Preise in einer Volkswirtschaft zustande
kommen sollten, haben wir einen anderen Bezugspunkt gewählt als die
Enquete- Kommission in ihrer Regel. Ausgehend von der Lenkungsfunktion
der Preise auf Märkten als oberster Zielsetzung benennt die Kommission
die Knappheit von Produktionsfaktoren, ökologischen Senken, Gütern und
Dienstleistungen als alleiniges Kriterium für die Preisgestaltung (vgl.
Enquete-Kommission 1998, S. 26). Gerade in einem integrativen
Nachhaltigkeitskonzept sind jedoch hierfür ? beispielsweise mit Blick
auf den Faktor Arbeit ? noch andere als Knappheitskriterien zu
berücksichtigen, etwa Aspekte einer bedürfnisgerechten Verteilung oder
der Ermöglichung einer selbständigen Existenzsicherung.
Deswegen wurde in Regel 1 mit den externen Folgekosten des Produzierens
ein über den Knappheitsaspekt hinausgehender Bezug für die Preisbildung
gewählt.67 Dabei werden neben die vielfältigen und vielfach
beschriebenen ökologischen (in der Regel auf die Knappheit von
ökologischen Senken bezogenen) Folgekosten auch die sozialen Kosten mit
gleichem Gewicht gestellt. Als externe Folgekosten ? erstmals von K. W.
Kapp in den 50er Jahren in die Diskussion gebracht ? werden Auswirkungen
wirtschaftlicher Aktivitäten bezeichnet, die nicht in die
Kostenrechnungen des verursachenden Akteurs eingehen, sondern von
Dritten unfreiwillig getragen werden müssen. Beispiele für soziale
Externalitäten können beschäftigungssenkende Effekte und ihre
Folgewirkungen, etwa infolge von kostensenkungs-motivierten
Rationalisierungsmaßnahmen, oder auch eine ungerechter werdende
Einkommensverteilung, etwa als Folge einer bestimmten staatlichen
Steuerpolitik, sein.
Die ä Internal isierung? dieser externen Kosten in die Preise erfordert
die Beantwortung der Frage, welcher Art und vor allem wie hoch die
äKosten? der Umweltschädigung, knapper werdender Ressourcenvorräte oder
der Arbeitslosigkeit sind. Hierfür werden vor allem zwei Methoden der
Monetarisierung
67 Sofern existent und ermittelbar, müßten diesen im P rinzip die
äexternen Nutzen? gegen- überge stellt werden. Diese Diskussion kann und
soll jedoch hier nicht geführt werden.
6.4 Erläuterungen zu den Regeln 129
verwendet: Zum einen die sogenannten willingness-to-pay- bzw., weniger
häufig, die willingness-to-sell-Methoden, die individuelle Zahlungs-
bzw. Kompensationsbereitschaften als Kriterium heranziehen. Zum anderen
der Vermeidungskostenansatz, bei dem nicht die Folgekosten eines
Effekts, sondern die Kosten seiner Vermeidung ermittelt werden sollen.
Die bisherigen Untersuchungen und praktischen Erfahrungen zeigen
allerdings, daß hier erhebliche methodische Erfassungs- und
Bewertungsprobleme bestehen, die bislang zu der nach wie vor gültigen
Erkenntnis geführt haben, daß Monetarisierung nur partiell sinnvoll und
möglich sein kann (vgl. Endres/Jarre/Klemmer/Zimmermann 1991; Schulz
1989; Hanley 1992; Howarth/Norgaard 1992; Radermacher 1998).
Diese Bewertungsprobleme erlangen spätestens dann eine brisante ethische
Dimension, wenn es etwa um die Bewertung menschlicher Gesundheit oder
gar eines Menschenlebens (im Falle tödlicher Wirkungen) geht. Zu Recht
wird hier die ethisch-moralische Legitimität in Frage gestellt, wenn
z.B. der monetarisierte äWert? eines 60jährigen, aus dem Arbeitsleben
ausgeschiedenen und in diesem Sinne nicht mehr äproduktiven? Menschen
wesentlich niedriger bemessen wird als der eines 30- oder 40jährigen.
All dies hat zur Konsequenz, daß praktisch sämtliche bislang vorgelegten
Berechnungen zum Thema äexterne Kosten? umstritten sind. Was bleibt, ist
die Erkenntnis, daß für das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung die
Suche nach den äwahren Preisen? wirtschaftlicher Aktivitäten ebenso
notwendig (um zumindest tendenziell richtige Anreizsignale in Richtung
des erwünschten Verhaltens der Akteure senden zu können) wie schwierig
ist. Hier wird ein Vorgehen notwendig sein, das so pragmatisch wie nötig
und so problemadäquat wie möglich ist.
Mit Blick auf die Realisierung dieser Regel wird die notwendige
Verknüpfung vor allem zur institutionellen Dimension deutlich. Um
externalisierte Folgen von Aktivitäten der Wirtschaftssubjekte auf
Dritte angemessen behandeln zu können, bedarf es hierzu
äresonanzfähiger? gesellschaftlicher Institutionen, d.h. Institutionen,
die in der Lage sind, auf Informationen in bezug auf bestimmte
Problemlagen angemessen lösungsorientiert zu reagieren. Da eine
Orientierung der Preisbildung an äökologischer und sozialer Wahrheit?
erfahrungsgemäß nicht von alleine einsetzen wird, müßten die
politisch-institutionellen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens
entsprechend korrigiert werden.
Was die Produktionsfaktoren anbelangt, so spielt in den
Wirtschaftswissenschaften, wie oben schon angesprochen, deren Allokation
auf einzelne Verwendungszwecke eine herausragende Rolle. Es waren jedoch
insbesondere zwei Gründe, die die Autoren dazu bewogen, im Unterschied
zur Enquete-
6 Operationalisierung der ökonomischen Dimension
130
Kommission keine eigene Regel für das Ziel einer effizienten (d.h.
Ressourcenverschwendung vermeidenden) Faktorallokation bzw. einer
effizienten Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse zu formulieren.
Zum einen abstrahiert das Effizienzkriterium ? wie oben schon erwähnt ?
aufgrund seines Charakters einer Ziel-Mittel-Relation zwischen
Produktionsinput und -output gänzlich von der Frage des
Produktionsniveaus und läßt damit wichtige nachhaltigkeitsrelevante
Aspekte außer Betracht.
Zum anderen besteht im Produktionsbereich eine relativ enge Verknüpfung
zwischen dem Effiz ienz- und dem Produktivitätsbegriff. Aufgrund der
Heterogenität der verschiedenen Produktionsfaktoren sowie des komplexen
Verknüpfungsgeflechts zwischen Produktionsmenge, Produktivität, Angebot,
Nachfrage, Einsatz und Entlohnung der Faktoren ist hier eine
differenzierte Betrachtung partieller (d.h. auf einzelne Faktoren
bezogener) Produktivitäten erforderlich. Während steigende Produktivität
vor allem hinsichtlich des Faktors natürliche Ressourcen, aber auch der
Faktoren Sachkapital und Wissen weitgehend unbestrittene Zielsetzung
ist, gilt dies nicht in gleicher Weise für den Faktor Arbeit. So
impliziert ein stetiges Ansteigen der Arbeitsproduktivität entweder ?
bei Konstanz von Produktionsmenge und Arbeitsangebot ? zunehmende
Arbeitslosigkeit oder die Notwendigkeit einer Erhöhung der
Produktionsleistung. Beide Implikationen bergen zumindest
Problempotentiale in sich.
Darüber hinaus kann Effiz ienz als ein Zustand interpretiert werden, der
sich als Folge der Einhaltung verschiedener anderer der in diesem
Bericht vorgeschlagenen Regeln einstellt. Beispielsweise könnte bei
Realisierung einer idealtypischen Preisbildung, d.h. unter der in Regel
1 formulierten Einbeziehung aller Folgekosten, im Prinzip davon
ausgegangen werden, daß damit zugleich auch das Effizienzziel erreicht
werden würde. Dem liegt die in der Allokationstheorie und -politik
übliche These zugrunde, daß die Beseitigung von aufgrund externer
Effekte entstandenen Preis- und Güterstrukturverzerrungen eine der
zentralen Voraussetzung für eine effiziente Faktorallokation darstellt.
Ähnliche Überlegungen können für die zur Erreichung bzw. Sicherung von
Effizienz relevanten Komponenten derjenigen Regeln angestellt werden,
die sich auf die Wissensressourcen oder die institutionellen und
kulturellen Rahmenbedingungen der Gesellschaft sowie deren Erhaltung
bzw. Weitergabe an künftige Generationen beziehen.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen sowie der Zielsetzung, die hier
präsentierten Nachhaltigkeitsregeln in erster Näherung möglichst frei
von potentiellen generellen Widersprüchen zu formulieren, halten wir es
für sinnvoll, keine eigene Effiz ienzregel zu formul ieren.
6.4 Erläuterungen zu den Regeln 131
Regel 2: Angemessene Diskontierung
Den Erläuterungen zu dieser Regel sind zwei Vorbemerkungen
voranzustellen: Zum einen werden Zinsen in diesem Bericht ausschließlich
im Hinblick auf ihre Berechnungsfunktion betrachtet, die ihnen als
Diskontierungsfaktor im Rahmen von Kosten-Nutzen-Analysen längerfristig
wirksamer Entscheidungen zukommt. Zwar wird gerade im Rahmen der
Nachhaltigkeitsdebatte das Prinzip der Geldwirtschaft und der damit
verbundene Zins- und Zinseszinsmechanismus in (kapitalistischen)
Marktwirtschaften von manchen kritisch hinterfragt. Ihnen wird eine
Mitverursachung sozialer oder ökologischer Probleme zugeschrieben, etwa
über inhärente Wachstumszwänge oder die systematische Benachteiligung
des Faktors Arbeit im Vergleich zum Kapital (vgl. zu dieser Thematik
z.B. Biervert/Held 1996; Creutz 1993, 1998; Binswanger 1991;
Binswanger/v. Flotow 1994; Born 1994; Senf 1997; Altvater 1997;
Kessler 1996; Maier-Rigaud 1998; Kösters/Kamp 1998).
Wir haben jedoch aus der Tatsache, daß praktisch keine eindeutigen
Zusammenhänge zwischen Zinshöhe und änachhaltigen?
Investitionsentscheidungen existieren, und daß das volkswirtschaftliche
Zinsniveau nur begrenzt steuerbar ist, die Konsequenz gezogen, zum Zins
als makroökonomische Größe keine Regel zu formulieren.
Zum anderen wäre eine Subsumierung des Zinses unter Regel 1 im Prinzip
zwar möglich gewesen (indem Zinsen als Preis des Geldes interpretiert
werden). Dies hätte es jedoch nach unserer Auffassung nicht erlaubt, die
spezifische Bedeutung und Charakteristik der Diskontierungsthematik
angemessen zu würdigen. Diese Bedeutung liegt vor allem in ihrer
unmittelbaren Relevanz für die intergenerative Verteilungsfrage.
Grundsätzlich wird eine Diskontierung dann vorgenommen, wenn
Auswirkungen von Investitionen oder anderen Aktivitäten, die als
ökonomisch relevante Größen vorliegen, zu unterschiedlichen Zeiten
eintreten. Um diese Größen vergleichbar machen zu können, werden
potentielle, in der Zukunft eintretende Kosten oder Nutzen auf den
heutigen Zeitpunkt, d.h. auf ihren Gegenwartswert, abgezinst.
Im Mainstream der Wirtschaftswissenschaften werden verschiedene
Rechtfertigungen für diese Vorgehensweise vorgebracht (vgl.
Gronemann/Döring 1999). Mit Blick auf die inidviduelle Ebene sind dies
auf der einen Seite die häufig als irrational bezeichnete Ungeduld bzw.
Kurzsichtigkeit der Akteure (äMinderschätzung künftiger Bedürfnisse?),
die gegenwärtigen Nutzen künftigem vorziehen, anstatt etwa den
Gesamtnutzen über eine bestimmte Zeitspanne hinweg zu maximieren. Auf
der anderen Seite werden unterschiedliche, unter bestimmten Bedingungen
rationale Begründungen angeführt: etwa für den Fall,
6 Operationalisierung der ökonomischen Dimension
132
daß Ressourcen oder Güter zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich
knapp sein können oder daß generelle Unsicherheiten in bezug auf das
Eintreten bestimmter Ereignisse in der Zukunft und deren Nutzen- bzw.
Schadenspotential bzw. letz tlich auch in bezug auf die Länge des
eigenen Lebens bestehen.
Auf der gesellschaftlichen Ebene werden mit Blick auf die Frage der
Gewichtung der Bedeutung künftiger und gegenwärtiger Generationen zum
Teil formal-mathematische Gründe für die Ermittlung von Gegenwartswerten
von Investitionen oder Aktivitäten angeführt. Sie beziehen sich vor
allem auf das Ziel einer Vergleichbarkeit von Nutzen-In tegralen (d.h.
kumulierten Nutzengrößen) über lange (im Extremfall unendliche)
Zeiträume. Daneben wird in der neoklassischen Theorie Diskontierung
häufig mit dem Argument der Erzeugung von (intergenerativer)
Gerechtigkeit begründet. Zum einen würde ? unter der Annahme stetigen
quantitativen Wirtschaftswachstums ? als Folge der Diskontierung quasi
ein Teil des künftigen Generationen zur Verfügung stehenden größeren
Sozialprodukts von der gegenwärtigen Generation konsumiert werden
können. Als zweite Begründung wird die Annahme eines mit steigender
Konsummenge eines Gutes abnehmenden Grenznutzens angeführt.
Diskontierung sei somit erforderlich, um bei wachsender Gütermenge dem
abnehmenden Grenznutzen künftiger Generationen zugunsten eines höheren
Nutzens heutiger Generationen entgegenzuwirken.
Zu hinterfragen sind beide Argumente zumindest insoweit, als die hier
zugrundeliegende Wachstumsprämisse unter verschiedenen Aspekten sehr
kontrovers diskutiert wird. Über diese beiden Argumente hinaus wird auch
auf der gesellschaftlichen Ebene der Faktor Unsicherheit in bezug auf
künftige Entwicklungen als Begründung für Diskontierung angeführt. Diese
Unsicherheit besteht einerseits in der Frage der Auswirkungen heutigen
Tuns auf kommende Generationen, andererseits im Hinblick auf die
Beschaffenheit der Präferenzen dieser Generationen.
Unabhängig von der Frage der Validität der genannten Argumente ist
grundsätzlich festzuhalten, daß das Bestreben, zukünftig mit Sicherheit
anfallende, rein monetäre Kostengrößen auf ihren Gegenwartswert
abzudiskontieren, im Prinzip sinnvoll und auf den ersten Blick
unproblematisch zu sein scheint. Denn in der Tat müßte zur Begleichung
eines in 50 Jahren eintretenden Kostenaufwands heute ein wesentlich
geringerer Betrag verzinslich angelegt werden.
Eine besondere Bedeutsamkeit erhält die Diskontierung allerdings
insbesondere dann, wenn die Kosten und Nutzen von Investitionen zu
unterschiedlichen Zeitpunkten anfallen. Umweltschutz- oder
Bildungsinvestitionen wären
6.4 Erläuterungen zu den Regeln 133
ein Beispiel für heute anfallende Kosten und eher in einer mehr oder
weniger weit entfernten Zukunft anfallende Nutzen. In solchen Fällen
kann die Diskontierung zu einem Problem im Sinne eines Konflikts mit dem
zentralen Nachhaltigkeitspostulat der intergenerativen Gerechtigkeit
führen. Bei der Abwä- gung zwischen den Interessen heutiger und
zukünftiger Generationen würden Investitionen des genannten Typs umso
eher unterbleiben, je höher die Diskontierungsrate ist (weil dann die
Nutzen umso stärker äheruntergerechnet? würden) bzw. je weiter die
Nutzen der Investition in der Zukunft liegen.
Ein Zahlenbeispiel mag dies verdeutlichen: Ein in 50 Jahren anfallender
Schaden in Höhe von 1 Mio DM würde bei einem Diskontierungsfaktor von 10
Prozent einem abgezinsten Gegenwartswert von vergleichsweise
unerheblichen 8.500 DM entsprechen. Bei 5 Prozent läge der Wert schon
bei rund 85.000 DM, bei 3 Prozent würden rund 230.000 DM zu Buche stehen
und bei einem Zins von 0 Prozent wäre der Gegenwartswert der gleiche wie
der in 50 Jahren. Jeder Diskontierungsfaktor größer 0 führt also im
Prinzip zu einer geringeren Bewertung zukünftig anfallender Kosten und
Nutzen und bestätigt bzw. verstärkt das oben erwähnte Phänomen der
äMinderschätzung zukünftiger Bedürfnisse?. Der Faktor spiegelt damit das
in der Ökonomie als ägesellschaftliche Zeitpräferenzrate? bezeichnete
Wertschätzungsverhältnis zwischen Gegenwart und Zukunft wider.
Vor diesem Hintergrund bestehen in der Frage nach der angemessenen Hö-
he des Diskontierungsfaktors erhebliche Kontroversen. Die Vorschläge
reichen hier von einem Faktor 0 (der intergenerative Gleichbewertung
impliziert) bis zur Verwendung aktueller Marktzinsen
(Entscheidungskriterium würden hier die äOpportunitätskosten? in Form
entgangener Zinseinkünfte sein, die bei einer zur bewerteten Investition
alternativen Geldanlage möglich gewesen wä- ren). Sofern die Zielsetzung
besteht, tendenzielle Unterinvestitionen in bestimmten wie oben
genannten Bereichen zu verhindern, müßte ein vergleichsweise niedriger
Diskontierungsfaktor verwendet werden. Um diese bei derartigen
Investitionen entstehenden Opportunitätskosten auszugleichen, wären z.B.
entsprechende Zinssubventionen für private Investoren denkbar. Dies
würde in jedem Fall eine (politische) Entscheidung erfordern, für welche
Investitionen ein solches Vorgehen gewählt werden soll.
In neueren Ansätzen von Cansier und Bayer oder von Rabl wird versucht,
solchen Überlegungen Rechnung zu tragen, indem sie eine kombinierte
Vorgehensweise mit flexiblen Diskontierungssätzen vorsehen (vgl.
Rennings 1999). Danach sollen für Investitionen, deren Auswirkungen
innerhalb einer Generation (d.h. eines Zeitraums von rund 30 Jahren)
eintreten, Diskontierungsfaktoren verwendet werden, die sich an den
jeweils aktuellen Marktzinsen orientie-
6 Operationalisierung der ökonomischen Dimension
134
ren. Für Projekte mit darüber hinausreichenden Wirkungszeithorizonten
werden Faktoren von 1-2 Prozent vorgeschlagen.
Abschließend kann festgehalten werden, daß eine genauere Betrachtung der
zur Frage der Rechtfertigung des Diskontierens vorgebrachten
unterschiedlichen Motive und Argumente eine differenzierte Betrachtung
nahelegt . Auf der einen Seite stellen die reine Gegenwartspräferenz
(Myopie) oder auch die intergenerative Nutzendiskontierung zwar
empirisch belegbare Phänomene dar, sie werden jedoch überwiegend als
Ausdruck irrationalen Verhaltens bzw. als auf Ego-Präferenz-bedingten
Fehleinschätzungen in bezug auf künftige Generationen betreffende Nutzen
und Schäden beruhend eingeschätzt. Demgemäß wird bezweifelt, daß
derartige Handlungsmotive adäquate Entscheidungsgrundlagen liefern
können. Auf der anderen Seite wird eingeräumt, daß faktische
Unsicherheiten über zukünftige Ereignisse und Entwicklungen (etwa
bedingt durch die Möglichkeit technischen Fortschritts oder die
Veränderung gesellschaftlicher Präferenzen) sowie über die vielfältig
denkbaren Folgen heutigen Handelns durchaus geeignet sein können, eine
Diskontierung zu rechtfertigen.
Insbesondere von Vertretern der Ökologischen Ökonomie werden die
Kritikpunkte am Diskontierungsprinzip hervorgehoben. Sie sehen daher in
der Entwicklung von Alternativlösungen zu diesem Vorgehen eine wichtige
Aufgabe künftiger Forschungsanstrengungen. Da solche Alternativen
bislang noch nicht vorliegen, muß es zunächst darum gehen, darauf
hinzuwirken, daß Diskontierung nicht schematisch praktiziert wird,
sondern in differenzierter Weise an den jeweiligen
Betrachtungsgegenstand angepaßt wird, sodaß in der Folge weder heutige
noch künftige Generationen in ihren Entwicklungsmöglichkeiten
benachteiligt werden. Dem soll die vorgeschlagene Regel Rechnung tragen.
Regel 3: Verschuldung
Im Sinne der grundlegenden Nachhaltigkeitsleitlinie eines dauerhaft
tragfähigen äLastenausgleichs? zwischen den Generationen besteht ein
unbestritten wesentliches Kriterium für die Zukunftsfähigkeit einer
Gesellschaft darin, daß sie nicht dauerhaft über ihre Verhältnisse leben
kann. Wirtschaftliche Verschuldung stellt eine Form solcher Lasten dar,
die kommenden Generationen aufgebürdet werden. Sie ist insoweit von
Relevanz für (ökonomische) Nachhaltigkeit im Sinne intergenerativer
Gerechtigkeit, als sie ? abhängig von der erreichten Größenordnung ?
zukünftige Handlungsspielräume des Staates bzw.
6.4 Erläuterungen zu den Regeln 135
der Volkswirtschaft mehr oder weniger stark einschränkt (vgl. z.B.
Becker 1998; Ottnad 1996; Creutz 1998).
Staatsverschuldung stellt heute in fast allen Staaten ein signifikantes
Problem dar. Wenn sich auch sein Ausmaß und seine Ursachen global
gesehen ? insbesondere zwischen Entwicklungsländern und Industriestaaten
? teilweise deutlich unterscheiden, so ähneln sich doch die
beobachtbaren Folgewirkungen. In vielen Staaten ist mittlerweile ein
Stadium erreicht, bei dem übereinstimmend korrigierendes Eingreifen
gefordert wird.
Hinsichtlich der Frage des genauen Verschuldungs- bzw. Belastungsausma-
ßes wird neben der offiziellen, offenen (d.h. in Haushalten explizit
ausgewiesenen) Staatsverschuldung in den letzten Jahren in zunehmendem
Maße implizite bzw. versteckte (im Sinne von noch nicht faktisch
realisierter) Staatsverschuldung angehäuft und in der Debatte auch als
solche wahrgenommen. Derartige versteckte Lasten bestehen im Rahmen der
Sozialversicherungssysteme, der Beamtenversorgung, durch
Leasing-Finanzierungen usw. Aktuelle Schätzungen im Rahmen einer
Generationenbilanzierung besagen, daß die offizielle Staatsverschuldung
mittlerweile nur noch rund ein Drittel der gesamten, künftigen
Generationen übertragenen (realisierten und noch nicht realisierten)
Verschuldungslasten ausmacht (vgl. Hoffmann 1999).
In den Finanzwissenschaften werden vor allem zwei
äRechtfertigungslehren? für öffentliche Verschuldung unterschieden (vgl.
Zimmermann 1998; Hansmeyer 1997). Die eine stellt das Argument in den
Vordergrund, daß das Ziel einer möglichst gerechten ? weil gleichmäßigen
? Lastenverteilung zwischen den Generationen am ehesten durch
Schuldenfinanzierung erreichbar sei (etwa im Vergleich zur
Steuererhöhungen implizierenden Steuerf inanzierung). Dem liegt die
Vorstellung zugrunde, daß an der Finanzierung längerfristig wirksamer
Investitionen bzw. nutzbarer Projekte, wie sie etwa im Umweltoder
Bildungsbereich existieren, alle sie nutzenden Generationen beteiligt
werden sollen.
In einer zweiten Argumentation wird eine Schuldenfinanzierung für
längerfristig wirksame Investitionen befürwortetet, wenn diese geeignet
sind, zu einer Erhöhung der öffentlichen Einnahmen zu führen und damit
im Prinzip zumindest die Rückzahlbarkeit der Schulden gewährleistet ist.
Verschuldung wird hier vor allem in ihrer Funktion als Überbrückung für
vorübergehende Schwankungen der konjunkturellen Entwicklung bzw. der
staatlichen Einnahmen verstanden, um beispielsweise kurzfristige
Steuererhöhungen zu vermeiden (Stichworte sind hier äTax Smoothing? oder
äantizyklische Finanzpolitik?).
6 Operationalisierung der ökonomischen Dimension
136
Gegen beide genannten Verschuldungsrechtfertigungen werden zunehmend
Einwände vorgebracht (vgl. Zimmermann 1998). Dem ersten Argument der
erwünschten intertemporalen Lastenvertei lung wird beispielsweise auf
der Basis der erwähnten aktuellen Untersuchungsergebnisse zur
Generationenbilanzierung (äGenerational Accounting?) etwa für die USA
und Deutschland entgegengehalten, daß solche Verschiebungen zu Lasten
kommender Generationen schon in anderen Bereichen (wie etwa der Soz
ialversicherung) in erheblichem Umfang zu erwarten sind und deswegen
zusätzliche Lastverschiebungen in die Zukunft durch Staatschulden nicht
mehr vertretbar seien.
Gegen die These der äverschuldungsbetriebenen Konjunkturlokomotive?
werden insbesondere jene Argumente lauter, die die Annahme in Frage
stellen, die der These zugrundeliegt: Sie geht davon aus, daß
Konjunktur- oder Staatseinnahmenschwankungen vor allem durch
Nachfragemangel bedingt sind. Stattdessen werden von den Vertretern
dieser Argumentation die ungünstigen angebotsseitigen
Investitionsbedingungen als verursachende Faktoren für sinkende bzw.
zumindest schwankende Staatseinnahmen betont. Darüber hinaus wird auch
die eindeutige Abgrenzbarkeit von solchen Investitionen, die künftig zu
einer Steigerung der Staatseinnahmen füh ren, von solchen, die dazu
weniger geeignet sind, bezweifelt (vgl. etwa Galbraith 1996).
Hinzu kommt, daß die unterschiedlichen Folgen dauerhafter
Staatsverschuldung immer deutlicher sichtbar werden. Sie können
ökonomische Faktoren wie Wachstum, Geldwertstabilität, Zinsniveau oder
Beschäftigung betreffen, sie können verteilungsbeeinflussend sein und
sie können sich auf ökologische Komponenten auswirken (vgl. z.B. Ottnad
1996, S. 80ff.; Becker 1998). Damit bewirken sie Beschränkungen
zukünftiger Handlungsmöglichkeiten einer Gesellschaft.
Vor diesem Hintergrund erlangen die nicht nur in der
finanzwissenschaftlichen Debatte lauter werdenden Forderungen nach
zumindest restriktiv(er)en Grenzen für die öffentliche Verschuldung und
Maßnahmen zu deren Einhaltung im Kontext der Nachhaltigkeitsdebatte
zusätzliches Gewicht. Zur Frage, wie solche begrenzenden Leitlinien
aussehen könnten, bestehen allerdings sehr unterschiedliche
Vorstellungen.
Die extremste Position fordert ein generelles Verbot der
Schuldenaufnahme. Als Begründung hierfür wird u.a. angeführt, daß
staatliche Neuverschuldung mittlerweile überwiegend für konsumtive,
allein der Aufrechterhaltung bzw. Steigerung des materiellen
Lebensstandards dienende Ausgaben verwendet wird (vgl. Tietmeyer 1994).
Als weiteres Argument wird das vorwiegend politik-ökonomisch zu
erklärende Phänomen der äSchulden-Illusion? herangezogen. Demnach
unterschätzen in Legislaturperioden denkende und Wählerstim-
6.4 Erläuterungen zu den Regeln 137
men maximierende Politiker in ihrer Neigung zur Verschuldungsstrategie
ebenso regelmäßig wie bewußt die künftige Generationen belastenden
Steuererhöhungen, die als Folge davon erforderlich werden (vgl.
Zimmermann 1998).
In der politischen Praxis existieren bereits verschiedene
Regelungsmechanismen zur Schuldenbegrenzung so z.B. der bundesdeutsche
Grundgesetz- Artikel 115, der Netto-Neuverschuldung höchtens im Umfang
der jeweiligen Investitionsausgaben zuläßt (vgl. Hansmeyer 1997), oder
der in den 80er Jahren in den USA erlassene äGramm-Rudman-Hollings-Act?,
der einen Abbau der bestehenden Defizite vorsah. Ihnen ist jedoch
bislang eher begrenzte Wirksamkeit zu attestieren (vgl. z.B. Ottnad
1996), bestenfalls insoweit, als ohne sie möglicherweise ein noch
größerer Schuldenberg angehäuft worden wäre.
Ein weiteres aktuelles Beispiel für politisch konkretisierte Leitlinien
findet sich im EU-Vertrag von Maastricht, in dem quantitative
fiskalische Begrenzungsregeln erstmals international
sanktionierungsfähig festgelegt worden sind. Als Aufnahmekriterien für
Staaten in die europäische Währungsunion wurden dort zwei
Verschuldungs-Obergrenzen festgelegt: die 60%-Schuldenquote (bezogen auf
das Bruttosozialprodukt) und die 3%-Defizitquote (bezogen auf den
laufenden Haushalt).
Mit der hier vorgeschlagenen Regel 3 wird versucht, einen Mittelweg zu
gehen, der sich zunächst einmal dadurch definiert, daß bestimmte Ansätze
nicht übernommen wurden. Wir haben uns weder der Position des generellen
Schuldenverbots angeschlossen noch der vom Enquete-Kommissions-Mitglied
Rochlitz in seinem Sondervotum zum Kommissionsbericht vertretenen
Position, in der die Zulässigkeit von Verschuldung auf änachhaltige
Investitionen? eingeschränkt wird, die künftigen Generationen zu Gute
kommen. Zwar wird mit einer solchen Maßgabe jede Verschuldung einem
zunächst plausibel scheinenden nachhaltigkeits-bezogenen
Rechtfertigungszwang unterzogen. Das Kriterium ist jedoch insofern
problematisch, als es im Falle eines nicht mehr handlungsfähigen oder
überschuldeten Staates nur von untergeordneter Bedeutung ist, ob die
dafür verantwortlichen Ausgaben für nachhaltige Investitionen getätigt
wurden oder für nicht-nachhaltige.
Auch den in der gleichen Regel verwendeten Ansatz, daß Schulden von der
äpolitisch verantwortlichen Generation? abzutragen sind, halten wir für
nicht angemessen. Zwar kann zu Beginn einer Nachhaltigkeitsstrategie
durchaus die Notwendigkeit bestehen, für strukturbildende Investitionen
(z.B. für eine solare Stromerzeugung) eine partielle und befristete
Schuldenfinanzierung zu wählen. Die praktische Operationalisierung, d.h.
die Identifizierung des Personenkreises, der im Sinne der Regel als
äverantwortlich? zu betrachten ist, dürfte jedoch nur schwer möglich
sein. Aufgrund der Tatsache, daß sich Generationen konti-
6 Operationalisierung der ökonomischen Dimension
138
nuierlich überlappen, wird nie klar sein, welche Personen im einzelnen
diese politisch verantwortliche Generation bilden und wann deren
Verantwortung de facto beginnt bzw. beendet ist.
Vor diesem Hintergrund haben wir für die hier vorgeschlagene Regel eine
kameralistische, d.h. am einzelnen Haushalt orientierte Perspektive
gewählt, die sich im Prinz ip an der erwähnten Regelung des
Grundgesetzes orientiert. Schulden werden demzufolge für konsumtive
Ausgaben des Staates prinzipiell ausgeschlossen, was dem relativ leicht
vermittel- und operationalisierbaren Prinzip des äpay as you use? folgt.
Für die darüber hinausgehenden investiven Ausgaben ist die Zulässigkeit
von Verschuldung, in jedem Haushaltsjahr neu, an der
Nachhaltigkeitsrelevanz der jeweiligen Investition sowie an der
Gewährleistung der ? zu konkretisierenden ? Erhaltung staatlicher
Handlungsspielräume zu messen.
Regel 4: Sach-, Human- und Wissenskapital
Diese Regel stimmt als einzige in der Formulierung weitgehend mit der
entsprechenden Regel der Enquete-Kommission überein. Die hier
angesprochene äwirtschaftliche Leistungsfähigkeit? als Zielkriterium für
die Entwicklung der drei verschiedenen Kapitalarten ist dabei im Sinne
des im Kap. 3.3 beschriebenen zweiten generellen Nachhaltigkeitsziels
der äErhaltung des gesellschaftlichen Produktivpotentials? zu verstehen.
Die verschiedenen Kapitalien stellen das Potential zur Befriedigung
materieller Bedürfnisse in Form von Gütern und Dienstleistungen dar.
Damit umfaßt die Regel ausschließlich die ökonomisch nutzbaren
Komponenten dieser Kapitalarten. Deren über wirtschaftliche Nutzbarkeit
hinausgehende Bedeutung, vor allem die des Human- und Wissenskapitals,
wird in einer anderen Regel angesprochen.
Mit Blick auf die Operationalisierung der Regel sind die grundsätzlichen
Ziel- und Handlungsrichtungen bei den verschiedenen Kapitalarten
durchaus unterschiedlich gewichtet zu sehen. Hinsichtlich des Human- und
Wissenskapitals stellt sich die Perspektive der Erhaltung bzw.
qualitativen Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
relativ eindeutig und problemlos dar. Dabei wird dem
(Aus)Bildungsbereich in der Nachhaltigkeitsdebatte eine zunehmend
wichtiger werdende Rolle beigemessen. Diesem Ansinnen stehen in
Deutschland wie auch in zahlreichen anderen Ländern seit einigen Jahren
absolut gesehen sowie gemessen an den Staatsausgaben rückläufige
Bildungsausgaben gegenüber. Dies ist in dem Maße als problematisch
einzuschätzen, wie
6.4 Erläuterungen zu den Regeln 139
eine direkte Korrelation zwischen Ausgabenhöhe und Bildungsniveau
gegeben ist.
Durch kontinuierliche staatliche und private Aus-, Weiter- und
Fortbildungsmaßnahmen sowie Forschungs- und Entwicklungsförderung soll
einerseits eine Anpassung an die wissenschaftlich-technische
Entwicklung, andererseits auch deren Beeinflussung ermöglicht werden.
Damit soll dem Umstand entgegengewirkt werden, daß im Falle
unbeeinflußter marktwirtschaftlicher Prozesse tendenzielle
Unterinvestitionen in diesen Bereichen die Folge wären (vgl. Clar et al.
1997). Der Grund hierfür liegt vor allem darin, daß die positiven
externen Effekte von Wissensproduktion relativ weit in der Zukunft
liegen können, schwer ermittel- und quantifizierbar sind und daher nicht
entsprechend in die Handlungs- und Entscheidungskalküle der privaten
ökonomischen Akteure einbezogen werden.
Demgegenüber ist das Sachkapital unter anderen Gesichtspunkten zu
betrachten. Einerseits soll hier dem Erhaltungsgedanken Rechnung
getragen werden können. Unter diesem Blickwinkel wären sowohl ungenutzt
brachliegende oder auch verrottende Anlagen und Infrastrukturen (siehe
die entsprechenden Erfahrungen in zahlreichen Entwicklungsländern oder
auch in den Staaten des ehemaligen Ostblocks) als auch deren vorzeitiger
Ersatz, trotz noch vollständig erhaltener Funktionsfähigkeit, sowohl
unter ökonomischen wie auch ökologischen Aspekten als problematisch
einzuschätzen. Andererseits muß über diesen Erhaltungsgedanken hinaus
grundsätzlich die Möglichkeit der Anpassung ? also des Aufbaus, des
Umbaus und falls notwendig auch des Abbaus bestimmten Sachkapitals ?
gegeben sein. Die Kriterien hierfür werden durch die übrigen Regeln
bestimmt, mit denen auch diese Regel im Zusammenspiel zu sehen ist.
Im Hinblick auf die Frage nach Erhaltungs-, Verbesserungs- oder
Anpassungsnotwendigkeiten der einzelnen Kapitalarten spielt die
Innovationsthematik eine wichtige Rolle. Dabei ist der Innovationsprozeß
einer differenzierten Betrachtungsweise zu unterziehen, da sich sowohl
seine Richtung als auch seine Geschwindigkeit letztlich entscheidend auf
das e rzielte Ergebnis und dessen Beurteilung auswirken. Einerseits
besitzen Innovationen, im Sinne Schumpeters, neben einer schöpferischen
auch eine zerstörerische, vorhandenes Kapital entwertende Komponente. Im
Fall von Sachkapitalien besteht diese Entwertung vor allem in dem
entgangenen, für die nicht mehr genutzte Restlaufzeit des Kapitalguts
erwarteten wirtschaftlichen Gewinn sowie den noch nicht abgeschriebenen
Investitionskosten (äsunk costs?). Ebenso sind für die Beurteilung eines
neuen, äinnovativen? Kapitalguts die für dessen Herstellung
aufzuwendenden Ressourcen zu berücksichtigen.
6 Operationalisierung der ökonomischen Dimension
140
Dem sind andererseits die Folgen eines Verzichts auf die jeweilige
Innovation gegenüberzustellen, die sich u.a. auch in entgangenen (mit
dem neuen Kapitalgut möglichen) Gewinnen oder potentiellen
Ressourceneinsparungen ausdrücken lassen. Die Beurteilung einer
Innovation wird also immer das Ergebnis eines solchen Abwägungsprozesses
sein müssen.
Regel 5: Einkommens- und Vermögensverteilung
Wie oben schon angedeutet, stehen in der Trennung zwischen distributiven
Gerechtigkeitsfragen und allokativen Effizienzfragen letztere in den
Wirtschaftswissenschaften deutlich im Vordergrund der Analysen.
Verteilungsfragen wird häufig eine indirekte Bedeutung beigemessen, wenn
es beispielsweise um die Frage geht, inwieweit Tendenzen zu stärkerer
Gleich- oder stärkerer Ungleichverteilung bestimmte Anreize für
Innovations- und Wachstumsprozesse schaffen können. Darüber hinaus
stellen Politikbereiche wie die Steuer- oder die Sozialpolitik in
erheblichem Maße de facto Verteilungspolitik dar, da der Einsatz ihrer
Instrumentarien häufig verteilungsbeeinflussend wirkt.
Unabhängig davon kommt Gerechtigkeitsfragen in der
Nachhaltigkeitsdebatte, sowohl in ihrer inter- wie intragenerativen
Perspektive, von Beginn an eine zentrale Bedeutung zu. Es waren nicht
zuletzt die vor allem im globalen Maßstab als ungerecht diagnostizierten
Verteilungsgegebenheiten, die für die Autoren des Brundtland-Berichts
einen wichtigen Ausgangspunkt für Nachhaltigkeitsanalysen und
-strategien bildeten. Gleichwohl zählen Verteilungsfragen im allgemeinen
bzw. Maßnahmen, die ? intendiert oder auch nichtintendiert ?
verteilungsbeeinflussend wirken, schon immer zu den umstrittensten
Politikthemen.
Die Frage der Einkommens- und Vermögensverteilung bezieht sich hier, dem
allgemein üblichen Verständnis folgend, vorwiegend auf die
intragenerative Perspektive. In Analogie hierzu wurde in Regel 7 zur
ökologischen Dimension die Verteilung der Naturnutzung betrachtet und
insbesondere in den Regeln 2 bis 4 zur soz ialen Dimension die
Chancengleichheit heute lebender Menschen. Die hier vorgeschlagene Regel
bez ieht sich auf die Verteilung materieller Güter in Form von Geld und
(Produktiv)Kapital.
Trotz mancher Datenerfassungs- und -kompatibilitätsprobleme lassen sich
in bezug auf die Entwicklung der Einkommensverteilung auf der Basis der
Erhebungen etwa der Weltbank oder des UNDP zwei generelle Feststellungen
treffen: Zum einen hat die Verteilungsungleichheit zwischen
Entwicklungslän-
6.4 Erläuterungen zu den Regeln 141
dern und Industriestaaten in der Tendenz in den letzten Jahrzehnten
zugenommen. Zum anderen verlief die Entwicklung auf nationaler Ebene
sehr unterschiedlich, in einigen Ländern in Richtung zunehmender, in
anderen in Richtung abnehmender Ungleichverteilung.
Als Ursachen für wachsende Disparitäten werden sehr unterschiedliche
Faktoren genannt und kontrovers diskutiert (vgl. z.B. Samuelson/Nordhaus
1998). Sie können im politischen Bereich liegen (z.B. Einschränkungen
sozialbzw. wohlfahrtsstaatlicher Leistungen, angebotsorientierte
Wirtschafts- und Steuerpolitik, rückläufige Bildungsaktivitäten) oder
auch eher marktbedingt sein (z.B. überproportionales Ansteigen der
Gehälter für besser Ausgebildete im Vergleich zu Ungelernten).
In ähnlicher Weise vielfältig, komplex und umstritten sind auch die
Folgen von Verteilungsdiskrepanzen, die im Prinzip alle vier
Nachhaltigkeitsdimensionen betreffen: die ökonomische (etwa die
Auswirkungen auf Ersparnis, Investition, Wachstum, Innovation oder
Beschäftigung), die ökologische (beispielsweise im Hinblick auf
armutsbedingte Umweltzerstörungen), die soziale (etwa in der Frage
möglicher Auswirkungen auf die Umsetzung von Chancengleichheit oder auf
die Schaffung bzw. Sicherung sozialen Zusammenhalts) wie auch die
institutionelle (z.B. hinsichtlich der Auswirkungen auf die
Integrationsfähigkeit gesellschaftlicher Gruppen in
Entscheidungsprozesse oder auf den Machtausgleich zwischen ihnen).
Trotz der Kontroversen in der Gewichtung und der Beurteilung von
Ungleichheitsursachen und -folgen bzw. von umverteilenden Maßnahmen
besteht gleichwohl weitgehende Einigkeit darüber, daß sowohl zu große
Disparitäten als auch eine egalitäre Verteilung zu problematischen ?
wenn auch unterschiedlichen ? Effekten führen. Klärungsbedürftig und
wiederum strittig bleibt dabei die Frage, wo äzu groß? beginnt und was
als egalitäre Verteilung gilt.
Vor diesem Hintergrund muß eine Gesellschaft bestrebt sein,
Gerechtigkeits- und Effizienzaspekte in geeigneter Weise miteinander zu
verknüpfen. Dies würde eine Abkehr von der üblichen ökonomischen Praxis
bedeuten, effizienten Lösungen den Vorzug vor gerechten zu geben.
Gefragt werden muß somit nach Gerechtigkeitsprinzipien, die die
negativen Wirkungen von Ungerechtigkeit vermeiden und gleichwohl für
Private und Unternehmen ausreichende Leistungsanreize für innovative
Entwicklungen schaffen.
In diesen Fragen weithin anerkannte Positionen des
Gerechtigkeitsdiskurses können kurz wie folgt charakterisiert werden
(vgl. Koller 1995). Im Zuge der Herausbildung moderner Gesellschaften
hat sich eine heute allgemein aner-
6 Operationalisierung der ökonomischen Dimension
142
kannte Idee sozialer Gerechtigkeit durchgesetzt: die normative Idee von
der natürlichen Gleichheit der Menschen. Sie bedeutet, daß alle Menschen
von Geburt an grundsätzlich gleichberechtigt sind, d.h. daß ihnen in
ihrem gegenseitigen Verhalten gleiche Rechte und Pflichte zukommen. Je
nachdem, welchen Bereich sozialen Handelns es betrifft, ist dies
unterschiedlich auszubuchstabieren. Im Bereich der distributiven
Gerechtigkeit - hier geht es um die Verteilung gemeinsamer Güter - wird
das Prinzip der natürlichen Gleichheit wie folgt spezifiziert: Alle
Mitglieder einer Gesellschaft müssen einen gleichen Anteil an den
gemeinschaftlichen Gütern und Lasten erhalten, wenn nicht allgemein
annehmbare Gründe eine ungleiche Behandlung oder eine ungleiche
Verteilung rechtfertigen.
Die Frage, ob und inwiefern neben sozialen Chancen die wirtschaftlichen
Chancen sowie die wirtschaftliche Ausstattung von Personen (Einkommen
und Besitz) zu sozialen Gütern zu zählen sind, die gemäß den erwähnten
allgemeinen Grundsätzen zu verteilen sind, wurde zu unterschiedlichen
Zeiten unterschiedlich beantwortet. Auch heute noch ist die Ansicht zu
finden, daß diese Güter durch menschliche Arbeit und persönliche
Leistung hervorgebracht werden und deshalb nicht als soziale Güter zu
betrachten seien, die gemäß Gerechtigkeitsprinzipien zu verteilen sind,
vielmehr wird dem Produzenten der Güter ein bevorzugter Anspruch
eingeräumt.68 Mit der fortschreitenden Arbeitsteilung in der
Gesellschaft sowie der zunehmenden Verflechtung ökonomischer Aktivitäten
hat allerdings in den vergangenen 150 Jahren auch die Auffassung
wachsende Verbreitung gefunden, daß Vermögen und Einkommen soziale Güter
sind, die in einem umfassenden System arbeitsteiliger Zusammenarbeit
zustande kommen und deshalb der gerechten Verteilung bedürfen. Als
Gründe, die eine ungleiche Verteilung als akzeptabel erscheinen lassen,
werden demgemäß weithin die folgenden anerkannt: 1. Die Berücksichtigung
von ungleichen Beiträgen und Leistungen der Bürger, sofern diese
Beiträge und Leistungen auf lange Sicht allen zugute kommen und die
Ungleichheit niemanden in seinen Rechten verletzt
(Leistungsgerechtigkeit). 2. Die Deckung dringlicher Grundbedürfnisse
einzelner Personen, die dazu selbst nicht in der Lage sind
(Bedürfnisgerechtigkeit). 3. Die Wahrung einigermaßen stabiler
Eigentums- und Verfügungsrechte (Besitzstandsgerechtigkeit). Zwar führt
dieses Prinzip im allgemeinen zu Verteilungsungleichheiten, die jedoch
als akzeptabel
68 Problematisch an d ieser Ansicht ist u.U. die Tatsache, daß
wirtschaftliche Güter i.a. Mischgüte r in folgendem Sinn sind: Sie
enthalten Gemeingüter i n Form natürliche r und gesellschaftlicher
Ressourcen (vgl. Kap. 5.4, Regel 4) sowie die Arbeitsleistung des
Produzenten. Beide Komponenten müßten gerecht verteilt werden.
6.4 Erläuterungen zu den Regeln 143
erscheinen, sofern sie einen ökonomischen Wettbewerb sicherstellen, der
auf lange Sicht allen Bürgern zum Vorteil gereicht. Wie man erkennt, ist
jedem dieser drei Gründe nicht nur jeweils eine Rechtfertigung, sondern
auch eine Begrenzung von Ungleichheit inhärent. Auch damit wohnt dem
hier skizzierten Postulat der wirtschaftlichen Verteilungsgerechtigkeit
eine Tendenz zur Gleichheit inne.
Die hiermit erläuterte Regel 5 impliziert ohne Frage, daß die Verteilung
von Einkommen und Vermögen im Sinne von Nachhaltigkeit so beschaffen
sein muß, daß insbesondere die Regel 2 (Grundversorgung) und Regel 3
(Chancengleichheit) der sozialen Dimension erfüllt werden können. Armut
und soziale Exklusion, die auf extremen Einkommens- und
Vermögensunterschieden beruhen, sind somit nicht zu rechtfertigen. In
diesem Zusammenhang sind Besitzstands- sowie Leistungsgerechtigkeit
deshalb von untergeordneter Bedeutung. Sie wären in dem Maße, in dem in
einer Gesellschaft Bedürfnisgerechtigkeit nicht realisiert ist, geringer
zu gewichten.
Regel 6: Internationale Wirtschaftsbeziehungen
Angesichts eines zunehmend globalisierten und auf internationaler
Arbeitsteilung basierenden ökonomischen Systems kommt einer
Nachhaltigkeitsregel, die die Gestaltung der internationalen
Wirtschaftsbeziehungen zum Gegenstand hat, erhebliche Bedeutung zu.
Der hier in den Mittelpunkt der Regel gestellte Terminus der äfairen
Teilnahme am Wirtschaftsgeschehen? ist dabei differenziert zu
betrachten. Er basiert auf der einen Seite auf der auch einigen anderen
in diesem Bericht vorgeschlagenen Nachhaltigkeitsregeln
zugrundeliegenden Zielsetzung von Chancengleichheit bzw. vergleichbaren
Chancen für Staaten bzw. gesellschaftliche Akteure. Insofern impliziert
er die Forderung der Sicherstellung eines möglichst gleichberechtigten
und dauerhaft zu garantierenden Zugangs zu den (internationalen)
Märkten. Diese Forderung ist sowohl in den W irtschaftswissenschaften
als auch in der Politik oder den internationalen Organisationen relativ
unumstritten. Auf der Ebene politischer Bekundungen wird ihr gerade im
Hinblick auf die ärmsten Länder Ausdruck verliehen, für die explizite
oder implizite Benachteiligungen möglichst vermieden werden sollen. Die
über solche Bekundungen hinausgehende politische und wirtschaftliche
Realität ist jedoch für diese Länder häufig in vielfältiger Weise von
solchen Benachteiligungen
6 Operationalisierung der ökonomischen Dimension
144
gekennzeichnet (und führt damit dort nicht selten zu nicht-nachhaltigen
Zuständen in ökologischer wie auch ökonomischer und sozialer Hinsicht).
Zu denken wäre hier etwa an eine aus ökonomischer Potenz resultierende
beherrschende Position eine Landes auf einem internationalen Markt, die
beispielsweise zur Zerstörung von vorhandenen Wirtschaftsstrukturen in
anderen Ländern oder dort zu einer Tendenz in Richtung einer Senkung
vorhandener Produkt- bzw. Produktionsstandards führen kann. Auch die
Errichtung nationaler oder wirtschaftsraum-bezogener (Beispiel EU)
Handelsschranken etwa in Form von Importrestriktionen würde einem Ziel
fairer Austauschprozesse von Gütern und Dienstleistungen widersprechen.
Auf der anderen Seite geht es darum, diese Austauschprozesse in ihren
Auswirkungen, auch in ihren regionalen Verflechtungen, zu analysieren
und zu bewerten. Dies ist insofern erforderlich, weil die Forderung
gleicher bzw. vergleichbarer Marktzugangschancen die Offenheit von
Märkten und damit im Sinne des Freihandels die prinzipielle Förderung
der grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Austauschprozesse impliziert.
Dieser Prozeß ist jedoch letztlich ? wie die anderen äTypen? von
Chancengleichheit im Prinzip auch ? an der Einhaltung der übrigen
Nachhaltigkeitsregeln zu messen.
In der wissenschaftlichen und politischen Debatte wird zumindest seit
den 70er Jahren eine sehr kontroverse Diskussion über Chancen, Probleme
und Risiken dieses Freihandels geführt, die sich in den letzten Jahren
zu einer Diskussion über die vielfältigen Auswirkungen der verschiedenen
Globalisierungsprozesse erweitert hat, in der eine kaum noch übersehbare
Literaturfülle entstanden ist. An diese Debatte anknüpfend wird
mittlerweile ebenso kontrovers über den Zusammenhang zwischen
Globalisierung und Nachhaltigkeit diskutiert. Hier geht es insbesondere
um die Frage, inwieweit sich die verschiedenen Globalisierungsprozesse
auf Ziele einer nachhaltigen Entwicklung in den verschiedenen
Dimensionen auswirken bzw. welche Anforderungen sich aus dem Leitbild
einer global nachhaltigen Entwicklung für mögliche Steuerungen dieser
Prozesse ergeben können. Einen ersten Überblick über dieses Themenfeld
und die hier diskutierten Positionen liefern beispielsweise
Friedrich-Ebert- Stiftung 1998; Kreissl-Dörfler 1998; Petschow et al.
1998; Steger 1999.
Gegenstand der Diskussion ist hier in erster Linie die Beurteilung des
stetig wachsenden grenzüberschreitenden Handels mit Gütern und
Dienstleistungen und dessen verschiedene Folgeeffekte sowie die
Notwendigkeit bzw. konkrete Ausgestaltung darauf bezogener nationaler
oder supranationaler Regelungsmechanismen. So wird von seiten etwa der
Weltbank, der Welthandelsorganisati-
6.4 Erläuterungen zu den Regeln 145
on (WTO), großer Teile der Industrie oder von Vertretern der
neoklassischen Wirtschaftstheorie internationaler Handel nach wie vor
als vor allem gesamtwirtschaftlich effizienzsteigernde Ausnutzung
jeweiliger komparativer Kostenvorteile betrachtet, die letztlich allen
am Handel Beteiligten vor allem via Wachstums- und
Beschäftigungssteigerung einen Wohlfahrtsgewinn bringt. Bestehende bzw.
prognostizierte ökologische oder soziale Folgeprobleme werden als
überbewertet, grundsätzlich lösbar bzw. durch die positiven Effekte
deutlich überkompensiert eingeschätzt (vgl. u.a. WTO 1999; OECD 1998a,
1998b; Beyfuß et al. 1997; Pflüger 1999).
Demgegenüber heben Vertreter einer kritischen Position einerseits gerade
die Problematik einer handelsinduzierten Steigerung der globalen Dynamik
des Wirtschaftswachstums hervor, insbesondere aus ökologischen Gründen.
Andererseits werden hier vor allem die ärmsten Länder benachteiligende
und generell zu vielfältigen nicht-nachhaltigen Entwicklungen führende
weltwirtschaftliche Prozesse ebenso kritisiert wie negative Auswirkungen
von Globalisierungsprozessen auf nationale Arbeitsmärkte und
Sozialstaatsstrukturen (siehe z.B. Daly 1999; Datta 1993;
Martin/Schumann 1996; Jenner 1997; Neyer 1996; Went 1997;
Kreissl-Dörfler 1998).
Zentrale Themen sind in diesem Zusammenhang etwa die seit langem
herrschenden (Markt)Machtverhältnisse, die beispielsweise über die
vergangenen Jahrzehnte betrachtet zu einer deutlichen realen (d.h.
preissteigerungsbereinigten) oder sogar nominalen Senkung der
Rohstoffpreise auf den Weltmärkten geführt haben (vgl. z.B. Durning
1992). Ein Thema von ähnlicher Bedeutung ist die in den letzten Jahren
exorbitante Zunahme der internationalen Finanzströme, ihre mittlerweile
mengenmäßig gesehen deutliche Entkopplung von den Güter- und
Dienstleistungsströmen sowie die daraus resultierenden Beeinflussungen
z.B. von Zinssätzen, was gerade in den ärmeren Staaten häufig zu großen
Problemen führt. In Konsequenz solcher Kritik werden beispielsweise eine
stärkere Reorientierung der Wirtschaftsprozesse an den regionalen Räumen
gefordert oder auch stringente(re) Steuerungs- bzw.
Regulierungsmechanismen für den grenzüberschreitenden Austausch von
Waren und Dienstleistungen.
Andere etwas weniger kritische Positionen schätzen den internationalen
Handel nicht prinzipiell als umwelt- oder sozial-unverträglich ein,
diagnostizieren jedoch ? neben vielen positiven Effekten ? zumindest
dergestalt signifikante negative ökologische und soziale Folgeprobleme,
daß sie Lösungs- und
6 Operationalisierung der ökonomischen Dimension
146
Regelungsbedarf sehen (vgl. z.B. Weber 1998; Anderson/Blackhurst 1992;
SRU 1998).
Vor diesem Hintergrund sind differenzierte Betrachtungen erforderlich.
Zum einen werden hier die Möglichkeiten und Grenzen international
festgelegter ökologischer und sozialer Mindeststandards diskutiert, mit
denen es gelingen soll, einerseits eine globale Angleichung von Lebens-
und Produktionsbedingungen und andererseits faire(re) Handelsbeziehungen
zu erreichen (siehe z.B. Germanwatch 1999; Kreissl-Dörfler 1995;
Mayer/Hartmann 1996; Sandhövel 1998). Zum anderen wird darüber
diskutiert, wie es gelingen kann, eine angemessene Verknüpfung zwischen
dem Abbau von Handelshemmnissen auf den verschiedenen Ebenen einerseits
und gezielten protektionistischen, staatsinterventionistischen Maßnahmen
zur Korrektur von Marktungleichgewichten andererseits zu erreichen. Vor
dem Hintergrund einer in den letzten Jahren erheblichen Zunahme
internationaler Großfusionen etwa in der Automobil-, Chemie- und
Bankenbranche wäre in diesem Zusammenhang auch über die Möglichkeiten
und Grenzen der Einrichtung beispielsweise international
handlungsfähiger Kartellbehörden zu diskutieren.
Auch an diesem Beispiel zeigt sich sehr deutlich, daß auch diese Regel
in enger Verbindung mit den anderen Regeln, in diesem Fall mit denen der
institutionellen Dimension, zu sehen ist.
Regel 7: Internationale Zusammenarbeit
Diese Regel lehnt sich mit ihrer Forderung nach Zusammenarbeit von
Staaten, Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen bei der
Einleitung einer nachhaltigen Entwicklung eng an die Rio-Deklaration und
die Agenda 21 an. Dort wird internationale Kooperation als eine
wesentliche Voraussetzung für die Erreichung einer global
zukunftsfähigen Entwicklung gesehen.
In einigen der siebenundzwanzig Prinzipien der Rio-Deklaration wird die
Forderung einer solchen internationalen Zusammenarbeit erhoben: bei der
Bekämpfung der Armut (Prinzip 5), beim Schutz und der Wiederherstellung
der Ökosysteme der Erde (Prinzip 7), beim Capacity Building für eine
nachhaltige Entwicklung durch wissenschaftliche Zusammenarbeit und
Technologietransfer (Prinzip 9), bei der Förderung eines offenen
internationalen Wirtschaftssystems, das zu wirtschaftlichem Wachstum und
nachhaltiger Entwicklung führt (Prinzip 12), bei der Vermeidung des
Transfers und der Verbringung umweltoder gesundheitsschädlicher Stoffe
in andere Staaten (Prinzip 14) und schließ-
6.4 Erläuterungen zu den Regeln 147
lich bei der Entwicklung internationalen Rechts zur Förderung einer
nachhaltigen Entwicklung.
In diesem Sinne sind Kooperationserfordernisse in den verabschiedeten
internationalen Umweltschutzkonventionen festgeschrieben worden, u.a. in
der Klimarahmenkonvention und der Biodiversitätskonvention. Hier wird
vor allem gefordert, daß in der Zusammenarbeit etwa bei der Bekämpfung
der globalen Umweltprobleme dem Prinzip der gemeinsamen, aber
unterschiedlichen Verantwortlichkeiten der Staaten und ihrer
unterschiedlichen Fähigkeiten Rechnung getragen werden soll. Dieses
Prinzip erkennt an, daß die Industrieländer einerseits bisher die
Hauptverantwortung für die Entstehung der globalen Umweltprobleme tragen
und daß sie andererseits über mehr Finanzmittel und größere technische
Leistungsfähigkeit als die Entwicklungsländer verfü- gen. Demzufolge
sollen sie die Führerschaft bei der Bekämpfung der globalen
Umweltprobleme übernehmen und insbesondere die Entwicklungsländer bei
der Bekämpfung der eng verknüpften Phänomene Armut und Umweltzerstö-
rung unterstützen.
7 Operationalisierung der institutionell-politischen Dimension
Im Kap. 2.3. wurde bereits hervorgehoben, daß die Frage nach den
Realisierungschancen einer zukunftsfähigen Entwicklung eine Frage der
gesellschaftlichen Selbstveränderung ist, die nicht ohne Steuerung
auskommt, deren Steuerungsfähigkeit jedoch ? zumindest unter den
gegebenen Bedingungen ? umstritten ist. Die Fähigkeit, individuelles
Verhalten regulieren zu können, wird gemeinhin gesellschaftlichen
Institutionen zugesprochen, weshalb sich in den letzten Jahren die Frage
nach dem äWie? einer zukunftsfähigen Entwicklung weitgehend auf die
Frage nach geeigneten Institutionen konzentriert hat.
7.1 Warum Institutionen?
Institutionen gelten seit Entstehung moderner Gesellschaften als
wichtige Vermittlungsglieder zwischen Individuen und Gesellschaft. In
der soziologischen Forschung werden sie als sozial normierte
Verhaltensmuster (vgl. Mayntz/Scharpf 1995) bezeichnet, als äkulturell
geltende, einen Sinnzusammenhang bildende, durch Sitte und Recht
öffentlich garantierte Ordnungsgestalt, in der sich das Zusammenleben
von Menschen darbietet? (Bernstorf 1972, S. 317). Gehlen sieht in
Institutionen regulative Instanzen, ädie menschliches Verhalten ganz
ähnlich wie der Instinkt das tierische Verhalten kanalisiert?.
Institutionen sorgen für Verfahrensweisen, mit deren Hilfe das
menschliche Verhalten generalisiert und auf bestimmte Muster festgelegt
werden kann. äSie liefern die von der Gesellschaft begehrten Schablonen,
an denen sich das Verhalten orientieren kann und nach denen es sich
richten muß? (Gehlen 1956).
Der WBGU spricht von allgemeinen Regeln, ädie öffentliches wie privates
Handeln zielorientiert beeinflussen und damit eine rahmengebende und
steuernde Funktion haben? (WBGU 1995, S. 69). In einem Gutachten für die
Enquete-Kommission des 13. Deutschen Bundestages ist von formellen (z.B.
Gesetze) oder informellen (z.B. Konventionen) Regeln die Rede, ädie im
Sinne eines kollektiven Koordinationsmechanismus eine bestimmte, die
individuellen Interessen regulierende, kollektiv akzeptierte Norm in
direkte Verhaltensvorgaben für die verschiedenen Individuen umsetzen?
(Minsch et al. 1998, S. 99).
Als äpazifierende Einrichtungen? (Elias 1988), als Mechanismen, die
äSpannungen stabilisieren? (Lipp 1989) sind Institutionen auch immer
heran-
7 Operationalisierung der institutionell-politischen Dimension
150
gezogen worden, um eine Antwort auf das sogenannte äHobbessche Problem?
(Parsons 1976) geben zu können: Warum entsteht und entwickelt sich trotz
divergenter Motiv-, Interessen- und Machtlagen der vereinzelten
Individuen eine gesellschaftliche Ordnung geregelten Verhaltens?
Wenngleich alle Antworten auf diese Grundfrage den Institutionen eine
große Bedeutung beimessen, ist ihr Stellenwert ? vor allem in der
Soziologie ? bis heute umstritten. Entscheidend ist die Stabilität von
Erwartungsstrukturen. Man muß sich (bis zu einem gewissen Grad) darauf
verlassen können, daß so und nicht anders gehandelt wird. Auf solchen
reziproken Handlungserwartungen baut soziale Ordnung auf. Daß solche
verfestigten Erwartungen zustande kommen, wird von einigen Autoren (z.B.
Parsons69) gesellschaftlichen Normen (soziologisch gesehen also
Institutionen), von anderen jedoch der äreinen Tatsache der
Vergesellschaftung? (Simmel) oder menschlicher Solidarität (Durkheim)
zugesprochen. In Deutschland war es vor allem die Erfahrung mit dem
Nationalsozialismus, die Adorno und Horkheimer zu einer scharfen Kritik
derjenigen soziologischen Ansätze veranlaßten, die von einer
normengeleiteten Integration der Gesellschaft sprachen. Parsons
Integrationsbegriff ? so Adorno ? ließe äeinem unvernünftigen Zustand
der Gesellschaft Raum (...), wofern er nur Macht genug hätte, die ihm
Angehörigen vorweg zu modellieren? (Adorno 1972, S. 45f.).
Menschlichkeit werde so mit einer durch auferlegte oder verinnerlichte
Zwänge zustande gekommenen Konformität verwechselt. Und in der Tat
besteht ja die integrierende Bedeutung von Institutionen darin, im Falle
von Abweichungen die Anpassung des individuellen Handelns an die
gesellschaftlich generalisierten Erwartungen einzufordern und nicht etwa
umgekehrt, die Normen dem faktischen Handeln anzupassen. Deshalb ist es
auch gerade bei Normen so wichtig, diese möglichst genau zu
spezifizieren (z.B. in Form von Gesetzen). Aber die soziologische Frage
dabei ist: Wieso erwartet man eigentlich von anderen (der Mehrheit der
Bevölkerung, der Menschheit etc.) für diese normierten Erwartungen eine
Unterstützung? Kann es nicht sein, daß die Einheit und Ordnung der
Gesellschaft der Normierung von Erwartungen vorausgesetzt ist und nicht
umgekehrt?
Der in der Soziologie übliche ? sehr weit gefaßte ? Institutionenbegriff
zeichnet sich durch einen Verzicht auf formale Begriffsbestimmungen aus.
Er wird sowohl auf Organisationen (im Sinne bürokratischer und
hierarchischer Strukturen) bezogen als auch auf Regelsysteme (Regime).
Im Mittelpunkt stehen die funktionalen Effekte, um die es geht.
Entscheidend ist, daß eine regu-
69 Pa rsons spricht von Institut ionen als äsystem of regulary norms, of
rules governing action?.
7.1 Warum Institutionen? 151
lative und steuernde Wirkung erzielt wird, und zwar (relativ)
dauerhaft.70 Diese Wirkungen sind nicht gebunden an formalisierte
Bedingungen sozialen Handelns, sondern es können ebenso informelle, im
Verlauf der Sozialisation internalisierte Gewohnheiten, Routinen, Sitten
sein (vgl. Hasse/Krücken 1999), die das Individuum in übergreifende
Erwartungsstrukturen integrieren.71 Es stellt sich allerdings die Frage,
welchen Erklärungswert ein derart weit gefaßter Institutionenbegriff
noch besitzt.72 Daran wiederum schließt sich die Frage an, ob die
Soziologie nicht mit dem Begriff des Sozialen Systems möglicherweise
über einen präziseren Begriff zur Beantwortung des äHobbesschen Problems
sozialer Ordnung? verfügt.
In den Politikwissenschaften dagegen haben wir es nach Göhler äzumeist
mit durchaus eindeutig identifizierbaren Gebilden zu tun? die er als
äinstitutionelle Konfigurationen? bezeichnet (Göhler 1997, S. 25). Sie
sind nicht so eng definiert wie Organisationen, aber enger als die
soziologische Rede von verfestigten Verhaltensmustern und Sinngebilden.
äPolitische Institutionen sind Regelsysteme der Herstellung und
Durchführung verbindlicher, gesamtgesellschaftlich relevanter
Entscheidungen und Instanzen der symbolischen Darstellung von
Orientierungsleistungen einer Gesellschaft? (Göhler 1997, S. 29). Diese
Definition umfaßt zwei Funktionen: Erstens eine instrumentelle, der
Steuerung dienende,73 und zweitens eine expressive oder symbolische, der
Integration74 dienende Funktion. Die erste vollzieht sich durch
äzweckgerichtete Regulierung von Handlungsoptionen?, die zweite in Form
einer äpersistenten Repräsentation des (wertebezogenen)
Orientierungsangebots?. In beiden Fällen wird Macht ausgeübt. Im ersten
Fall eine ätransitive?, im zweiten Fall eine äintransitive? Macht
(Göhler 1997, S. 29ff.).
Natürlich sind auch politische Institutionen grundsätzlich soziale
Institutionen, aber ein Sonderfall, deren Eigenart dadurch bestimmt
wird, daß äeine
70 Für Göhler macht d ie Stabilität das äInstitutionelle? an den
Institutionen aus: äSoziale Institut ionen sind rela tiv auf Dauer
gestellte, durch Internalisierung verfe stigte Verhaltensmuster und
Sinngebilde mit regulierender und orientierender Funktion? (Göhler 1997,
S. 28). Die Stabilität bezieh t sich dabei nicht nur auf die Wirkungen,
sondern auch auf die Strukturierung, also auf die Form. Als Beispiel
könnte man die Verfassungen der modernen Nationalstaaten anführen, in
der bestimmte politische Verhaltensmuster normiert sind und die sich als
Institution trotz ihrer historischen Diskontinuität über Jahrhunderte
gehalten haben. 71 äInstitutiona lisierung findet statt, sobald
habituali s ierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok
typisiert werden? (Berger/Luckmann 1969, S. 58). 72 Diese Frage stellte
beispielsweise Coleman an Parsons (vgl. Wein ert 1997, S. 72). 73 Göhler
spricht in Anlehnung an Max Weber von einer Willensbeziehung. 74 äDie
Bürger politisch zu integrieren heißt, sie in d ie Ordnungsprinzipien
des Gemeinwesens so einzubinden, daß sie das Gemeinwesen im Grundsatz
als das ihre ansehen können? (Göhler 1997, S. 29).
7 Operationalisierung der institutionell-politischen Dimension
152
Gesellschaft, um in der Vielfalt ihre Einheit und in der Einheit ihre
Vielfalt zu bewahren, verbindliche, für alle geltende Entscheidungen
benötigt ? und zwar in dem Maße (und nur in dem Maße), wie
gesamtgesellschaftlich gesehen ein Regelungsbedarf besteht, der auch
gesamtgesellschaftlich realisiert werden kann? (Göhler 1997, S. 28).
Zur Präzisierung, wie Institutionen die ihnen zugewiesenen Funktionen
erfüllen können, unterscheidet Weinert (1997, S. 87) drei Formen, in
denen sich die institutionellen Konfigurationen manifestieren und die in
einem Verhältnis ästruktureller Kopplung? zueinander stehen:75
? abstrakte Institute (Leitideen generalisierbarer Wertmuster), ?
spezifizierte Institutionen (nach bestimmten Rationalitätskriterien
institutionalisierte legitime Ordnungsmuster) und ? historisch konkrete
Organisationen (Institutionen legalisierter Interessenrepräsentationen
in Form organisatorischer Materialisationen).
Schelsky hat in Anlehnung an Malinowskis Theorie von den
Grundbeziehungen von Bedürfnissen und Institutionen (vgl. Malinowski
1974) eine Institutionenhierarchie formuliert (vgl. Schelsky 1970, S.
19f.).76 Daran anknüpfend unterscheidet Gimmler zwischen Institutionen
erster und zweiter Ordnung: äGenerell gilt, daß die Begründung von
Institutionen zweiter Ordnung nicht direkt aus scheinbar natürlichen
Bedürfnissen (wie z.B. Schutz der Kinder ? Zusatz der Verfasser), bzw.
aus gleichsam kontextfreien Begründungszusammenhängen stammen kann,
sondern diese sind reflexive Institutionen, insofern in ihnen nicht nur
bestimmte Handlungskoordinationen auf Dauer gestellt sind, sondern die
Verfahren der Institutionalisierung selber wiederum institutionalisiert
werden.? (Gimmler 1998, S. 25f.) äInstitutionen sind in ihrer jeweils
spezifischen Gestalt zeitlich und räumlich begrenzte intermediäre
Komplexe, in denen sich sozialer, politischer und technologischer Wandel
ausdrückt? (Gimmler 1998, S. 11). In institutionellen Strukturen und
Leitideen finden sich die sedimentierten Überzeugungen, Normen, Werte
und Gewohnheiten von Gesellschaften dauerhaft verankert. D.h.,
Institutionen können einerseits als Resultat des Handeln der Individuen
be-
75 Als Beispiel wird angeführt, daß dem Institut äEinkommenssicherung?
die Institution äGewerkschaft? entsp richt, die sich wiederum in
unterschiedlichen konkreten gewerkschaftlichen Organisat ionen
manifestiert. 76 Schon Hegel hat in seiner Rechtsphilosophie darauf
aufmerksam gemacht, daß Institutionen, wie beisp iel s weise die
Familie, und staatliche Einrichtungen, wie beispielsweise Parlamente,
auf unterschiedlichen Ebenen beschrieben werden müs sen. Hegel bezieht
sich dabei vor allem auf die Ausführungen der Politischen Ökonomie von
Smith, Say und Ricardo (vgl. Hegel 1970).
7.2 Zum Stand der Debatte 153
trachtet werden: sie werden erzeugt, reproduziert und verändert. Ebenso
können sie aber auch als diesem Handeln vorausgesetzt bezeichnet werden:
durch ihr Handeln vollziehen die gesellschaftlichen Akteure die in den
Institutionen sedimentierten Werte und bringen sie dadurch überhaupt
erst zur praktischen Geltung.
Institutionen haben sozialwissenschaftlich gesehen einen janusköpfigen
Charakter. Sie sind selten kritiklos beschrieben worden. Das äUnbehagen
an den Institutionen? (Taubes 1970) wurde vielfach formuliert. Max
Weber, der die Institutionalisierung als eine eigensinnige Formung von
Handlungsrationalität mit universeller, d.h. von situativen Kontexten
unabhängiger Gültigkeit beschreibt, warnt vor einem äGehäuse der
Hörigkeit?. Bereits Marx hatte beschrieben, wie aus dem äWiderspruch des
besonderen und gemeinschaftlichen Interesses (...) das gemeinschaftliche
Interesse als Staat eine selbständige Gestalt annimmt?, allerdings als
eine äillusorische Gemeinschaftlichkeit?, in der letztlich die
Bourgeoisie sich eine Organisationsform nach innen und außen zur
äGarantie ihres Eigentums und ihrer Interessen? gibt (Marx/Engels
1969). Im Anschluß an Marx ist vielfach der aus dem Klassencharakter des
bürgerlichen Staates erwachsene repressive Charakter seiner
Institutionen kritisiert worden (vgl. Althusser 1973; Foucault 1976;
Gramsci 1986; Poulantzas 1978). Für Giddens ist es vor allem die mit
Kapitalismus, Industrialismus, Überwachung und militärischer Macht
verbundene Institutionalisierung, die die Moderne von vormodernen
Gesellschaften unterscheiden (vgl. Giddens 1995).
Auch in den Wirtschaftswissenschaften werden Institutionen als
regelgeleitete Handlungszusammenhänge verstanden, die durch stabile
Erwartungen charakterisiert sind. Nach North erfüllen Institutionen
ordnungsstiftende und unsicherheitsreduzierende Funktionen in
Tauschbeziehungen (vgl. North 1992). Insbesondere Eigentumsrechte, Staat
und Ideologien wirken sich über die Transaktions- und Produktionskosten
auf die Profitabilität von Unternehmen aus und bestimmen dadurch die
wirtschaftlichen Entscheidungspotentiale.
7.2 Zum Stand der Debatte
Abgesehen von der allgemeinen Plausibilität, die hinter der Forderung
nach institutionellen Innovationen steht, weil sich die Lösung globaler
Probleme kaum anders als über geordnetes, geregeltes, auf Abkommen und
Absprachen basierendes Handeln von gut organisierten und mit einem
legitimen Mandat ausgestatteten Einrichtungen der Gesellschaft
vorstellen läßt, äbesteht noch wenig gesichertes Wissen darüber, ob und
auf welche Weise (...) institutionelle Ar-
7 Operationalisierung der institutionell-politischen Dimension
154
rangements effektiv Beiträge zu der Realisierung? nachhaltiger
Entwicklung leisten (WBGU 1995, S. 68).
Auch in seinem Jahresgutachten 1996 verweist der WBGU auf Defizite,
entwirft eine Reihe von Vorschlägen und regt gleichzeitig die
Intensivierung der Forschung zu folgenden Themen an:
? Kulturvergleichende Untersuchung der Erfolgsbedingungen
institutioneller Regelungen;
? Analyse des Verhältnisses verschiedener Institutionenformen auf
unterschiedlichen Ebenen (internationale, supranational, national,
subnational); ? Umsetzung völkerrechtlicher Übereinkommen
(Konventionenforschung); ? Interdisziplinäre Forschung zu den
Möglichkeiten internationaler Regelungen für den Umgang mit den globalen
Umweltgütern (global commons); ? Erarbeitung von Reformvorschlägen für
Institutionen unter umweltpolitischen Gesichtspunkten (z.B. WTO),
internationale Entwicklungsbanken etc.);
? Forschung zum Problem der compliance: Entwicklung von Instrumenten zur
Durchsetzung internationaler Konventionen (vgl. WBGU 1996, S. 87).
Bereits in der Agenda 21 ist die Frage der institutionellen Dimension
zukunftsfähiger Entwicklung thematisiert worden. Sehr deutlich tritt es
in der Frage der Entwicklungszusammenarbeit auf. Der gesamte Abschnitt 3
der Agenda 21 befaßt sich mit der Frage der Stärkung von Partnerschaften
zwischen den verschiedenen Akteursgruppen und der Abschnitt 4 mit den
finanziellen und institutionellen Mitteln zur Umsetzung.
äDie Frage, ob ein Land in der Lage ist, einen in Richtung nachhaltige
Entwicklung führenden Kurs zu verfolgen, hängt weitgehend von den
Fähigkeiten seiner Menschen und Institutionen sowie den herrschenden
ökologischen und geographischen Bedingungen ab. Die Stärkung von
personellen und institutionellen Kapazitäten (capacity building) bezieht
sich auf das personelle, wissenschaftliche, technologische,
organisatorische, institutionelle und finanzielle Potential des
jeweiligen Landes. Ein wesentliches Ziel der Stärkung von personellen
und institutionellen Kapazitäten besteht darin, die Fähigkeit eines
Landes zu verbessern, die wichtigen Fragen im Zusammenhang mit der Wahl
des politischen Kurses und den Umsetzungsmodalitäten für verschiedene
Entwicklungsalternativen ausgehend von einer genauen Kenntnis der
ökologischen Potentiale und Grenzen sowie der Bedürfnisse aus der Sicht
der Bevölkerung des betreffenden Landes zu bewerten und zu lösen.
Demzufolge betrifft die Notwendigkeit, die nationalen Kapazitäten zu
stärken, alle Länder gleichermaßen.? (Kap. 37.1)
Doch es geht nicht allein um die staatlich-administrativen Strukturen.
Durch die in der Agenda 21 ausdrücklich hervorgehobene Forderung nach
Einbeziehung der Bürger verschiebt sich das gewohnte Bild der Akteure.
Nachhaltigkeit
7.2 Zum Stand der Debatte 155
ist ein gesellschaftliches Projekt, das aufgrund der Dynamik und
Komplexität seiner ökologischen, ökonomischen und sozialen Dimensionen
nicht erschöpfend und nicht unumstritten für alle Zeiten abschließend
definiert werden kann. Vielmehr müssen die Akteure, Organisationen,
Institutionen, diskutierenden Zirkel und Individuen mit ihren
partikularen Weltbezügen, Identitäten und Interessen zukunftsfähige
Formen des Wirtschaftens und Lebens im Verlauf dieses Prozesses erst
finden. Das gilt für die Politik ebenso wie für die Wirtschaft,77
Wissenschaft und andere gesellschaftliche Systeme. Ein gemeinsames
Bezugssystem muß entwickelt, Wissen muß bereitgestellt, unterschiedliche
Handlungsstrategien müssen aufeinander abgestimmt, Erfahrungen
ausgetauscht und viele einzelne Maßnahmen und Aktionen im Zusammenhang
mit der regulativen Idee äSustainable Development? reflektiert werden.
In der Agenda 21 werden ausdrücklich institutionelle Innovationen im
Bereich der internationalen Zusammenarbeit und auf supranationaler Ebene
angesprochen (Kap. 38). Aber auch nationale Mechanismen und die Stärkung
der institutionellen Kapazitäten (insbesondere in den
Entwicklungsländern) werden thematisiert (Kap. 37). Außerdem werden
internationale Rechtsinstrumente und -mechanismen gefordert. Aber auch
die lokalen Institutionen werden hervorgehoben (Kap. 31). Im Bericht der
Enquete-Kommission des 13. Deutschen Bundestages äSchutz des Menschen
und der Umwelt? wird auch nach institutionellen Hemmnissen für
Fortschritte im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung im gegenwärtigen
Gefüge der Bundesrepublik Deutschland gefragt. Von institutionellen
Innovationen werden ähnliche Impulse für einen grundlegenden Wandel
erwartet wie von technischen Entwicklungen, wissenschaftlichen
Entdeckungen oder neuen Weltanschauungen.
Vor dem Hintergrund der bislang skizzierten Begriffsdebatte lassen sich
zwei Kategorien formulieren, mit denen sich die
politisch-institutionellen Rahmenbedingungen einer nachhaltigen
Entwicklung beschreiben lassen: Zur ersten Kategorie zählen die bereits
bestehenden oder sich erst herausbildenden lokalen bis globalen
(äußerlich erkennbaren bzw. organisatorisch beschreibbaren)
Institutionen. Für diese Kategorie von Institutionen formuliert die
Agenda 21 explizit die Forderung nach einer institutionellen
Innovationen des politisch administrativen Systems (z.B.
Verwaltungseinheiten). Sie fordert eine Innovation, die die regulative
Idee der Nachhaltigkeit und die Verknüpfung der öko-
77 Neben dem schon im Abschnitt 2.3. genannten World Business Counc il
for Sustainable Development (WBCSD) soll hier die äNew York Declaration?
des äInternational Business Forum on Agenda 21? genannt werden, das am
16.-18. Juni 1998 in New York zusammentrat.
7 Operationalisierung der institutionell-politischen Dimension
156
logischen, ökonomischen und sozialen Dimension institutionell in ihre
Organisations- und (politische, soziale, technische)
Kommunikationsstruktur nach innen und außen integriert.
Diese Forderung reflektiert, daß die traditionelle Grenzziehung zwischen
der äoffiziellen? Politik und den mehr basisdemokratisch orientierten
Gruppen im Umwelt-, Friedens- und Nord-Süd-Bereich eine nachhaltige
Entwicklung behindert. Sie berücksichtigt, daß eine thematisch
fragmentierte, an bestimmten Problembereichen der Gesellschaft
interessierte (Teil)Öffentlichkeit (z.B. Umweltfragen,
Migrationsprobleme, Geschlechterverhältnisse, Nord-Süd- Problematik,
Abrüstung u.a.m.) und ihre institutionelle Widerspiegelung in den
fragmentierten Institutionen des politisch-administrativen Systems keine
Integration der verschiedenen Dimensionen von Nachhaltigkeit leisten
kann. Daß sich Bürger an Akten der staatlichen Kommunalverwaltung
beteiligen können (wie z.B. im Rahmen von Planfeststellungsverfahren
u.ä.), reicht für die Durchsetzung einer nachhaltigen Entwicklung nicht
aus. Notwendig ist, daß sich das politisch-administrative System selbst
als ein Akteur unter vielen im Rahmen polykontexturaler Verhältnisse
begreift. Gleichzeitig ist jedoch der Konflikt abzusehen, der sich mit
der Einlösung dieser Innovation für parlamentarisch-repräsentative
politische Systeme, basierend auf der über freie und geheime Wahlen
repräsentierten Volkssouveränität, ergibt.
Zur zweiten Kategorie gehören einerseits die internen Institutionen wie
Konventionen, Gewohnheiten, Sitten und ethische Normen sowie
selbstgeschaffene, formelle private Regeln/Verfahren oder Verabredungen
privater Akteure und andererseits die externen Institutionen der Regeln
des gesetzten Rechts (rechtliche Rahmenbedingungen/Verfahren). Während
Konventionen usw. durch imperative Selbstüberwachung oder informell,
durch andere durchgesetzt und selbstgeschaffene Regeln organisiert,
privat überwacht werden, sind die rechtlichen Regeln staatlich
sanktioniert.
Nachhaltige Entwicklung als Prozeß ist also damit konfrontiert, daß
institutionelle Bedingungen gefunden werden müssen, die für eine
nachhaltige Bewältigung von Konflikten bzw. für die Herstellung einer
nachhaltigen (symmetrischen) Kommunikations- und
Willensbildungssituation geeignet sind. Es müssen geeignete Normen und
Regeln sowie Standards des Verhaltens gefunden werden, die garantieren,
daß die unterschiedlichen (Lebens-)Perspektiven der Beteiligten und ihre
soziale Konstitution im Kommunikationsprozeß nachhaltig miteinander
koordiniert werden, daß stabile Erwartungen innerhalb wiederkehrender
Situationen geschaffen und Unsicherheiten vermindert werden können.
7.2 Zum Stand der Debatte 157
Wenn es stimmt, daß Institutionen zur Konstitution von
Gesellschaftlichkeit einen entscheidenden Beitrag leisten, soziales
Handeln strukturieren und steuern, entscheiden sie über inhaltliche
Handlungspotentiale und -restriktionen von Akteuren. Bei der Suche nach
geeigneten institutionellen Bedingungen, in denen die
unterschiedlichsten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Akteure
den Nachhaltigkeitsprozeß gestalten, geht es immer auch um die
Strukturierung und Steuerung der Suche nach gesellschaftlich
legitimierten Entscheidungen und Entwicklungszielen in einem
demokratischen sozialen Kommunikations- und Willensbildungsprozeß.
Hierbei geraten zwangsläufig die eigenständigen Semantiken der einzelnen
Diskurse in gegenseitige Spannungsverhältnisse. Es geht um die
Möglichkeit, eine soziale Kognition in einem verteilten, mit
hochspezialisierten Partikularsemantiken ausgestatteten sozialen System
zu erzeugen.
Eine wesentliche Frage für einen Prozeß zukunftsfähiger Entwicklung ist,
nach welchen Verfahrensregelungen kollektive Entscheidungen gefunden
werden, wie offen oder geschlossen der Kreis der an unterschiedlichen
Arten von Entscheidungen Beteiligten gestaltet wird und wie symmetrisch
bzw. hierarchisch die Relationen zwischen den Akteuren festgelegt
werden.
Wie können die einzelnen Akteure über ein kommunikatives Vorgehen die
Festlegung auf ihre Binnenrationalität überwinden und Anschlüsse zu
anderen gesellschaftlichen Teilsystemen herstellen, damit eine breite
diskursive Öffentlichkeit zum Thema Nachhaltigkeit entsteht? Welche
Funktion gewinnt Öffentlichkeit in einem grundsätzlich für Individuen
und kollektive Akteure offenen, symmetrischen gesellschaftlichen
Diskurs, der traditionelle Ausgrenzungen vermeidet?
Diese Probleme werden ganz besonders deutlich, wenn man die globale
Dimension berücksichtigt, die alle Strategien zukunftsfähiger
Entwicklung bestimmt. In diesem Zusammenhang spielt der Begriff äGlobal
Governance? in letzter Zeit eine wichtige Rolle. Er läßt sich als
äWeltordnungspolitik? in einem weiteren Sinne übersetzen und meint weder
die hierarchische Steuerung der Weltgesellschaft durch eine
Weltregierung, noch einfach die Summe der Aktivitäten von
Nationalstaaten. Weltordnungspolitik bezeichnet vielmehr das
Zusammenwirken von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren von der
lokalen bis zur globalen Ebene.
Zu klären wäre somit, wie die institutionell-politische Dimension der
Weltordnungspolitik, verstanden als Mehrebenenpolitik, unter den
Bedingungen von Globalisierung im Rahmen einer Politik, die
zukunftsfähige Entwicklung anstrebt, aussehen müßte. Die Ebenen dieser
Weltordnungspolitik umfassen den Nationalstaat und seine Substruktur,
die lokalen und regionalen Politikin-
7 Operationalisierung der institutionell-politischen Dimension
158
stitutionen, internationale Regime, Institutionen
großräumig-kontinentaler Integration (EU), internationale Organisationen
und die Struktur der äZivilgesellschaft? (gesellschaftliche Akteure),
die für sich nochmals die Ebenen abdecken können.
Im Zusammenhang mit der Frage nach einer zukunftsfähigen Entwicklung
scheint es notwendig zu sein, Regulierungsfelder von Weltordnungspolitik
zu definieren und die dort relevanten Institutionen zu identifizieren.
Als solche Regulierungsfelder lassen sich identifizieren: die
Welthandelsordnung, die internationale Wettbewerbsordnung, die
Weltwährungs- und Finanzordnung, die Weltsozialordnung und die
Weltumweltordnung, die sich einer der drei Dimensionen in unserem
HGF-Projekt zuordnen lassen. Dazu kommen die Weltfriedensordnung, die
einerseits Ausfluß einer gelungenen Weltordnungspolitik in den anderen
Ordnungsbereichen, andererseits aber ein spezifisches Politikfeld mit
eigenständigen Problemen ist, die zumindest unter Kontrolle gehalten
werden müssen, um zukunftsfähige Entwicklung zu erreichen. Schließlich
die Weltrechtsordnung, die ein übe r greifender Rahmen für die
Entwicklung aller Ordnungsbereiche sein kann.
In der von der Enquete-Kommission in Auftrag gegebenen Studie
äInstitutionelle Reformen für eine Politik der Nachhaltigkeit? wurden
die in Deutschland vorhandenen institutionellen Rahmenbedingungen
untersucht und ein sehr umfangreiches Konzept für institutionelle
Reformen erarbeitet. Ausgehend von einem polyzentrischen
Poltikverständnis und vier grundlegenden Problembereichen werden vier
institutionelle Basisstrategien entwickelt, aus denen wiederum insgesamt
70 Reformvorschläge abgeleitet werden. Aus dem Problembereich äFehlendes
Wissen zur Wahrnehmung von Problemlagen? wird die 1. Basisregel
äReflexivität? entwickelt. Aus dem Problembereich äFehlen von
handlungsfähigen Akteuren? die 2. Basisregel
äPartizipation/Selbstorganisation? abgeleitet, aus dem Problembereich
äFehlende oder falsche Anreizmuster? die 3. Basisregel äMacht- und
Konfliktausgleich?, und aus dem Problembereich äFehlen von realistischen
Alternativen? entsteht die 4. Basisregel äInnovation?.78
Die von uns formulierten Regeln zur institutionellen Nachhaltigkeit
knüpfen an diese Vorschläge an. Einige der Vorschläge werden ? mit zum
Teil kleinen, zum Teil größeren Abweichungen ? übernommen. Insbesondere
die Regeln Reflexivität, Machtausgleich und Selbstorganisation finden
sich in ähnlicher Formulierung in der IWÖ-IFOK-Studie. Andere Regeln,
wie Resonanzfähig-
78 Zur Ausdifferenzierung dieser vier Basisregeln s. Minsch et al. 1998.
7.3 Regeln für d ie institutionell-politische Dimension 159
keit, Steuerungsfähigkeit und Erwartungskonformität, sind unsere
Ergänzungsvorschläge.
Nach den vorangegangenen Ausführungen hoffen wir, daß es uns gelungen
ist, deutlich zu machen, daß die Frage nach den institutionellen
Innovationen nicht nur als Steuerungsfrage behandelt werden kann. Durch
unseren Ansatz, die Frage nach dem äWie? einer nachhaltigen Entwicklung
als eine Frage der Autonomie moderner Gesellschaften für ihre
Selbstveränderung zu verstehen, geraten Fragen der Wechselbeziehung
zwischen der Autonomie der gesellschaftlichen Individuen und der
Gesellschaft mit ins Blickfeld. Dieses Wechselverhältnis kommt auch in
unseren Regeln zum Ausdruck.
7 .3 Regeln für die institutionell-politische Dimension
Die im folgenden dargestellten Mindestanforderungen bauen auf der
Prämisse auf, daß Institutionen, die einen Beitrag zur zukunftsfähigen
Entwicklung leisten wollen, die für unser (europäisches)
Selbstverständnis zentrale Idee des freien, seinen Willen autonom
bestimmenden und seine Freiheit verwirklichenden Individuums
widerspiegeln müssen (vgl. Gimmler 1998). Sie werden somit mit dem
zweifellos hohen Anspruch konfrontiert, gesellschaftliche Steuerung zu
ermöglichen unter Berücksichtigung einer angemessenen Bewegungsform für
das unserem Weltbild zugrundeliegende Spannungsverhältnis zwischen
Individuum und Gesellschaft. Die folgenden Regeln sind auf einem hohen
äGranulationsgrad? formuliert, um die lokale, die regionale, die
nationale, die multinationale und die globale Ebene, in der
Institutionen zur Entfaltung kommen, einzuschließen. Die Formulierungen
bewegen sich somit oberhalb von Aussagen über die Verfaßtheit eines
politischen Systems oder internationaler Regime.
Regel 1: Resonanzfähigkeit
Institutionen müssen dazu beitragen, die Resonanzfähigkeit der
Gesellschaft gegenüber ökologischen, ökonomischen und sozialen
Problemlagen zu stärken.
Regel 2: Reflexivität
Institutionen müssen dazu beitragen, eine über die Grenzen partikularer
gesellschaftlicher Bereiche hinausgehende Reflexion gesellschaftlichen
Handelns insgesamt zu ermöglichen.
7 Operationalisierung der institutionell-politischen Dimension
160
Regel 3: Selbstorganisation
Steuerungsfähigkeit der Gesellschaft darf nicht zu Lasten der
Selbstorganisationspotentiale sozialer Systeme gehen.
Regel 4: Steuerungsfähigkeit
Institutionen müssen die Steuerungsfähigkeit der Gesellschaft in
Richtung einer zukunftsfähigen Entwicklung erhöhen.
Regel 5: Machtausgleich
Institutionen müssen dazu beitragen, die unterschiedlichen
Artikulations- und Einflußmöglichkeiten verschiedener Akteure bzw.
Akteursgruppen auszugleichen.
Regel 6: Erwartungskonformität
Das Verhalten von Institutionen muß für die Bürger erwartungskonform
sein, d.h. vor allem berechenbar, verbindlich, beständig. Dazu zählen
auch Versachlichungen der institutionellen Entscheidungsprozesse, die
die Bürger vor Willkür schützen und ein hohes Maß an Rechtssicherheit
gewährleisten.
7.4 Erläuterungen zu den Regeln
Regel 1: Resonanzfähigkeit
Resonanzfähigkeit beschreibt die Eigenschaft sozialer Systeme,
Veränderungen in ihrer natürlichen oder gesellschaftlichen Umwelt
wahrzunehmen und auf sie zu reagieren. Wie sie reagieren, hängt von
verschiedenen systeminternen Bedingungen ab. Entscheidend ist, inwieweit
die von der Umwelt ausgehenden Störungssignale, Perturbationen
(Maturana) oder Irritationen (Luhmann) von der Gesellschaft bzw. von den
gesellschaftlichen Teilsystemen wahrgenommen und zum Gegenstand interner
Überlegungen gemacht werden. So wie ? physikalisch gesehen ? ein System
nur unter den besonderen Bedingungen seiner Eigenfrequenzen in
Schwingung versetzt werden kann, so reagiert ein soziales Systeme nur
auf der Grundlage seiner eigenen Strukturbedingungen (vgl. Luhmann
1998). Resonanzfähigkeit ist sowohl ein gesellschaftliches Informations-
und Kommunikationsproblem als auch eines der
institutionell-organisatorischen Formen, in denen darüber entschieden
wird, ob Störungen als relevante Informationen behandelt werden sollen
oder nicht. Es geht um die Fragen: Auf welche Ereignisse in der Umwelt
sol l sich ein soziales Sy-
7.4 Erläuterungen zu den Regeln 161
stem einstellen? Welche Ereignisse sollen als (relevante) Informationen
behandelt werden und welche nicht? Auf welche soll es reagieren, auf
welche nicht? Für welche soll es Vorsorge treffen, für welche nicht?
Im allgemeinen kann man davon sprechen, daß die moderne Gesellschaft
ihre Resonanzfähigkeit innerhalb der letzten Jahrhunderte stark erhöht
hat. Der Grund hierfür ist in der Herausbildung von spezialisierten
Systemen zu suchen, die sich für bestimmte Teilbereiche der Gesellschaft
zuständig fühlen (vgl. Luhmann 1986). Gesellschaften, die eine solche
Spezialisierung nicht zulassen bzw. sie in ein
zentralistisch-bürokratisches Entscheidungskorsett zwängen, schränken
ihre Resonanzfähigkeit ein. Allerdings führt die Tatsache der
Ausdifferenzierung in Spezialbereiche dazu, daß sich die jeweiligen
Teilsysteme vor allem und sehr häufig ausschließlich für ihr Thema
zuständig fühlen und andere Aspekte ausblenden. Dies stellt sich vor
allem in bezug auf eine integrative Betrachtung des
Nachhaltigkeitsansatzes als Problem dar.
Als Beispiel ist die Wirtschaft als gesellschaftlicher Teilbereich zu
nennen. Hier hat sich die Differenzierung in miteinander konkurrierende
organisatorische Sozialsysteme als ? im Gegensatz zu bürokratischen
Modellen ? ausgesprochen resonanzerzeugend herausgestellt. Die
Lebensfähigkeit von Unternehmen basiert auf einer ständig mitlaufenden
Beobachtung ihrer Umwelt, auf die sie möglichst schnell reagieren
müssen, um keine Konkurrenznachteile zu erleiden. Allerdings haben sie
sich auf die Beobachtung ökonomisch relevanter Umweltinformationen
spezialisiert. Soz iale oder ökologische Störungen werden vor allem dann
wahrgenommen, wenn sie eine potentielle Bedeutung für den Arbeitsmarkt
oder das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der wirtschaftlichen
Ordnung haben könnten. Ökologische Fragen sind jahrhundertelang nur im
Zusammenhang mit Fragen potentieller Exploitationen behandelt worden.
Heute müssen Wirtschaftsunternehmen ihre Resonanzfähigkeit erweitern und
stärker als bisher soziale und ökologische Fragen zum Gegenstand ihrer
Umweltbeobachtungen machen (vgl. Schmidheiny 1992; Fussler 1999). Daß
eine solche Umorientierung tatsächlich geschieht, zeigt sich an einigen
methodischen Anstrengungen innerhalb des Wirtschaftssystems, derartige
mitlaufende Beobachtungen in ähnlicher Weise zu institutionalisieren,
wie die Beobachtung der langfristigen W irtschaftserwartungen einzelner
Unternehmen. So hat Dow Jones im September 1999 den ersten
Unternehmensindex eingeführt, der sich auf die äCorporate Sustainability
Performance? (im dreidimensionalen Sinne) von Unternehmen bezieht (Dow
Jones 1999, siehe http://www.sustainability-index.com/).
7 Operationalisierung der institutionell-politischen Dimension
162
Dieses Beispiel zeigt, wie innerhalb eines gesellschaftlichen
Teilbereichs Resonanz in bezug auf Fragen zukunftsfähiger Entwicklung
erhöht oder besser erweitert werden kann.79
Damit ist allerdings das Problem der gesamtgesellschaftlichen Resonanz
noch nicht gelöst. Wie Gesellschaften insgesamt auf ökologische,
ökonomische oder soziale Probleme und Gefährdungen reagieren und sich
rechtzeitig korrigierend verhalten können, ist bislang nicht
zufriedenstellend beantwortet. Prinzipiell kann eine Gesellschaft über
zuwenig Resonanz oder zuviel Resonanz verfügen. In beiden Fällen kommt
es zu Desinformation. Zuwenig Resonanz bedeutet das Fehlen von Wissen
über bestimmte lokale Ereignisse (z.B. Meteoritenstürme im Weltall,
Waldbrände in Australien, rassistische Übergriffe in Neustadt,
Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien). Ein Zuviel an Resonanz tritt
dann auf, wenn diese Ereignisse zwar prinzipiell bekannt sind (z.B. die
Menschenrechtsverletzungen bei der Dorfgemeinschaft am Rio Choco, die
sich rasch ausbreitenden Waldbrände bei einem Schafhirten in Desert
Castle), aber für relevante Akteure nicht verfügbar sind. Alle diese
Ereignisse sind prinzipiell für jeden Erdenbürger über Internet oder
andere Quellen verfügbar, aber woher weiß man, welche Ereignisse so
wichtig sind, daß die (Welt)Gesellschaft sofort (und mit welchen
Mitteln) darauf reagieren sollte? Das Überangebot von Informationen bzw.
sein Selektionsproblem führt letztendlich zur Desinformation. Daten sind
zwar als Information vorhanden, nicht aber als Wissen.
Im Normalfall reagieren soziale Systeme auf Ereignisse in ihrer Umwelt
stark selektiv. Alle gesellschaftlichen Teilbereiche führen eigene
Unterscheidungen ein, nach denen sie Umweltereignisse als relevant oder
weniger relevant bewerten, m.a.W. einem Ereignis Informationswert
beimessen oder es als bloßes Rauschen vorbeiziehen lassen. Daß es solche
selektiven Kriterien gibt, ist einerseits die Voraussetzung dafür, daß
überhaupt ein Ereignis in der Umwelt zur Kenntnis genommen werden kann
und mit Bezug auf etwas interpretiert werden kann. Andererseits wird
aber dadurch vieles ausgeblendet. Damit Resonanzerhöhung mit einer für
die gesamte Gesellschaft verbundenen Konsequenz stattfindet, müssen
institutionelle Konfigurationen geschaffen werden, die nicht nur die
partikularen Resonanzen erhöhen, sondern auch dazu beitra-
79 Luhmann führt als ein weiteres Beispiel für den selektiven Umgang
sozialer Systeme mit ihrer Umwelt die Landwirtschaft an. Mit ihr
entsteht eine langfristig gesicherte Grundversorgung der Menschen (also
ein Aspekt sozialer Nachhaltigkeit) zunächst mit der Verdrängung (wenn
nicht ga r Vernichtung) all dessen, was vorher da war. Veränderungen in
der natürlichen Umwelt werden hierbei nur unter dem Aspekt des
landwirtschaftlichen Nutzens wahrgenommen; vgl. zur Resonanzfähigkeit
moderner Gesellschaften v.a. Luhmann 1988 .
7.4 Erläuterungen zu den Regeln 163
gen, die gesellschaftsinternen Grenzen selektiver
Informationsverarbeitung zu überschreiten. Diese Anforderung wird in der
gegenwärtigen soziologischen Debatte mit dem Begriff der Reflexivität
umschrieben.
Regel 2: Reflexivität
Reflexivität ist eine Zentralkategorie in der gegenwärtigen Debatte um
das äWie? einer zukunftsfähigen Entwicklung,80 deren historische Wurzeln
in der europäischen Auklärungsphilsophie liegen und die in der
gegenwärtigen soziologischen Debatte um die Perspektiven der modernen
Gesellschaft unter dem Begriff der äreflexiven Moderne? eine populäre
Rolle spielt (vgl. Beck/Giddens/Lash 1996).81 Wenn die Moderne äihre
eigenen Exzesse und den Teufelskreis der destruktiven Unterwerfung (der
inneren, äußeren und gesellschaftlichen Natur)? selbst zum Gegenstand
der Reflexion macht, äwäre dies weit mehr als der verspätete Sieg des
'freien Willens' über die Kräfte des 'Schicksals' oder des
'Determinismus'. Sie wäre eine dem Modernisierungsprozeß inhärente
Entwicklung. Sie wäre zu einem bestimmten Punkt eine Bedingung für den
Fortgang der Modernisierung? (Lash 1996, S. 199).
80 Auch in den Verhandlungen der Enquete-Kommi ssion des 13. Deutschen
Bundestages hat der Begriff eine große Rolle gesp iel t, ohne jedoch die
von uns vorgenommene D ifferenzierung von Resonanz und Re flexivität.
äUnter dem Begr iff 'Ref lexivitä t' versteht man die Wahrnehmung,
Erfassung und Artikulation von Problemlagen sowie die Fähigkeiten des
wissenden bzw. adäquaten Handelns im Rahmen sich verändernder
Bedingungen? (Enquete-Kommission 1998, S. 385). Die Begriffsverwendung
in der IWÖ-IFOK-Studie ist nä- her zu der unseren. Auch hier wird
explizit auf die äzunehmende funktionale Ausdifferenzierung moderner
Gesellscha ft? als das Grundproblem, aus dem sich die Forderung nach
reflexivitä tssteigernden Institutionen ableiten läßt, verwiesen (vgl.
Minsch et al. 1998, S. 143ff.).
81 Bei Beck, Giddens und Lash wird der Begriff Reflexivität
uneinheitlich verwendet. Bei Lash und Giddens im Sinne von reflexiv, aus
der Reflexion, d.h. des Wissens übe r unser Tun und des geschichtlichen
Prozesses, ganz im Sinne der Aufklärung. Beck dagegen denkt gerade an
die nicht-bewußte Seite des Prozesses und den daraus resultierenden
Nebenfolgen. Bei ihm beinhaltet Reflexivität nicht nur Reflexion,
sondern auch äReflex?, also naturwüchsiges Zurückwirken auf etwas (vgl.
Beck/Giddens/Lash 1996, S. 289), meint also äunreflektierte
Modernisierung?. Bei Luhmann ist der Reflexivitätsbegriff dem Begriff
der Selbstreferenz untergeordnet. Er ist eine höhere Stufe der (basalen)
Selbstreferenz. Selbstreferenz wird als Fähigkeit verstanden, eine
Beziehung zu sich selbst herzustellen und diese Beziehung zu
differenzieren gegenüber der Beziehung zur Umwelt. Systeme sind auf
diese Weise nicht nur dem Prozeß, in dem ihre Selbstbehauptung (Maturana
spricht bekanntlich von äAuto-poiesis?) statt findet, ausgesetzt,
sondern können die sen Prozeß selbst zum Gegenstand eigener Beobachtung
machen und damit eine Art Systembewußtsein und Systemrationalität für
sich selbst herausbilden.
7 Operationalisierung der institutionell-politischen Dimension
164
Wir verstehen unter Reflexivität die Beachtung der Folgen der Handlungen
eines gesellschaftlichen Teilsystems, einer Organisation oder einer
Person auf andere gesellschaftliche Bereiche, Organisationen oder
Personen.82 Reflexivität impliziert die Antizipation dieser Folgen
bereits vor der Durchführung der Handlungen. Dabei geht es nicht nur um
die Grenzen zu anderen Akteuren oder soz ialen Systemen, sondern auch um
die thematischen Grenzen. D.h. Institutionen müssen einen Beitrag
leisten, um die Anschlußfähigkeit partikularer ? meistens
dimensionsspezifisch geführter ? Diskurse zu erleichtern, um auf diese
Weise zu einer integrativen Beachtung der verschiedenen
Nachhaltigkeitsdimensionen beizutragen, bevor folgenreiche
Entscheidungen über ökologisch oder sozial relevante Maßnahmen getroffen
werden. Dazu sind geeignete Informationskapazitäten aufzubauen, zu
vernetzen, gegenseitige Abstimmungsprozesse zu institutionalisieren. So
kann durch die Anerkennung des Ziels einer Integration von Umweltzielen
in ökonomisches und soziales Handeln der bisherige Dauerkonflikt
zwischen kostenverursachenden Umweltauflagen und ökonomischem Kalkül
tendenziell überwunden werden.
Erforderlich ist die Einrichtung eines gesellschaftsweiten Informations-
und Kommunikationsraums, in dem es möglich ist, die in den vielfältigen
gesellschaftlichen Teilsystemen zweifellos erzeugte hohe Sensibilität
gesamtgesellschaftlich zu transformieren. Minsch u.a. schlagen in ihrem
Gutachten für die Enquete-Kommission die Schaffung von
nachhaltigkeitsorientierten Systemen der Berichterstattung, eine Reihe
von Expertengremien, verbesserte Informationsstrukturierung und eine
stärkere Konzentration von Wissenschaft und Forschung auf die mit einer
zukunftsfähigen Entwicklung verbundenen Probleme vor (vgl. Minsch et al.
1996). Diesen Vorschlägen schließen wir uns zum Teil an, glauben
allerdings, daß es sehr wichtig sein wird, die institutionellen
Innovationen zur Erhöhung der gesellschaftlichen Reflexivität in die
jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme zu integrieren und diese dann
eher netzwerkartig zu verbinden anstatt zusätzliche, über den
gesellschaftlichen Funktionssyste-
82 Hierbei handelt es sich um das soziologisch bekannte Problem der
eingeschränkten Rationalität, d.h. der Einschränkung rationalen Handelns
auf Entscheidungskriterien, die der Logik eines bestimmten
ausdifferenzierten Systems folgen. Sie bewirkt e ine Externalisierung
von Folgekosten, die nicht mehr vom eigenen Sys tem als P roblem
bearbeitet werden, sondern an andere Systeme (Systemumwelt)
weitergereicht werden. Letztendlich handelt es sich um ein Folgeproblem
sozialer Systembildung.
7.4 Erläuterungen zu den Regeln 165
men schwebende bürokratische Institutionen zu schaffen.83 Letztendlich
müssen die gesellschaftlichen Teilsysteme in die Lage versetzt werden,
ihre eigene Reflexivität in bezug auf die Wechselwirkungen mit anderen
zu erhöhen.
Regel 3: Selbstorganisation
Ausgehend von der im allgemeinen anerkannten Einschätzung, daß es in der
heutigen Gesellschaft keine zentralen Institution geben kann, denen ein
Privileg zugebilligt werden könnte, über bessere, wahrheitsgetreuere,
ausführlichere oder genauere Beschreibungen der Gesellschaft als Ganzes
zu verfügen (oder auch nur eines Teils der Gesellschaft), müssen
Strukturen zur Zielerreichung einer zukunftsfähigen Gesellschaft
entwickelt werden, die vor allem auf dem Prinzip der Selbstorganisation
beruhen. Innerhalb von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und anderen
gesellschaftlichen Bereichen müssen Strategien auf den eigenen
Relevanzkriterien aufbauen können, nicht etwa ävon oben verordnet?
werden. D.h., neben den etablierten Institutionen des
politisch-administrativen Systems müssen sich Formen entwickeln, in
denen vernetzte Strukturen gegenseitiger Konsultationen und
partizipativer Entscheidungsformen zur Geltung kommen sowie informelle
Regeln, Selbstverpflichtungen etc. eine immer grö- ßere Bedeutung
erhalten. Diese Formen werden heute im allgemeinen mit dem Begriff der
Zivilgesellschaft bezeichnet. In theoretischer Hinsicht wird dabei der
Begriff der Selbstorganisation sozialer Systeme vorausgesetzt.
Selbstorganisation hat sich in den letzen Jahren zu einem Paradigma
entwickelt, daß sowohl in den Natur- als auch in den Sozial- und
Geistenswissenschaften große Resonanz gefunden hat. In den
Naturwissenschaften bezeichnet der Begriff das spontane Entstehen von
Ordnungsstrukturen in Systemen, die gegenüber ihrer Umwelt autonom
sind.84 Ansätze, die dem Paradigma der
83 Die meisten Institutionen können nur innerha lb eines bestimmten
gesellschaftlichen Teilbereichs als Garanten einer bestimmten
Wertorientierung gelten und wegen ihrer fragmentierten
Rationalitätskriterien keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben
(vgl. Weinert 1997, S. 86). Wenn man hinter diese auf ein
polyzentrisches Politikverständnis basierende Einsicht nicht
zurückfallen will, bedarf es verteilter, nertzwerkartig strukturierter
Kooperationen. 84 Allerdings sind hier wichtige Unterschiede zwischen
lebenden und sozialen Systemen hervorzuheben: soziale Systeme sind keine
Gebilde mit hautanalogen Grenzen (wie es etwa Maturana für die Einheit
der Nervenzelle beschreibt), es sind keine sozialen Körper, in die man
sich hinein und aus denen man sich hinausbegeben kann (vgl. Fuchs 1992,
S. 228). Jede Identität ist eine Abgrenzung gegen die Umwelt. Diese
Abgrenzung kann sich im System wiederholen, was zu einer innerern
Systemdi fferenzierung führt. Das Gesamtsystem (was immer das im
konkreten Fall sein mag, wie z.B. ein Wirtschaftsunte rnehmen) ist dann
für die verschiedenen Teilsysteme die interne Systemumwelt.
7 Operationalisierung der institutionell-politischen Dimension
166
Selbstorganisation folgen, sind in verschiedenen Disziplinen und auf der
Basis unterschiedlicher wissenschaftstheoretischer Traditionen
entstanden. Zu nennen sind insbesondere die in den 60er und 70er Jahren
entstandenen Arbeiten von Heinz von Foerster (äSecond Order
Cybernetic?), Ilya Prigogine (äTheorie dissipativer Strukturen?) Hermann
Haken (äSynergetik?), Edward Lorenz (äDeterministisches Chaos?), Manfred
Eigen (äAutokatalytische Hyperzyklen?), Benoit Mandelbrot (äFraktale
Strukturen?), Humberto Maturana & Francisco Varela (äAutopoietische
Systeme?) und Ernst von Glasersfeld (äRadikaler Konstruktivismus?). Den
verschiedenen Ansätzen gemeinsam sind die folgenden Positionen:
? Die Natur wird nicht mehr in Form kristallisierter Objekte
beschrieben, sondern als systemischer Zusammenhang sich in ständiger
Wechselwirkung miteinander befindlicher Elemente. Die Materie existiert
nicht in festen Strukturen, sondern als Gesamtheit von
Bewegungsprozessen (Bewegungsprinzip). ? Die Wechselwirkungsvorgänge
erschöpfen sich nicht in stationären, lokalen Austauschprozessen,
sondern führen zu irreversiblen Veränderungen und zur Entstehung von
qualitativ neuen Strukturen und Formen (Evolutionsprinzip). ? Die
Wechselwirkungsprozesse werden nicht mehr vorrangig als Kausalketten
betrachtet, sondern als vernetzte Strukturen (Vernetzungsgedanke), ?
deren Zustandstransformationen nicht linear verlaufen (Prinzip der
Nicht- Linearität).85
? Ordnung entsteht nicht durch äußere Steuerungsorgane sondern primär
durch interne Mechanismen. Die Richtung ordnungs- und strukturbildender
Prozesse wird auf der Basis der innerhalb eines Systems vorhandenen
Strukturen entschieden (innerer Strukturdeterminismus).
? Äußere Kontrollparameter bewirken lediglich äallgemeine
Anregungsbedingungen? (Haken) für die internen Prozesse, haben aber
keine determinierende Wirkung. ? Im Gegensatz zur klassischen
Kybernetik, wo davon ausgegangen wird, daß Steuerungsprozesse jedes
einzelne Element eines Systems direkt ansteuern werden können und
dadurch ein gewünschter Gesamteffekt erzielt werden kann, beschränkt
sich der Selbststeuerungsansatz darauf, ädurch Änderung
85 äÄhnlich wie beim deterministischen Chaos führen minimale
Veränderungen in den Anfangsbedingungen eines Prozesses zu
nicht-linearen Entwicklungen, die sich der Vorhersagbarkeit entziehen?
(Stadler/Kruse 1992, S. 148). Beispiele für nicht-lineare
Transformationen finden sich bei Stadler/Kruse 1992; Küppers/Krohn 1992;
an der Heiden 1992.
7.4 Erläuterungen zu den Regeln 167
eines oder mehrere Parameter (...) das System zu einer
Selbststrukturierung zu veranlassen? (Haken 1992, S. 79).
Die theoretische Brisanz der äSelbstorganisation? liegt nicht etwa
darin, daß Systemen die Fähigkeit zuerkannt wird, über schon vorhandene
Anfangs- oder Randbedingungen hinaus zusätzlich eigene Strukturen zu
bilden, sondern darin, daß sie ihren Ordnungsgehalt ausschließlich durch
sich selbst konstruieren. D.h. Systeme bilden ihre eigenen Strukturen
nur durch eigene Operationen. Maturana/Varela bezeichnen solche Systeme
als operativ geschlossen und strukturdeterminiert. Paradigmatische
Prinzipien des Selbstorganisationsansatzes finden sich auf
gesellschaftswissenschaftlicher Ebene u.a. im Begriff der
Zivilgesellschaft wieder.86 Praktische Realisierungen, in denen diese
neuen Erkenntnisse über das Verhalten komplexer Systeme in
zivilgesellschaftliche Ansätze eingeflossen sind, lassen sich in den
vielfältigen Aktivitäten zur Lokalen Agenda 21 beobachten (vgl.
Dippoldsmann 1999; Poppenborg 1999). Aus einer Vielzahl von Akteuren,
Organisationen, Institutionen und diskutierenden Zirkeln mit
partikularen Weltbezügen, Identitäten und Interessen wird versucht, über
das gemeinsame Bezugssystem äSustainable Development? unterschiedliche
Handlungsstrategien aufeinander abzustimmen, Erfahrungen auszutauschen,
Wissen bereitzustellen, viele einzelne Maßnahmen und Aktionen
durchzuführen und am Leitbild zu reflektieren. Um dies zu gewährleisten,
muß ein öffentlicher Kommunikationsraum aufgebaut werden, der
Bürgerpartizipation nicht auf bloßes Informiertsein reduziert, sondern
ein aktives Engagement der Bürger zuläßt und fördert. Es ist davon
auszugehen, daß in den entsprechenden Planungsprozessen divergente
gesellschaftliche Interessen berührt, unterschiedliche Positionen
eingebracht und zum Teil kontroverse Strategien verfolgt werden. Eine
der zukunftsfähigen Entwicklung förderliche institutionelle
Konfiguration muß dieser Vielfalt Rechnung tragen. Erstens kann
hierdurch die Qualität der Problemlösungen erhöht werden. Zweitens
handelt es sich um ein Gebot pluralistischer und demokratischer
Planungsverfahren.
Regel 4: Steuerungsfähigkeit
Das Grundproblem der Steuerung besteht in dem W iderspruch, daß
einerseits aufgrund der vorhandenen Problemlage der Steuerungsbedarf
erheblich zugenommen hat, andererseits aber das Vertrauen in die
Wirksamkeit traditioneller
86 Ein weiteres Feld, in dem mit dem Begriff äußerst erfolgreich
gearbeitet wird, ist die Organisa tions- und Managementforschung (vgl.
Paetau 1999).
7 Operationalisierung der institutionell-politischen Dimension
168
Steuerungsinstrumente stark zurückgegangen ist.87 Daß die
Steuerungsfähigkeit sozialer Systeme in den letzten Jahren mehr und mehr
zum Problem geworden ist, liegt an ihrer Komplexität und Dynamik. Kein
steuerndes System ist in der Lage, eine solche Eigenkomplexität in die
eigenen Methoden und Instrumente einzubauen, daß sie der Komplexität der
Systemumwelt gerecht werden könnten. Auch die Entwicklungsdynamik
komplexer sozialer Systeme ist nur sehr schwer abzuschätzen.
Der theoretische Reflex dieser Entwicklung zeigt sich in einem
Paradigmenwechsel derjenigen Forschungsrichtungen, die sich mit
Steuerungsfragen von Systemen befassen, insbesondere der Kybernetik,
aber auch ? im Hinblick auf soziale Systeme ? die soziologische
Systemtheorie. Während die Systemtheorie Luhmanns eine eher
steuerungsskeptische Haltung nährt,88 entwikkeln andere Vertreter ? wie
beispielsweise Willke ? explizite Steuerungsmodelle auf
systemtheoretischer Basis. Insbesondere aber im Umfeld der
Soziokybernetik sind in den letzten Jahren wichtige Arbeiten entstanden
(vgl. Degele 1998, Geyer 1986, 1991).89 Entscheidende Impulse sind dabei
von der Kybernetik zweiter Ordnung ausgegangen (v. Foerster 1984, 1993).
Von Foerster unterscheidet das Steuerverhalten von trivialen und
nicht-trivialen Maschinen. Triviale Maschinen sind durch eine
Spezifikation der einzelnen Systemelemente und ihrer wechselseitigen
Interaktionen entstanden und reagieren dementsprechend auf
Steuerversuche. Auf einen eindeutigen Input produzieren sie einen
vorhersehbaren Output (z.B. die Lenkbewegung bei einem Auto).
Nichttriviale Maschinen dagegen sind durch spontane
Strukturentwicklungen entstanden und reagieren nicht im Sinne einer
eindeutigen Input-Output- Beziehung. Ihr Verhalten ist
strukturdeterminiert. Sie ändern ihr Verhalten al-
87 Die Debatte um die Steuerung umfaßt zwei Schwerpunkte: erstens die
Frage, inwieweit Steuerung für die Aufrechterhaltung der
gesellschaftlichen Ordnung no twendig ist, und zweiten s inwieweit
gesellschaftliche Steuerung überhaupt möglich ist. In diesem Abschnitt
konzentrieren wir uns vor allem auf die Frage nach der
Steuerungsmöglichkeit. Auf die Frage nach der Steuerungsnotwend igkeit
wird ? ohne es erschöpfend behandeln zu wollen ? i m Zusammenhang mi t
der Regel äMachtausgle ich? noch näher eingegangen. 88 Messner spricht
gar vom äsystemtheoretischen Generalangriff auf die Idee der
Steuerungsfähigkeit von Gesellscha ften? (vgl. Messner 1995). Wenngleich
die Systemtheorie Niklas Luhmanns den Glaubens an eine gesellschaftliche
Steuerung stark erschüttert hat, scheint gerade sie für die Nachha
ltigkeitsdebatte von größter W ichtigkeit. Denn ohne die Beantwortung
der von der Sys temtheorie aufgeworfenen Fragen ist nicht einsehbar, wie
eine realistische Ge staltung von Institutionen erfolgen könnte, die
einerseits erfolgreich den Weg in eine nachhaltige Entwicklung eröffnet,
ohne jedoch zentralistische (und letz tendlich der Gefahr totalitären
Mechanismen ausgesetzten) Strukturen zu schaffen.
89 Seit dem 14. Weltkongreß der Soziologie in Montreal existiert ein
Research Commitee über äSociocybernetics? (vgl.
http://www.ucm.es/info/isa/rc51 .htm).
7.4 Erläuterungen zu den Regeln 169
lein durch interne Zustandsveränderungen. Steuerungsversuche sind
dementsprechend darauf angewiesen, durch geeignete Maßnahmen solche
internen Zustandsveränderungen herbeizuführen und dadurch das System zu
einem Verhalten in die gewünschte Richtung zu veranlassen. Das aber ist
prinzipiell nicht ävorhersehbar? (v. Foerster 1993, S. 244ff.).90
Der durch die Second-Order-Cybernetics hervorgerufene Paradigmenwechsel
hat in den letzten Jahren zu einer Intensivierung der soziologischen
Forschung über das Problem der Steuerung sozialer Systeme ? als
Sonderfall der Steuerung komplexer dynamischer Systeme ? geführt.91 Im
Gegensatz zu den Arbeiten der 50er und 60er Jahre, die dem Paradigma des
Gleichgewichts und der Systemerhaltung verpflichtet waren, setzen sich
diese Forschungen mit den Phänomenen nichtlinearer Prozesse auseinander
(vgl. Degele 1997). Von zentraler Bedeutung ist dabei die aus der
Allgemeinen Systemtheorie (vgl. Bertalanffy 1968) und der Kybernetik
zweiter Ordnung (von Foerster) angeregte Sichtweise, Steuerung nicht
mehr als ein Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen oder des
Übergeordneten zu dem Untergeordneten zu verstehen, sondern als ein
Verhältnis von System und Umwelt. Mit der theoretischen Umstellung von
der Teile/Ganzes-Differenz auf die System/Umwelt-Differenz werden damit
die üblichen Über- und Unterordnungs-Beschreibungen überwunden.92 Mit
diesem theoretischen Umbau äbesteht ein differenz iertes System nicht
mehr einfach aus einer gewissen Zahl von Teilen und Beziehungen zwischen
Teilen; es besteht vielmehr aus einer mehr oder weniger großen Zahl von
operativ verwendbaren System/Umwelt-Differenzen, die jeweils an
verschiedenen Schnittlinien das Gesamtsystem als Einheit von Teilsystem
und Umwelt rekonstruieren? (Luhmann 1984, S. 22).
90 Im Gegensa tz zu tr ivia len Maschinen, die er als 1. syn thet isch
determiniert, 2. ana lytisch determinierbar, 3 . vergangenhe
itsunabhängig und 4. im Verhal ten vo rhersehbar ansieht, sind
nicht-triviale Maschinen 1. s ynthetisch determiniert, 2. analytisch
unbestimmbar, 3. vergangenheitsabhängig und 4 . in ihrem Verhalten
unvorhersehbar (v. Foerster 1993, S. 245ff.).
91 Die Übertragung des allgemeinen Mode lls eines nicht-trivialen
Systems auf p sychische und soziale Systeme führt ? schematisch
vereinfacht ? zur Unterscheidung folgender Faktoren: äDas Innere des
Systems, seine Identität, wird gebildet aus je spezifischen kognitiven,
semantischen und sozialen Strukturen, welche in ihrem Zusammenspiel
bestimmen, welche Kommunika tionen und Handlungen und welche Erwartungen
und Entsche idungen einerseits als relevant betrachtet und andererseits
gewählt werden? (Willke 1994, S. 34). 92 Die Tradition (angefangen bei
Aristoteles) war von einer Differenzierung zwischen dem Ganzen und
seiner Teile ausgegangen. Freiheit (d.h. Handlungen auf der Basis von
Einsichten über das Zusammenleben der Menschen) war nur möglich über die
E rkenntnis des Ganzen.
7 Operationalisierung der institutionell-politischen Dimension
170
Durch diesen Paradigmenwechsel hat sich die Systemtheorie zu einer
System-Umwelt-Theorie entwickelt (vgl. Willke 1998, S. 22). Nach Willke
ist Steuerung unabdingbar, weil gerade komplexe Sozialsysteme weder
ihrer Eigendynamik überlassen noch von außen kontrolliert werden können.
äIhre Eigendynamik treibt sie zwar zur maximalen Nutzung ihrer intern
angelegten Möglichkeiten, aber ohne Rücksicht auf die widrigen Folgen
(?negative Externalitäten`) für ihre Umwelt. Externe Kontrolle dagegen
schnürt den Möglichkeitsraum eines Systems auf denjenigen einer
Trivialmaschine ein und beraubt es so seiner kreativen und innovativen
Züge. Die komplementären Mängel von selbst-zerstörerischer Eigendynamik
und unmöglicher Kontrolle bezeichnen ziemlich genau das Dilemma, das mit
Hilfe eines brauchbaren Konzepts von Steuerung zu lösen wäre? (Willke
1998, S. 6). Das eigentliche Steuerungsproblem sieht er in der
äKoordination der Relationen zwischen eigensinnigen, zugleich
autonomen93 und interdependenten Akteuren und Funktionssystemen? (ebd.,
S. 22). Es geht um die ägeordnete Verschränkung von operativer
Geschlossenheit und externer Beeinflussung? (Willke 1998, S. 4). Die
Möglichkeiten der Steuerung komplexer Systeme sind deshalb ? so Willke ?
zwar vorhanden, aber scharf begrenzt äauf die beiden Formen der
(internen) Selbststeuerung und der (externen) Kontextsteuerung?94 Im
Grunde handelt es sich dabei um äzwei Seiten der gleichen Münze, denn
Kontextsteuerung soll die Selbststeuerungskräfte eines Systems
mobilisieren. Sie kann gelingen, wenn sie den spezifischen Code der
Teilbereiche anspricht? (Degele 1998, S. 87). Steuerung ist immer
Einmischung in eigene Angelegenheiten (vgl. Willke 1998, S. VII).
Regel 5: Machtausgleich
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß sowohl die instrumentelle
(steuernde) als auch die symbolische (integrierende) Funktion von
Institutionen mit Macht verbunden ist (transitive und nicht-transitive
Macht). Minsch et al. haben darauf hingewiesen, daß die unterschiedliche
Machtverteilung zu einer
93 Systeme setzen sich selbst als autonom, indem sie professionalisierte
Rollen, spezialisierte Organisationen und eigenständige
Kummunikationsmedien und Spezialsemantiken herausbilden (vgl. Willke
1998, S. 23). 94 E r favorisiert die Selb ststeuerung. Im übrigen emp
fi ehlt er gegenüber jedem Steuerungsanspruch die äTugend der Renitenz?:
äWiderspruch und Widerstand geben Zeit und Anlaß für die Prüfung der
Frage, ob der Steuerungsanspruch legitim in dem Sinne ist, daß er die
Autonomie und die Selbstbestimmung des zu steuernden Systems
respektiert? (Willke 1998. S. 329).
7.4 Erläuterungen zu den Regeln 171
Barriere nachhaltiger Entwicklung führen kann. Sie fordern deshalb
Ausgleichs- und Konfliktregelungsstrategien, die erstens die
Artikulationsmöglichkeiten von Akteuren und deren Teilhabe an
Entscheidungen sicherstellen sollen. Auf diese Weise soll garantiert
werden, daß vielfältige Nachhaltigkeitsimpulse im politischen Diskurs
wirkungsvoll eingebracht werden können (vgl. Minsch et al., S.
261ff.).95
Die Frage des Machtausgleichs ist nicht nur unter dem instrumentellen
Anspruch zu sehen, möglichst viele Bürger in die Politik nachhaltiger
Entwicklung einzubeziehen, um ihr Handlungspotential nutzbar zu machen.
Allein aus der bereits oben skizzierten Janusköpfigkeit
gesellschaftlicher Institutionen, die den Individuen einen zwiespältigen
Platz zuweist, ist die Frage des Machtausgleichs ein wichtiges Thema
zukunftsfähiger Entwicklung. Der Anspruch auf Steuerung ist ja zunächst
nichts weiter als der Versuch eines Systems, eines Akteurs oder einer
Gruppe von Akteuren, die Geltung der eigen (spez iellen) Sichtweise der
Dinge auch für andere verbindlich zu machen. Adornos Kritik an Parsons`
Integrationsansatz sowie seine Warnung vor gesellschaftlichen
Leitbildern (vgl. Adorno 1967) im Ohr muß deshalb dafür Sorge getragen
werden, daß Steuernden und Gesteuerten nicht per se ein ungleicher
Geltungsanspruch auf Wahrheit unterstellt und wowöglich noch
institutionell abgesichert wird.
Utilitaristisch argumentierende Autoren trauen ? insbesondere
staatlichen ? Institutionen in dieser Hinsicht ohnehin nicht ? oder nur
in Ausnahmefällen ? zu, ihre Steuerungs- oder Integrationsaktivitäten am
aggregierten Nutzen des gesamten Gemeinwesens auszurichten. Insbesondere
der sogenannte Public- Choice-Ansatz, der die Grundannahmen der
Rational-Choice-Theorie von nutzenmaximierenden individuellen
Wahlhandlungen auf die Sphäre der Politik überträgt, behauptet, daß
Gemeinwohl als eine Art Kollektivgut nur durch das individuelle Abwägen
Einzelner entstehen kann oder gar nicht (vgl. Buchanan 1972; Cao-Garcia
1983; Coleman 1990; Castro Caldas 1999). Wer dennoch immer wieder eine
Einmischung des States in das gesellschaftliche Leben fordert, richte
nur Schaden an (vgl. Brennan 1993). äStaatsversagen? ist dann im
Normalfall die logische Konsequenz. Im Konzept des äminimalen Staates?
(Nozick 1974) wird deshalb eine radikale Begrenzung staatlichen Handelns
gefordert.
95 Zur Bedeutung derartiger Ausgleichsstrategien, wie sie z.T . in
Verbindung mit den Aktivitäten zur Lokalen Agenda 21 stattfinden, für
die Entwicklung der kommunalen Demokratie vgl. Poppenborg 1999. Eine
Bestandsaufnahme institutioneller Formen im Rahmen der Aktivitäten zur
Lokalen Agenda 21 in Deutschland wurde von Dippoldsmann vorgelegt (vgl.
Dippoldsmann 1999).
7 Operationalisierung der institutionell-politischen Dimension
172
Allerdings ist der Glaube an die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft
allein auf der Basis moralisch indifferenter und nur am eigenen Nutzen
ausgerichteter Individuen nicht weniger umstritten. Autoren wie Etzioni,
Taylor, Walzer, aber auch March & Olson sowie Mayntz & Scharpf werfen
der Public-Choice- Theorie eine Überschätzung der Realitätsnähe ihrer
aus der neoklassischen Ökonomie entliehenen Prämissen vor und verweisen
darauf, daß auch die Funktionsfähigkeit des Marktes angewiesen ist auf
die Existenz von Regeln, Sitten und Gewohnheiten, mit anderen Worten von
Institutionen.96 äDie Grundfigur des Public Choice-Ansatzes, das
?kontextfreie` nutzenkalkulierende Individuum (der ?rationale Idiot`)
verkennt, daß Individuen auch in modernen Gesellschaften in soziale und
kulturelle Lebenswelten eingebunden sind und sich zugleich an rationalen
Eigeninteressen sowie von in Gruppen, Organisationen und Gesellschaften
geteilten Werten, Ideen, Argumenten und institutionellen Gepflogenheiten
orientieren? (Messner 1995, S. 182).
Diese Debatte führt uns zurück an das am Anfang dieses Kapitels erwähnte
äHobbessche Problem sozialer Ordnung?. Wie ist unter Berücksichtigung
einer Vielfalt von Einzelwesen, die unabhängig in Zeit und Raum
existieren, überhaupt eine Synthese zur Einheit der Gesellschaft
möglich? (vgl. Simmel 1992). Bedarf die Gesellschaft spezieller
integrierender und steuernder Instanzen, damit gesellschaftliche Ordnung
überhaupt entsteht? Diese Frage wird seit jeher kontrovers zwischen
sogenannten kollektivistischen und utilitaristischen Ansätzen
diskutiert. Die kollektivistischen Ansätze zeichnen sich durch ein
Primat emergenter Ordnungsmuster gegenüber den indiviuellen Handlungen
aus, während utilitaristischen Ansätze den Schwerpunkt auf die
Handlungen richten, die zu überindividuellen Ordnungsstrukturen führen.
Beide Varianten besitzen ihren spezifischen äblinden Fleck?. Die
kollektivistischen Ansätze blenden die Frage der Legitimät von Ordnung
aus bzw. reduzieren sie auf eine funktionalistische Legitimität
(Ordnung, Stabilität, Entlastung). Die utilitaristischen Ansätze blenden
dagegen die Problematik der jenseits individueller Zwecksetzungen und
Einflusssphären liegenden Eigengesetzlichkeiten emergenter Strukturen
aus.97
96 Vgl. auch die Diskussion um den Kommunitarismus (vgl. Honneth 1992).
97 Sieht man genauer hin, wird die Einordnung des hier nur kurz skizzie
rten Streits sehr un- übersichtlich. So ist beispielsweise innerhalb der
Systemtheorie, zu deren Grundannahmen ja ganz eindeutig die Emergenz
sozialer Phänomene gehört, die Frage der Steuerungsnotwendigkeit
umstritten. I m Gegensatz zu Luhmann sieht Willke in der Autonomie der
gesellschaftlichen Teilsysteme eine Steuerungsnotwendigkeit (vgl. Wilke
1998, S. 29). Für Luhmann dagegen wird die Integration der Gesellschaft
durch strukturelle Kopplung zwischen den Teilsystemen hervorgebracht und
bedarf deshalb keiner besonderen integrierenden oder steuernden Instanz
(Luhmann 1997, S. 778f.).
7.4 Erläuterungen zu den Regeln 173
Um das unserem Demokratieverständnis zugrundeliegende
Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft angemessen zu
berücksichtigen, impliziert unsere Nachhaltigkeitsregel zum
Machtausgleich ? jenseits aller instrumentell-steuernden Absicht ?, daß
Meinungsbildungs-, Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse so
strukturiert sein müssen, daß eine breite Beteiligung und angemessene
Transparenz ermöglicht wird. Dort, wo dies aufgrund der Beschaffenheit
gesellschaftlicher Teilsysteme nicht gewährleistet ist, ist eine
gestaltende Intervention dazu legitimierter Organe, z.B. des Staates,
erforderlich. Grundsätzlich sind Institutionen so zu gestalten, daß für
alle Akteure ein prinzipiell offener Zugang zu allen Formen der
Information, Konsultation und Entscheidungsfindung ermöglicht wird. Eine
symmetrische Kommunikation zwischen den gesellschaftlichen Akteuren muß
angestrebt werden. Das schließt Fragen kultureller Diversität sowie den
Nord-Süd-Dialog ein.
Regel 6: Erwartungskonformität
Auch Erwartungskonformität ist eine Regel, die sich ? wie Machtausgleich
? auf das Spannungsverhältnis zwischen Institutionen und Individuen
bezieht. Hier geht es jedoch weniger um die aktive Einmischung der
Bürger in das politische Geschehen als mehr um die Sicherheit und den
Schutz vor Willkür. Streng genommen sind Institutionen per definitionem
erwartungskonform, weil in ihnen verfestigte Verhaltenserwartungen zum
Ausdruck kommen. Aber in ihrer organisatorischen Form sind sie
widersprüchlichen Erwartungshaltungen ausgesetzt. Zum einen sind die
organisationsinternen Glieder den Erwartungen ihrer eigenen
organisatorischen Hierarchie ausgesetzt, Entscheidungen so zu
kommunizieren, daß die von der Hierarchie gewünschten Ergebnisse
herauskommen. Zum anderen muß Erwartungen der Klientel entsprochen
werden. Institutionen mit bürokratisch-hierarchischen Strukturen können
es ihrer Klientel erleichtern, stabile Erwartungshaltungen aufzubauen,
wenn die Regeln, nach denen sie funktionieren, transparent sind.98 Beide
Seiten können sich dann aufeinander einstellen. Es muß für den Bürger
ersichtlich sein, wann er einen Anspruch auf Ausstellung eines
Reisepasses hat und wann nicht. Institutionen, in denen diese
Transparenz nicht gegeben ist, tragen dazu bei, parallel zu den formalen
institutionellen Strukturen informelle Netzwerke gegenseitiger Gun-
98 Davon unberührt bleibt natürlich das Problem der Inflexib ilität b
ürokratischer Strukturen.
7 Operationalisierung der institutionell-politischen Dimension
174
sterweisung enstehen zu lassen. Sie unterminieren letztendlich die Basis
ihrer eigenen Existenz.
Anhang
Anhang
Die Nachhaltigkeitsregeln der Enquete-Kommission des 13. Deutschen
Bundestags
äSchutz des Menschen und der Umwelt - Ziele und Rahmenbedingungen einer
nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung?99
Regeln für ökologische Nachhaltigkeit
1. Die Abbaurate erneuerbarer Ressourcen soll deren Regenerationsrate
nicht überschreiten. Dies entspricht der Forderung nach
Aufrechterhaltung der ökologischen Leistungsfähigkeit, d.h. (mindestens)
nach Erhalt des von den Funktionen her definierten ökologischen
Realkapitals
2. Nicht-erneuerbare Ressourcen sollen nur in dem Umfang genutzt werden,
in dem ein physisch und funktionell gleichwertiger Ersatz in Form
erneuerbarer Ressourcen oder höherer Produktivität der erneuerbaren
sowie der nicht-erneuerbaren Ressourcen geschaffen wird
3. Stoffeinträge in die Umwelt sollen sich an der Belastbarkeit der
Umweltmedien orientieren, wobei alle Funktionen zu berücksichtigen sind,
nicht zuletzt auch die ästille? und empfindlichere Regelungsfunktion
4. Das Zeitmaß anthropogener Einträge bzw. Eingriffe in die Umwelt muß
im ausgewogenen Verhältnis zum Zeitmaß der für das Reaktionsvermögen der
Umwelt relevanten natürlichen Prozesse stehen
5. Gefahren und unvertretbare Risiken für die menschliche Gesundheit
durch anthropogene Einwirkungen sind zu vermeiden
Regeln für soziale Nachhaltigkeit
1. Der soziale Rechtsstaat soll die Menschenwürde und die freie
Entfaltung der Persönlichkeit sowie die Entfaltungschancen für heutige
und zukünftige Generationen gewährleisten, um den sozialen Frieden zu
bewahren
99 Vgl. Enquete-Kommission 1998
Anhang
176
2a. Jedes Mitglied der Gesellschaft erhält Leistungen von der
solidarischen Gesellschaft:
- entsprechend geleisteter Beiträge für die sozialen Sicherungssysteme
- entsprechend Bedürftigkeit, wenn keine Ansprüche an die sozialen
Sicherungssysteme bestehen
2b. Jedes Mitglied der Gesellschaft muß entsprechend seiner
Leistungsfähigkeit einen solidarischen Beitrag für die Gesellschaft
leisten
3. Die sozialen Sicherungssysteme können nur in dem Umfang wachsen, wie
sie auf ein gestiegenes wirtschaftliches Leistungspotential zurückgehen
4. Das in der Gesellschaft insgesamt und in den einzelnen Gliederungen
vorhandene Leistungspotential soll für künftige Generationen zumindest
erhalten werden
Regeln für ökonomische Nachhaltigkeit
1. Das ökonomische System soll individuelle und gesellschaftliche
Bedürfnisse effizient befriedigen. Dafür ist die Wirtschaftsordnung so
zu gestalten, daß sie die persönliche Initiative fördert
(Eigenverantwortung) und das Eigeninteresse in den Dienst des
Allgemeinwohls stellt (Regelverantwortung), um das Wohlergehen der
derzeitigen und künftigen Bevölkerung zu sichern. Es soll so organisiert
werden, daß es auch gleichzeitig die übergeordneten Interessen wahrt.
2. Preise müssen dauerhaft die wesentliche Lenkungsfunktion auf Märkten
wahrnehmen. Sie sollen dazu weitestgehend die Knappheit der Ressourcen,
Senken, Produktionsfaktoren, Güter und Dienstleistungen wiedergeben.
3. Die Rahmenbedingungen des Wettbewerbs sind so zu gestalten, daß
funktionsfähige Märkte entstehen und erhalten bleiben, Innovationen
angeregt werden, daß langfristige Orientierung sich lohnt und der
gesellschaftliche Wandel, der zur Anpassung an zukünftige Erfordernisse
nötig ist, gefördert wird.
4. Die ökonomische Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft und ihr
Produktiv-, Sozial- und Humankapital müssen im Zeitablauf zumindest
erhalten werden. Sie sollten nicht bloß quantitativ vermehrt, sondern
vor allem auch qualitativ ständig verbessert werden.www.klimawandel.com
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